Inhaltsverzeichnis
Blumen zwischen Steinen
von Bernd Giehl
In einem Brief zum 25. Jahrbuch der Lyrik fragt Mitherausgeber Harald Hartung den “Jahrbuch”-Gründer Christoph Buchwald, was denn nun rechtfertige, dass dieses oder jenes Gedicht ins “Jahrbuch” aufgenommen werde. Und er antwortet selbst: “Ich weiß immer weniger, was das Gedicht ist. Ich wiederhole nur eine alte Frage.” Vor einer ähnlichen Frage steht jede/r Rezensierende – so auch ich bei der Lektüre des Lyrik-Debüts “ich föhne mir meine wimpern” von Sirka Elspaß.
Was rechtfertigt es also, dass Leser/innen ihre Zeit mit den Gedichten eines bestimmten Autors verbringen? Und welchen Gewinn ziehen sie daraus?
Nicht dass Sirka Elspaß besonders rätselhafte Bilder fände wie z. B. Paul Celan, um nur einen Klassiker zu nennen. (Gerade bei Celan braucht man öfters einen Kommentar, um seine Bilder zu verstehen). Sirka Elspaß wählt vielmehr meist realistische Szenarien. In einem Gedicht zitiert sie Räumfahrzeuge, die in aller Frühe durch die Stadt fahren, Krach machen, wieder verschwinden – und dann fügt sie hinzu: “ich habe vergessen / dass ich die ablage / abarbeiten wollte / das machen jetzt die räumfahrzeuge.”
Ein Schneepflug oder Kehrwagen, der die Ablage per Fernwirkung aufräumt: das bringt einen zum Lächeln. Schon das erste Gedicht des 80-seitigen Bandes bewirkt Schmunzeln: Bei der Geburt (vermutlich ist die Autorin selbst gemeint) sagt der Arzt, sie sei zu Großem fähig – zum Beispiel, Hunger zu haben. Wozu das Baby “Danke” sagt und sich aufmacht zum nächsten Dönerladen.
Viel Schmerz im Leben
Ansonsten passieren eher weniger Wunder. Sirka Elspaß schreibt über ihr Leben, in dem offenbar viel Schmerz ist, und in dem die Linderung wie ein Matchbox-Auto herumdüst, ohne Lenkung und Motor.
Überhaupt: Die Bilder. Sie sind aus dem Alltag genommen, aber irgendwann schlagen sie um ins Verstörende oder zumindest Überraschende. Man kann nie sicher sein, wo die Autorin einen hinführt.
Ein Gedicht fängt zum Beispiel mit den Worten an: “du kannst nicht tiefer fallen…” – und als gläubiger Mensch (und weil in mehreren Gedichten von einer Kirche in der Nachbarschaft die Rede ist), ergänze ich: “…als in Gottes Hände”. Aber das steht da nicht. Stattdessen steht da: “als auf die matratze”. Und dann kommt: “das musst du wissen, wenn du gehalten werden willst.”
Seltsamer Trost, denke ich, aber dann folgt die ausdrücklich als “Schmerzfrage” bezeichnete Fortsetzung: “was haben die erste große liebe / und überhört werden gemeinsam”? Und da die Autorin es nicht weiß, schaut sie bei “Google” nach. Wonach sie auf Englisch weitermacht, was sie immer tut, wenn es ihr zu intim wird: “so I ask google the thing you do not ask in public / how to curse your rapist? / es gibt foren dazu.”
Andeutungsweise autobiographisch

Schon an diesen wenigen Beispielen merkt man: Hier wird nichts ausgestellt. Kein Instagram, auch wenn die Autorin in einem Gedicht sagt, dass sie selbst Mitglied in diesem Forum für Selbstdarstellung ist – nicht einmal für Seelen, die vom Weltschmerz besessen sind. Dafür ist Sirka Elspaß viel zu diskret. Man muss schon um ein paar Ecken denken.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie Szenen ihres Lebens beschreibt, aber wenn das stimmt, dann nur in Andeutungen. Ein anderer Buch-Kritiker hat von Puzzle-Teilen gesprochen, nur dass sie sich nicht zu dem einen Puzzle zusammensetzen lassen, bei dem alles stimmt.
Dabei sind ihre Gedichte bis zu einem gewissen Punkt spontan verständlich. Gewiss kommt ihr Ende meist überraschend, oder ein bestimmendes Bild wird von einem anderen überblendet – aber das gehört zur modernen Lyrik: “es gibt blumen, die kommen einfach so / zwischen den steinen hervor das / berührt mich immer sehr sagst du / hast du welche gepflückt frage ich / nein sagst du sie wissen / doch nicht dass sie da / nicht gewollt sind”. In diesen Blumen findet sich die Autorin wieder.
Ich gratuliere dem Verlag zu dem Mut, “ich föhne mir meine wimpern” als Erstlingswerk von Sirka Elspaß zu veröffentlichen. ♦
Sirka Elspaß: ich föhne mir meine wimpern – Gedichte, 80 Seiten, Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-43078-1
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Neue Lyrik auch über Friedrich Hirschl: Ein Rest von Blau