Christoph Martin Wielands Versdichtung „Der Vogelsang“ aus der Zeit der Spätaufklärung liegt nun in einer spannenden Rezitation mit moderner Tonuntermalung von Steffen Wolf vor. Wer etwas Schönes hat, verdient es zu haben, nur dann, wenn er auch versteht, es zu gebrauchen – heißt: durch Genuss zu würdigen.
Das Motiv des Singvogels
„Was bist denn du für ein Vogel?“, fragt Prinz Tamino in Mozarts „Zauberflöte“ verdutzt, als er – gerade erst von den drei Damen vor der listigen Schlange gerettet – auf eine ihm fremdartig erscheinende Gestalt, den fröhlich trällernden Vogelfänger Papageno trifft. Und so ist so mancher unverstandene Künstler als exzentrischer Vogel eingestuft worden, obwohl wir ja spätestens seit La Fontaines Fabeln wissen, dass Vögel nicht einfach brotlose Künstler, sondern Träger schöngeistigen Kulturguts sind.
Auch Christoph Martin Wielands Versdichtung „Der Vogelsang oder Die drey Lehren“ (1778) erzählt von einem wundersamen, betörend schön singenden Vogel, der im paradiesischen Garten des reichen Hans die Natur in vollem Glanz erblühen lässt. Doch leider sind Kunstverständnis und die Empfänglichkeit bei seinem feisten Besitzer nicht entwickelt („Doch dass er was empfunden hätte, / Das war nun seine Sache nicht“).
Und so endet die fabelartige Versdichtung mit dem Verschwinden des großen Künstlers und dem Verkümmern der idyllischen Gartenlandschaft, welche seinem Besitzer auch nur unverdient zugefallen war. Die Moral: Wem der feine Sinn für die Schönheit der Kunst fehlt, dem helfen auch Reichtum, Glück und Wohlstand nicht – sein Dasein muss verkümmern. So weit, so gut.
Aufklärung und Moderne
Prinz Tamino mit der Zauberflöte, nach Mozarts gleichnamiger Oper
Der Musiker und Gesangspädagoge Steffen Wolf (*1970) hat nun zu Wielands feinsinnig gewobener Versdichtung eine Rezitationsmusik für einen Sprecher (hier: kein geringerer als der bedeutende Wieland-Forscher Jan Philipp Reemtsma) und Streichquartett (Kizuna-Quartett) komponiert. Die Aufnahme ist als CD bei Tyxart erschienen und lässt aufhorchen, wenn aufklärerische Literatur und zeitgenössische Tonsprache eine spannende Verbindung eingehen.
Gelungenes Konzept von Wort und Tonsprache
Dichter, Übersetzer, Herausgeber, Aufklärer: Christoph Martin Wieland (1733-1813)
Wielands poetische Naturschilderung, seine Ironie, sein Wortwitz und das Streitgespräch zwischen dem tumben Hans und dem subversiven Zaubervogel werden von den Instrumenten umrahmt und untermalt. Zunächst stellt Wolf dem Erzähltext eine vielschichtige Art Ouvertüre voran, in dem der Konflikt zwischen dem reichen Hans und dem Vogel-Belcanto anklingt. In der vieldeutig und verheißungsvoll klingenden, etwa fünfminütigen Einleitung verschmelzen die gegensätzlichen Positionen zu einem überzeitlichen Dilemma, das der Komposition Aktualität verleiht.
Spannende Korrespondenz
In der Folge entwickelt sich ein geschickter, spannungsvoller Dialog von Wort und Ton. Wolf widersteht dabei der Versuchung, den Vogel Liedhaftes darbieten zu lassen, sondern bleibt bei seiner, sich dem Text unterordnenden, offenen, modernen Tonsprache treu. Tänzerisch leicht, dramatisch dumpf – mal passen sich die Töne dem Sprechrhythmus des Rezitators an, mal verstärken sie die Affekte oder wirken tonmalerisch, indem sie die Vorstellungskraft des Lesers unterstützen.
Das Kizuna-Quartett musiziert füllig-klangpräsent und doch präzis, kontrastiert den Sprecher mit auftrumpfenden Einwürfen oder untermalt lyrisch und sehr empathisch. Wort und Klang korrespondieren dabei spannend. Wolfs Tonsprache ist zwar „modern“, harmonisch aber nicht extrem dissonant, sondern nachvollziehbar das literarische Geschehen unmittelbar „erklärend“.
Generalprobe zu „Der Vogelsang“ (Wieland) mit Komponist Steffen Wolf (stehend), Sprecher Jan Philipp Reemtsma (links) und dem Kizuna-Streichquartett in der Elbphilharmonie Hamburg (Foto: Julia Hauck)
Ein gelungenes Konzept! So wird dann auch ein vergessener Text wieder lebendig und als Plädoyer für ästhetische Bildung selbst zu einem höchst exquisiten Kunstgenuss.
Bleibt zu wünschen, dass sich das romantischer Tradition verpflichtete Modell in Zukunft auch auf andere literarische, in Vergessenheit geratene Werke übertragen lässt. ♦
Steffen Wolf: Der Vogelsang – Rezitationsmusik für Sprecher und Streichquartett zu Christoph Martin Wielands Versdichtung „Der Vogelsang oder Die drey Lehren“, Jan Philipp Reemtsma, Kizuna-Streichquartett, TyXart Label, 47 Minuten
In ihrem Hörbuch „Werke von Rainer Maria Rilke und Erik Satie“ laden Marit Beyer (Sprecherin) und Olivia Trummer (Klavier) zu einem literarisch-musikalischen Spaziergang durch das Paris der Jahrhundertwende ein. Zu Rilkes Gedichten und Auszügen aus dem 1908 vollendeten Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ erklingen Saties „Gnossiennes“ und „Gymnopédies“.
Wer hat nicht – zu Corona-Zeiten oder auch an einem trist-trüben Novembertag – mit einem Spaziergang durch das wie keine andere Stadt zum Promenieren einladende Paris geliebäugelt? Prächtige Bauten, belebte Boulevards, reges gesellschaftliches Treiben und buntes Amusement in großzügig angelegten Parkanlagen mit verführerisch posierenden Statuen und Skulpturen. Mit der neuen CD im Diwan-Hörbuchverlag flanieren wir Seite an Seite mit Rilke, respektive dessen lyrischem Ich oder Alter Ego Malte Laurids Brigge durch die so vielfältige Impressionen bietende französische Metropole der Jahrhundertwende.
Vom Äußeren zum Inneren
Herbsttag in den Tuilerien von Paris
Es beginnt an einem sonnigen Herbsttag in den Tuilerien, der uns über zunächst über Gesichter der Menschen philosophierend zur Angst führt, die den Dichter beim Anblick einer Frau in der Rue Note-Dame-des Champs, die ihr Gesicht in den Händen verbirgt, überkommt. Auch einen an Krücken gehenden Menschen fasst des Lyrikers feine Beobachtungsgabe ins Auge, die – ausgehend von einer präzisen Wahrnehmung des Äußeren – das Innere enthüllt.
Wir streifen an den Buchhändlern an der Seine (Bouquinistes) vorbei und betrachten verzückt Rilkes „Karussell“ im Jardin du Luxembourg, das selige Lächeln der Kinder im atemlos-blinden Spiel. Im Jardin des Plantes begegnen wir Rilkes berühmten „Panter“, der uns des Dichters inneren Käfig enthüllt, und den ins Imaginäre und Erotische verweisenden „Flamingos“.
Höhepunkt unserer Promenade ist jedoch der Besuch in der Bibliothèque Nationale. In der wohltuenden Umgebung von 300 in ihre Lektüre vertieften Lesern spricht Malte Laurids, der die Komödie des Ausländers mit bereits leicht verschlissenem Anzug, aber reinem Kragen bewusst spielt. Sein Gewissen ist das eines Heimatlosen, dem die ihn hartnäckig verfolgenden, zwielichtigen Passanten, die sich ihm verbunden fühlen, unheimlich sind. Hier verrät er uns – nach dem Eintritt in die literarische Welt hinter der Glastür – seinen heimlichen Traum vom Dichter, der im Giebelzimmer eines stillen Hauses im Gebirge ein glückliches Schicksal im Lehnstuhl pflegt. Dieser wisse und schreibe von Mädchen, die vor 100 Jahren gelebt hätten, in ein gelbliches, elfenbeinfarbenes Buch. Ihm dagegen regnet es – (ob)dachlos – in die Augen, denn er ist – das wird offenbar – selbst eine der vielen Großstadtrandgestalten. Der Kreis schließt sich.
Grandiose Miniaturen der Introspektive: Gymnopédie Nr. 1 für Klavier von Erik Satie (Anfang)
Symbiose von Wort und Musik
Der mittelalterliche Turm „Muzot“ im schweizerischen Veyras, wo Rilke von 1921 bis 1926 lebte
Marit Beyer rezitiert die Texte des großen Sprachschöpfers und Mitbegründers der Moderne, der zwischen 1902 und 1925 immer wieder nach Paris gereist war, mit innerer Betroffenheit, flüsternder Spannung und beseelter Intensität. Ihr Stimme ist klar und artikuliert, ihr Vortrag von kühler Leidenschaft, die aber auch, wenn sich die Stimme senkt, die Zeit stille stehen lässt. Dann setzen Erik Saties berühmte „Gnossiennes“ und „Gymnopédies“ ein – grandiose Miniaturen der Introspektive, von Olivia Trummer mit dezenter Eindringlichkeit, niemals in den Vordergrund tretend, gespielt. Es ist kaum verblüffend, wie sie sich atmosphärisch nahtlos in die nachdenklich-melancholische Stimmung der „immensen Wirklichkeit“ von Paris einfügen und den Blick von der äußeren Beschreibung nach innen lenken.
Fazit: Ein sehr gelungenes Hörbuch eines literarisch-musikalischen Spaziergangs durch die Stadt der Kunst und der Liebe. Musik und Texte sind wunderbar aufeinander abgestimmt und spiegeln das „fluctuat nec mergitur“ einer Großstadt und ihrer einsamen Seelen stimmig wider. ♦
Cees Nooteboom (*1933) ist einer der großen niederländischen Dichter, und unter diesen in Deutschland sicherlich der bekannteste. Für „Abschied“, ein „Gedicht aus der Zeit des Virus“, das man wohl guten Gewissens als seinen Schwanengesang betrachten darf, hat er sich der eher seltenen Form des Langgedichts bedient.
In der noblen Bibliothek Suhrkamp als zweisprachige Ausgabe Niederländisch–Deutsch erschienen, gibt es an den Äußerlichkeiten des „Abschieds“ von Cees Nooteboom erwartungsgemäß nichts zu kritisieren. Der dunkelviolette Einband ist von einem schlichten Schutzumschlag in Weiß mit einem schmalen violetten Streifen umgeben; große Experimente wird der Leser hier nicht erwarten. Ein Lesebändchen ist vorhanden, gleichfalls violett. Oder, um es in den Worten des Gedichtes zu sagen, „dazu die passende Farbe: / das Lila von Tod und Geburt.“
Auf jeder Doppelseite findet sich, ganz wie sich das gehört, links der Originaltext, rechts die deutsche Übersetzung. Jeder Abschnitt bekommt seine eigene Doppelseite. Ein kurzes Nachwort des Autors hilft ein bisschen beim inhaltlichen Verständnis des nicht ganz einfachen Textes. Vier Zeichnungen von Max Neumann runden das Buch ab.
Das Gedicht selbst, untertitelt mit „Gedicht aus der Zeit des Virus“, folgt einer strengen Gliederung: Drei Kapitel zu je elf nummerierten Abschnitten zu je 13 Versen, in drei Strophen plus einen Nachsatz getrennt. Die Stropheneinteilung erscheint rein formal, Strophenenjambements sind die Regel; als Sinneinheit dient ausschließlich der Abschnitt, der in vielen Fällen aus einem einzigen Satz besteht.
Wesentlich anstrengender ist es, den teils sehr dunklen Inhalt zu erhellen. Da eine Rezension glücklicherweise keine umfassende Interpretation zu liefern braucht, kann ich mich hier auf einzelne Stellen beschränken.
„Dies fragte sich der Mann im Wintergarten, / das Ende vom Ende, was könnte das sein? / Etwas ganz ohne Kummer (…)“ beginnt der Text. Der Mann sieht im ersten Abschnitt u.a. einen „entblätterten Feigenbaum“, „die tausendjährigen Steine der Mauer“, „wie die Nacht korrigiert werden sollte“, „die Grammatik der Enteignung“, „Rückzug nach der Niederlage“, „doch keine Bestimmung“.
Nebeinander von Metaphern und Wertungen
Cees Nooteboom (Geb. 1933 in Den Haag)
Dieses auffällige gleichrangige Nebeneinander von Bildern, Metaphern und Wertungen zieht sich durch das ganze große Gedicht von Cees Nooteboom. So erinnert sich der Mann im zweiten Abschnitt an den Krieg, an „Soldaten beim Abzug, bang, dreckig“ statt wie zuvor „mit neuer Zukunft versehen, mit Opfern“, „die Rückseite des Spiegels“, „die Falle der Not“.
Er erinnert sich an die Kindheit, die Eltern, das Meer, an Freunde, an Mädchen, an Reisen, aber die Wehmut muss jedes Mal wieder sehr zeitnah Platz machen für Angst oder Trauer, „einsame / Augen ohne Stirne gehen um, Gliedmaßen / ohne Anhang, Spukgestalten, Phantasmen / gesponnen aus bösen Geschichten“.
Der Mann wird zum Gärtner, der die Blumen bewundert, „grün und hartnäckig / ohne Furcht vor dem Ende“, aber dennoch sieht er als erstes „tote Blätter, der Boden nass und schwarz“.
„Wie viele Rätsel kannst Du ertragen?“ Gelegentlich zweifelt man als Leser, ob solche Sätze noch diegetisch sind, oder ob der Autor ironisches Mitleid äußern möchte, wenn wir dem ständigen Wechsel von Ort, Zeit, Personen und Gegenständen, immer nur angedeutet, kaum folgen können.
Im zweiten Kapitel nehmen die Unklarheiten, die Andeutungen, die negativen Wertungen immer mehr zu: „Ein verkehrtes Paradies voll / Ungeheuern, die uns gleichen, ein / abgenagtes Gesicht mit einem / Strauch auf dem Rücken“, „es sind Menschen, glaub’s oder nicht, Kloake der Evolution“, „das erfundene / Genie, das seine Kotze verkauft / und die Seele dazu“. Glücklich mag man die Erinnerungen des alten Mannes eher nicht nennen.
Ruhiger wird es dann wieder im dritten Kapitel. Philosophische Überlegungen („Was für ein Geräusch macht die Erde / im Hause des Kosmos“), Erinnerungen an Freunde („Freunde, Brüder, Geliebte, / und immer nahmen sie Abschied, bogen ab nach links / oder rechts, verschwanden wie Schatten“), sie führen erbarmungslos auf das Ende hin: „Dort richtet sich jemand auf, eine / letzte Gestalt, die sich entfernt, / ich schaue ihr nach, der einzigen / meines Lebens“.
Bis das lyrische Ich, das wohl nicht allzu weit vom Autor entfernt sein dürfte, zum Schluss erkennt: „Hier muss es sein, / hier nehme ich Abschied von mir selbst / und werde dann langsam / niemand.“
Man muss an der wortreichen, bildhaften, zwischen Pathos und Bathos changierenden Sprache nicht unbedingt Gefallen finden. Ohne Zweifel jedenfalls beherrscht Nooteboom Form und Stil meisterlich und zwingt den Leser zum Nachdenken über den Menschen, seine Fehler und die conditio humana. Absolut lesenswert. ♦
Helmut Krausser, Jahrgang 1964, ist Schriftsteller, Komponist und Schachspieler. Nach mehreren Romanen hat er nun wieder einen Gedichte-Band veröffentlicht mit dem Titel „Glutnester“.
Die Umschlaggestaltung der „Glutnester“ ist etwas melancholisch ausgefallen, aber gelungen. Noch zum Äußerlichen: Die Verlagswerbung auf den letzten Seiten finde ich persönlich bei einem Lyrikband etwas unangebracht, aber Verlag und Künstler wollen ja auch leben – dazu unten mehr.
Auf den über 100 Seiten finden sich etwa 90 Gedichte. Stilistisch geht es querbeet, mal mit Reim, mal ohne, mal mit regelmäßigem Metrum, mal ohne, mal mit Stropheneinteilung, mal – Sie ahnen es – ohne. Ein paar experimentelle Texte sind dabei, ein paar Sonette.
Querbeet durch die Stile und Zeiten
Inhaltlich setzt sich auf den ersten Blick diese Beliebigkeit fort. Da gibt es Albernes wie: „Anfanghund / (…) Freundin sagt: Mach mehr Hund. / (…) Die Leute hassen Gedichte, doch sie / lieben Hunde, das hebt sich auf, / (…) Endehund.“
Oder Satirisches: „O wie sie Ravioli macht, / (…) Grün-rot-gelb leuchtet ihr / Werk, und wie verdorben / müsste man sein, sich / diese exorbitante Kreation einzuverleiben (…) Ich fotografiere ihre / Ravioli, stelle sie auf / Facebook und Instagram / zur Schau (…)“.
Auch Banales wie: „Mir fällt partout auf Reim kein / so zwingend geiler Reim ein (…)“
Oder Niveauloses wie: „Dörte mi fa so lala, / schwörte mir Amore ma. / (…) Wann krichste wieda Lust, frag ichse, / weil ich seit April schon (…)“.
Dazwischen finden sich jedoch die Texte, in denen Krausser glänzen kann: „Unten macht der Plebs publik, / wieviel er heut gesoffen hat. / Oben schreib ich die Musik / der Zukunft auf ein Notenblatt. (…)“ ist eine hübsche Übertragung von Schillers „Bittschrift“.
Im titelgebenden „Glutnester suchen“ bezieht sich Krausser – sicher nicht zufällig – auf (Karl) Kraus, in Begrifflichkeit, Stil und Ironie: „(…) bis / ich Feuer fange, brenne, / wieder Fackel bin und / zündeln kann.“
Von Adorno bis Krausser
Überhaupt, diese vielen Anspielungen des Intellektuellen Krausser. Schostakowitsch bewundert er, über Adorno und die Beatles macht er sich lustig. Auf den „Faust“ weist er hin, oder auf William Carlos Williams berühmtes „This is just to say“, auf die „Loreley“, das „Nibelungenlied“, Dantes „Inferno“, auf „Jesaja“, auf Artaud, auf Clint Eastwood und natürlich immer wieder auf Krausser.
Krausser schreibt Gedichte im Stil des Expressionismus, des Symbolismus, der Minnelyrik – und schafft es in allen Fällen konsequent, das Zitierte zu subvertieren.
Bleibt (als letzte große Gruppe von Gedichten) noch Kraussers Beschäftigung mit dem Künstler-Dasein. In „Glückliche Künstler“ streiten die frisch bezahlten Titelhelden darum, wer die Rechnung im Restaurant übernehmen darf: „(…) der Kellner bringt / Pizza“.
In „Vor etwa 6’000 Jahren“ erzählt uns der Dichter von seinen Anfängen:
Er „(…) brachte / die Leute zum Lachen und / Weinen und bat am Ende um / ein wenig zu essen (…)“, während eine junge Literatin ihm erklärt:
„(…) sie schreibe für sich selbst / (…) Spannungslinien finde sie / ermüdend (…)“. Mit wenig Begeisterung stellt er dabei fest:
Sie „(…) lebt von Preisen und / Stipendien und lacht über / mich Knecht, der ich jeden Tag schufte (…)“.
Und in diesem Sinne passt das wilde Durcheinander dann doch wieder zusammen. Krausser bringt viel, um manchem etwas zu bringen. Er stellt den anspruchsvollen Leser mit Artaud zufrieden; den schnapsvollen mit derben Späßchen; die Freundin mit Hunden; und den Verleger mit Füllmaterial.
Wir sind also gut unterhalten, und der arme Poet kann seinen Magen füllen.♦
Helmut Krausser: Glutnester – Gedichte, 112 Seiten, Piper/Berlin Verlag, ISBN 978-3827013941
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Neue Lyrik auch über Ines Oppitz: Hoffnung (Drei Gedichte)
Geb. 1950 in Schiltach/D, Studium der Chemie und Mathematik, anschließend jahrelang als Pädagoge tätig, zahlreiche Lyrik-Veröffentlichungen in Büchern, Zeitschriften und Online-Portalen, verschiedene Bilder- und Objekt-Ausstellungen, lebt als Autor und Künstler in Hausach/D
Möwen über dem Wasser, das Blau,
Störche stolzieren, suchen im Gras
gegenüber Dünen weiß wie Schnee,
ein Leuchtturm, Bäume säumen ihn,
die Nehrung vermischt sich mit Wasser,
so blau, die Bäume, das Haff weit
grenzenlos die Ruhe, unendlich fast,
wo die Windenburg einst stand
Ventés Raga, Melodien, Vogelstimmen,
im Nemunasdelta murmelt das Wasser,
so Blau, so Blau, so Blau, die Möwe schwebt,
weiter, zum Oblast Kaliningrad,
nicht weit, nicht nah, die Dünen wandern,
die Bäume schweigen, Wasser murmelt,
ein Storch schwingt sich in die Luft,
weiß und schwarz und rot im Blau
über die Nehrung hin zur Ostsee.
Martin Kirchhoff
Geb. 1954 in Leonberg/D, zahlreiche Lyrik- und Prosapublikationen in Büchern, Zeitschriften und Anthologien, verschiedene Literaturpreise, im Vorstand der Künstlergilde Esslingen, lebt in Weil/Stadt
Einfall gleich Ausfall die Bande über den Spiegel genommen im Kristall ein ungebügeltes Hemd Buchrücken gestapelte Wünsche hinter einem schiefen Regal eine verbotene Tür
wir äugen.
FORT
achtend ich
was reifen darf
in zyklischen Kaskaden
fordert Treibgut Strände ein
um die Ausgeglichenheit zu wahren
mehrt vielleicht mein Zorn
sich still zur Fläche hin
die Springflut der
Erinnerung.
Geb. 1992, Studium an der Hochschule für Musik Karlsruhe, langjähriges Mitglied im Bundes-Jugendorchester, seit 2016 Lyrik-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, 2020 Abschluss des Medizin-Studiums, lebt als Arzt in Freiburg/Breisgau (BRD)
wellen / ein ton wächst ins haar / gesang aus unruhiger tiefe / luft dröhnt / klippen ragen/ möwen schrei / schäumende gischt / schaudern überläuft die felsen / treibholz und fleisch / totengesang
mit möwenstaccato an a.
hörst du es? übertönt das rauschen. die schattenhand in den dünen. sand rieselt singt.
meine schulter gelehnt an den zaun. der morgen wirft seinen hut in die luft. grüßt.
Geb. 1948 in Wuppertal/D, Erzieherin, Musikalienhändlerin, Lyrik-Veröffentlichungen in Anthologien, Online-Magazinen und Literaturzeitschriften, von 2010 bis 2018 Literaturprojekte mit der Gruppe „HandvollReim“, seit 2003 Lesungen/Themenlesungen, lebt in in der Nähe von Stuttgart
Das japanische Kurzgedicht Tanka ist eine über 1’300 Jahre alte, reimlose Lyrik-Form mit 31 gewichteten Silben (Moren) im Rhythmus 5-7-5 (Oberstollen) und 7-7 (Unterstollen).
Unser Herbst-Gedicht des Tages „Wenn das Herbstlaub fällt“ stammt von dem japanischen Lyriker Minamoto Yorizane. Er war ein Dichter der Haian-Zeit und lebte von 1015 bis 1044. ♦
Lili Reinhart, US-amerikanische Schauspielerin und Aktivistin, hat Ende September ’20 ihr erstes Buch „Swimming Lessons“ veröffentlicht. Keine zwei Wochen später hat Fischer bereits eine zweisprachige Ausgabe (dt. Titel: „freischwimmen“) herausgegeben. Dass diese Entscheidung mehr auf der Bekanntheit der Autorin beruht als auf der Qualität des Werks, liegt nahe. Aber versuchen wir, vorurteilsfrei heranzugehen.
Was als erstes auffällt: Das gebundene Buch ist ziemlich dick, eher wie ein Roman als ein Gedichtband. Kein Schutzumschlag. Auch kein Lesebändchen. Zielgruppe ist vielleicht nicht der klassische Lyrikleser.
Die Einsparungen gehen im Inneren weiter: Es gibt keine Seitenzahlen (ungefähr 270 Seiten dürften es nach meiner Zählung sein, darunter einige leere und einige nur mit Illustrationen), kein Inhaltsverzeichnis. Das Fehlen der Seitenzahlen ist besonders deshalb störend, weil nur eine Handvoll Texte so etwas wie einen Titel hat. Die Kurzbiographie macht die Autorin gleich einmal um sechs Jahre älter.
Der eigentliche Inhalt besteht aus gut hundert „Gedichten“ – auf die Anführungszeichen werde ich noch zurückkommen – im Umfang zwischen zwei Zeilen und sechs Seiten. Die Übersetzung findet sich jeweils im Anschluss an den Originaltext, für den Leser deutlich unpraktischer als eine links/rechts-Aufteilung. Auch mit bloßen Schulkenntnissen sollte man allerdings keine größeren Schwierigkeiten mit dem englischen Text haben.
Liebe und Liebeskummer
Lili Reinhart (geb. 1996)
Der weitaus größte Teil der Gedichte dreht sich um Liebe und Liebeskummer. Dazwischen finden sich einzelne Texte, in denen Lili Reinhart sich mit ihren Dämonen auseinandersetzt; dies sind auch die einzigen, die ernsthaft lesenswert sind. So erklärt sie etwa: „This is how I explain it to someone / who can’t fully understand. (…) This is you, every day. (…) Elated. High. Full of energy (…) Of course I am able to feel these things. It’s / harder to achieve, but I can get there. // It’s just that I’ll have / a greater fall back down to reality. (…)” Eine der konzisesten Beschreibungen einer leichten Depression, die ich je gelesen habe.
Ein bisschen dunkler wird es mit: „I tried explaining to my mother why / I was crying this morning. // It’s always different, / the reason or the circumstance. (…) Sometimes it just feels like sadness, / like a dark shadow / mirroring my every move. (…) I want to be alone, unbothered // And then I feel guilty / for being cold (…) Innocent volunteers that I’m / shutting down. (…)“
Ohne inhaltlichen Anspruch
Leider gibt es nur wenige dieser relevanten Texte. Der ganz überwiegende Teil klingt wie: „Of all the elements, // I’ll say that I’m snow, // melting on impact // from your warmth”
oder: „It is a privilege to know you / in such a way that no one else does. // To be the someone who sees / your intimate self so completely”
Es sind Texte, wie sie jeder zweite Teenager in sein Tagebuch kritzelt, ohne besonderen inhaltlichen oder sprachlichen Anspruch.
Zurück zu den Anführungszeichen. Ungeachtet formaler Definitionen wirken die Texte nicht wie Gedichte. Ja, es gibt Verse, es gibt Strophen – wobei ein sehr großer Teil der Strophen nur aus einem einzigen Vers besteht –, es gibt ein Ich. Doch das Ich hört sich an wie der Sprecher eines Textes; die Aufteilung in Verse und Strophen scheint kaum inhaltliche oder klangliche Bedeutung zu haben, sondern nur kürzere oder längere Sprechpausen zu markieren.
Das Buch ist kein Gedichtband. Es ist eine Zitatsammlung. Reinharts Zitate aus der Rolle ihres Lebens, einer fiktiven Telenovela, in der die Hauptdarstellerin sich immer wieder unsterblich verlieben darf, immer wieder enttäuscht wird, ihrem Schatz Liebeserklärungen macht, ihn mit einer anderen sieht, ihn anschreit, verflucht, mit einer Freundin banale Diskussionen über den Sinn des Lebens führt, und ab und zu einmal einen großartigen Monolog halten darf.
Und erstaunlicherweise: Wenn man das Buch so liest, dann wird es plötzlich stimmig. Dann vermisst man keine Gedichttitel mehr, keine Seitenzahlen. Dann sind Pathos und Banalität keine lästigen Begleiter mehr, sondern notwendige Voraussetzungen für ein Gelingen. Und die guten Texte werden zu den Sternstunden der Serie und von den Fans hundertfach auf Pinterest gepostet.
Der durchschnittliche Lyrikleser wird dieses Buch nicht unbedingt benötigen. Als Weihnachtsgeschenk für einen Teenager, dem er das Konzept von Lyrik näherbringen möchte, scheint es mir aber bestens geeignet.
Lili Reinhart: Swimming Lessons / freischwimmen, zweisprachige Ausgabe englisch/deutsch, übersetzt von Anna Julia Strüh, 272 Seiten, FISCHER New Media, ISBN 978-3-7335-0615-5
Lina Fritschi (1919–2016) war eine der grossen italienischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Nördlich der Alpen blieb sie trotz ihrer Schweizer Abstammung praktisch unbeachtet. Dies dürfte sich mit dem vorliegenden zweisprachigen Band „Ein anderer Traum / Un altro sogno“ ändern.
66 Gedichte hat der Übersetzer Christoph Ferber aus Lina Fritschis umfangreichem Werk ausgewählt, die Mehrzahl davon aus ihrem Schwanengesang „Poesie estreme“, im Jahr 2000 erschienen. Jede Doppelseite enthält konsequent links den italienischen Originaltext, rechts die deutsche Übersetzung. An der gesamten Gestaltung gibt es nichts zu bemängeln.
Der entgleitende Hintergrund
Das grosse Thema der Sammlung ist der Umgang mit Verlust, insbesondere dem frühen Tod ihres Ehemannes. Im Traum begegnet sie ihm immer wieder, ob in „Auch nach dem Tod“:
Auch nach dem Tod, hab ich gefragt. Auch nach dem Tod, hat er geantwortet – und gelächelt
… im titelgebenden „Ein anderer Traum“:
Immer verschwinden sie alle (…) Wenn ich mich an seine Schulter lehne und frage, wo denn die anderen seien, antwortet er, ich weiss nicht, das war ein anderer Traum.
… oder in den Betrachtungen zum Tavoliere:
Immer, jedes Jahr zu Weihnachten, kehrt diese Reise zurück. Und wir drei, der Zeit und dem Tod enthoben, spielen unsere Rolle vor dem uns entgleitenden Hintergrund.
Lina Fritschi schafft es, sich und den Leser davon zu überzeugen, dass sie in diesen Momenten glücklich ist.
Doch nicht jede Erinnerung endet so gut:
Doch war es Sommer? Ich weiss es nicht mehr, denn sogleich ist wie ein Falke der Winter auf mich gestürzt und hat unter Eis mich begraben
… heisst es in „Winter“. Und erst die Evidenz des Sarges lässt Fritschi den Tod ihres Gatten überhaupt zur Kenntnis nehmen:
Ich konnte dem Telegramm nicht glauben, ein Irrtum, sagte ich zum Soldaten, (…) tut mir leid, gnädige Frau, die Beerdigung findet in Lecce statt.
Auch der Vater stirbt in einem Gedicht, eine Freundin, eine Katze, der Sommer. Und als früheste Kindheitserinnerung ein junger Onkel, umrahmt – die vielleicht einzige humoristische Szene der Sammlung – von seinen beiden Verlobten.
Selbstreflexive Poesie
Ihren eigenen Tod spürt Lina Fritschi in zahlreichen Gedichten näherkommen, so etwa in Abschied:
Ich verabschiede mich von den Versen, vielleicht auch vom Leben.
… oder in „Naher Tod“:
Man sagt, im Alter, wenn der Wunsch nach Liebe zurückkehre, sei dies ein Zeichen des nahen Todes.
Teilweise wünscht sie den Tod auch herbei (in „Gebet“):
Wüsste ich nur zu welchem Gott beten, dass die Zeit, die mir bleibt, eiligst vergehe.
Als Grund dafür findet sich immer wieder ihre Blindheit, die ihr offensichtlich schwer zu schaffen gemacht hat. Diese war auch die Ursache dafür, dass sie ihre geliebte Heimat im Piemont verlassen musste, um sich in der Toskana von der Tochter versorgen zu lassen. Auch wenn das für uns deutsche Touristen nicht so weit klingt, liegt es immerhin 400 km auseinander.
Ein etwas zwiespältiges Verhältnis hat Fritschi zur Dichtkunst. Mal bezeichnet sie (in „Überlebt“) die Poesie als
Hexe, Gefährtin und Feindin. Auch jetzt noch bedrängst du mich, jetzt, wo ich alt bin.
… mal erklärt sie:
Ich habe keine Angst vor dem Wort, ich liebe es, manipuliere es, wälze es um.
… und lässt sich vorsorglich vom Pfarrer bescheinigen, dass dies gottgewollt sei („Noch ein Dialog“).
Lyrik-Sprache nahe an der Prosa
Die Sprache ist klar, direkt, konzise, oft lakonisch, oft nahe an der Prosa. Auffällig ist die Häufung von relativierenden Begriffen wie „forse“ („vielleicht“) und „a volte“ („manchmal“). Es gibt keine Reime, kein durchgehendes Metrum, noch nicht einmal Strophen. Die Vers-Aufteilung ist nur vereinzelt sinngebend. Es sind das durchwegs klar hervortretende lyrische Ich und seine reflektierende Beschäftigung mit seiner eigenen Stellung in der Welt, die die Texte fraglos zu Gedichten machen.
Die Übersetzung ist, soweit ich das mit meinen bescheidenen Italienisch-Kenntnissen beurteilen kann, gelungen. Natürlich ist Übersetzung immer auch Auslegung, aber nur an ganz wenigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass der Sinn des Originals – nach meinem natürlich ebenso subjektiven Verständnis – verfehlt wurde, etwa wenn in Der Engel „L’avvertimento è una spada nel cuore“ mit „Die Warnung ist: im Herzen ein Schwert“ wiedergegeben wird anstatt mit „Die Warnung ist ein Schwert im Herzen“. Doch das Schöne an zweisprachigen Ausgaben ist, dass man sich auch dazu eine eigene Meinung bilden kann.
Anregungen für den Umgang mit Krankheit und Einsamkeit
Grösster Schwachpunkt des Buches ist das Nachwort, das sich ein bisschen wie der überlange Entwurf für einen Klappentext liest, die dürftigen biographischen und bibliographischen Angaben, die man im deutschsprachigen Internet findet, wenig liebevoll mit nochmaligem Abdruck einiger Gedichte aus dem Buch auf ein paar Seiten ausgedehnt. Aber natürlich, das darf man so deutlich sagen, ist das ein echtes Luxusproblem.
Wer Anregungen benötigt, wie man mit Verlust, Trauer, Krankheit, Einsamkeit oder Tod umgehen kann – und wer benötigt die nicht? –, wird in diesem Gedichtband von Lina Fritschi fündig. Definitive Kaufempfehlung. ♦
Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno – Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, 152 Seiten, Limmat-Verlag, ISBN 978-3-85791-896-4