Zurück zum Humanismus!
Daniel Schnyder befragt von Jakob Leiner
Der schweizerisch-amerikanische Komponist Daniel Schnyder wurde 1961 in Zürich geboren und lebt seit vielen Jahren in New York City. Er ist einer der vielseitigsten und produktivsten lebenden Komponisten, der auch als Improvisator, Solist und Kammermusiker arbeitet.
Glarean Magazin: Herr Schnyder, was sehen Sie aktuell von Ihrem Arbeitsplatz aus?
Daniel Schnyder: 153rd Street, Sugar Hill, NYC, Harlem, USA
Was sind die derzeitigen Berührungspunkte Ihrer Schweizer Heimat und Ihrem Lebensmittelpunkt, der Weltstadt New York City?

Eigentlich gibt’s nicht viele Berührungspunkte. In Luzern werde ich aber mit dem jungen Worlds Beyond Orchestra Berührungspunkte schaffen. Europäische Musiker treffen auf eine New York City Rhythm Section und wir werden amerikanische Musik in einem symphonischen Format bespielen.
Sie studierten in der Schweiz klassische Flöte sowie Komposition und Jazz-Saxophon in den USA. Was waren wichtige Wegmarken Ihres Werdegangs?
Dazu gehört sicher die Möglichkeit, in München mit enja records relativ früh in meiner Karriere tolle Projekte in Deutschland und den USA zu realisieren. Dann aber auch in der Schweiz mit dem Tonhalle-Orchester oder dem ZKO, der Oper in Bern und vor allem als “Komponist in Residenz” mit dem Schweizer Jugendsinfonieorchester Erfahrungen zu sammeln.
Ihr künstlerisches Werk kennzeichnet der Spagat z.B. zwischen zeitgenössischer klassischer und Jazz-Musik. Oder ist das gar kein Kunststück?
Nein, für mich ist das alles sehr natürlich. Ich sehe da gar keinen Graben, bin mir aber bewusst, dass im zweiten Weltkrieg ein künstlicher Graben ausgehoben wurde, den Ravel, Debussy, Weill, Gershwin und ganz viele andere nicht kannten. Dieser Graben ist ein Kunstprodukt und bedarf zum Übersetzen keines Spagats; der Graben ist nur da, wenn man ihn sehen will. Bach oder Händel oder Mozart wüssten gar nicht, wovon wir sprechen. Die haben einfach unterschieden zwischen improvisierter Musik und geschriebener Musik, ternärer Musik (Gigue zum Beispiel) und binärer Musik. Wir haben da die Fertigkeiten und Sensibilitäten leider verloren.
Aber ich bin mir sicher, dass das wieder zurückkommt; einfach nicht so schnell, wie ich dachte. Die Akademie, die sowas eigentlich beflügeln sollte, macht z.Z. das Gegenteil, was mir nicht recht in den Kopf will. Das ist ein internationales Problem und hat nichts mit der Schweiz zu tun: Ein weites Feld.
Was bedeutet das Schlagwort „genreübergreifend“ für Sie?
Wie eben schon obig erklärt, sehe ich keine Grenzen. Ich sehe nur eine extreme Ausweitung der Hörerfahrung der Menschheit durch die Omnipräsenz aller Musik zu aller Zeit, überall. Das ist eine wunderbare Sache, aber auch etwas verwirrend. Deshalb versucht man ja, Grenzen zu ziehen. Hier wohnt das deutsche Volk, hier ist der Schweizer, und weit weg der Japaner etc. Aber das funktioniert nicht mehr, wir alle sind alle, und so ist es auch mit der Musik. Der Komponist ist ja alle Musik, die er jemals gehört hat, plus alle Ideen, die daraus entstehen. Nun ist der Wortschatz halt ganz gewaltig angestiegen und wir müssen das nun in der klassischen Musik, die das Allgemeine einer Zeit sublimiert widerspiegeln sollte, einfachen.
Das ist nicht ganz einfach. Der Spielplatz ist gross. Jazz ist eine ungemein diffizile Musik, wie auch die arabische Musik und die afrikanische Musik. Adorno war da total falsch mit seiner Einstufung der Hottentottenmusik als “primitiv”. Das Problem bei derartiger Musik ist, dass sie in ihrem Urgrund verstanden werden muss. Der Notentext allein hilft nichts. Das schreckt viele ab. In Luzern gehen wir genau das Problem an den Wurzeln an, also radikal.
Ihre Kompositionen werden in hoher Frequenz weltweit aufgeführt, zudem sind Sie solistisch und nicht zuletzt pädagogisch unterwegs. Wo oder wie holen Sie Luft?

Ja, ich habe eigentlich recht viel Zeit für mich, da ich keinerlei feste Verpflichtungen habe, also in keine Institution eingebunden bin, da die Institutionen heuer immer monströser werden und meine lieben Kollegen mit Sitzungen und Administrativarbeiten so zumüllen, dass gar keine Zeit für kreative Prozesse mehr übrig bleibt. Das ist natürlich weltweit so. Ich hab keine Ahnung, was und wer das steuert. Kreativ sein, Schaffen braucht viel, viel Zeit, sogenannte Musse. Muse will Musse, ha! Wir haben das auch verlernt. ‘Umaejuflae wie gschtoert’, hat noch meine Grossmutter gesagt, wenn die kontemplative Seite des Menschseins zu kurz kommt.
Gestern habe ich hier im Central Park NYC “Hamlet” gesehen – fantastisch. Das ist meine ART der Erholung und Inspiration. Man muss ja immer wieder eine “raison d’etre” finden, da wir uns in einer ungefilterten Müllhalde von Information und Kulturkleckereien befinden und dabei ersticken.
Die klassische Musik ist da leider auch Opfer, sie verschwindet mehr und mehr im Medienmüll. Da versuche ich nun eben auch, pädagogisch etwas dagegen zu wirken. Vom 4. bis 7. September ’23 mach ich einen Workshop mit Konzert im “Moods” in ZH zum Thema “The Other Concert”, wo Verbindungen von Musik, Geschichte, Mathematik, Film, Tanz, Zeichen, Theater etc. ausgelotet werden.
Da ist im Moment einfach wegen des “Fachidiotentums”’ und wegen der engen, immer zahlreicheren “Grenzen”, wie Sie vorhin sagten, wenig Platz in den edukativen Prozessen der Hochschulen.
Insbesondere für Blechbläserbesetzungen haben Sie das postmoderne Repertoire maßgeblich geprägt. Gibt es so etwas wie einen Schnyder-Sound?
Ja, den gibt es. Leute, die meine Musik gut kennen, erkennen sie nach zwei Takten – tausendfach passiert. Ich habe natürlich auch sehr viele Bearbeitungen geschrieben (Händel, Mozart, Bach, Bizet, u.a.), und da hoffe ich, dass man bei meiner Interpretation mich erkennt.
Für mich ist die Musik, geschrieben oder gespielt oder geschrieben und gespielt, eine sehr persönliche Sache, wie meine Stimme oder mein Gesicht. Wenn das allgemein wird, wird es nicht mehr interessant und sicher baldigst durch AI ersetzt. Wir müssen wieder zur Interpretation finden. Die Akademie hat da, nebst interessanten Erkenntnissen, leider auch versagt: Immer mehr klassische, aber auch Jazz-Musiker klingen fast genau gleich. Man muss den Jungen Mut machen zur extremen Interpretation. Das habe ich von David Taylor, dem legendären Bassposaunisten, mit dem ich in St. Moritz “Festival da Jazz” heuer am 26. Juli konzertieren werde, gelernt!
Ich würde mich aber eher als Streicherkomponist und Holzbläserkomponist bezeichnen. Die Blechbläser wiederum haben einen besseren und leichteren Zugang zu meiner Musik wegen der spezifischen, nicht eurozentrischen Rhythmussprache. Den Streichern und Holzbläsern ist das noch viel fremder. Das braucht halt etwas Zeit – und da sind wir wieder beim Grenzthema (hahaha).
Wie ist in Ihre Definition von Kreativität das Prinzip der Improvisation eingebettet?
Kreativität ist entwickelbar, aber nicht lernbar. Es ist ja in unserer Kultur, vorab der protestantischen Tradition, höchst suspekt, kreativ zu sein. Wir peinigen die Menschen, die Neues erschaffen, seien es nun Komponisten oder Erfinder. Da sitzt eben ganz tief der Glaube, dass der echt Kreative einen Bund mit dem Teufel hat, dem einzigen kreativen Engel, dem gefallenen Engel. Deshalb Teufelsgeiger, Teufelszeugs, wenn einer eine Maschine erfindet, sündhaft, wenn ausserhalb der Kirche musiziert und getanzt wird. Dionysos ist ja im Christentum zum Teufel geworden – ein weites Feld…
Wie schafft man das – dieses permanente Offenbleiben?
Ich bin nicht immer offen, versuche aber möglichst viele Sachen zu lernen und zu wissen. Das befördert den kreativen Prozess. Je mehr man kennt und weiss, desto mehr Assoziationen und Verbindungen kann man schaffen. Das beflügelt!

Was sind Ihre laufenden oder anstehenden Projekte?
Ich habe einige Opernprojekte und mache jetzt gerade ein tolles Projekt mit Saxophon und Streichquartett, meiner Lieblingsbesetzung, fertig. Dann fahre ich nach North Carolina und spiele da ein Festival-Konzert, das Mahler, Ellington, Monk und meine Musik zusammenführt. Da diskutieren wir dann auch viele der Punkte, die ich in diesem Interview erwähnte, mit dem Publikum.
Bei den Murten Classics 2023 arbeite ich (nebst einem Solo-Portrait-Konzert) mit vier jungen Komponist:innen zusammen und an deren Uraufführungen. Ich arbeite auch an einem Projekt für kleine Kinder, einem Theater-Musik Projekt, das den Kleinen den Wert und die Idee der Musik vermittelt. Die meisten Kinder nehmen ja Musik nicht mehr live gespielt auf, sondern nur noch durch ihre Telefone und Computerspiele. Da muss man auch wat tun (hahaha). Also: 1000 spannende Dinge.
Apropos Zukünftiges: Wenn es tiefgreifende Reformen für Ausbildungsstätten geben könnte, was wäre Ihrer Ansicht nach das Dringlichste?
Zurück zu einem mehr humanistischen Ansatz; der Verbindung aller Ideen und Dinge. Rubinstein, Bach, Beethoven, etc. waren holistische Menschen. Sie waren keine Fachidioten. Bach hat Altgriechisch und Latein unterrichtet, nebst allem anderen… Wir müssen weg von einem falschen utilitaristischen Weltbild; es macht uns nur unglücklich und “unmensch”.
Herr Schnyder, wie klingt sie eigentlich: Die Musik der Zukunft?
Das weiss ich nicht. Ich denke aber, dass die klassische Musik wieder, wie nach dem ersten Weltkrieg, redimensioniert wird (Stravinskys “Histoire du soldat” u.a.) und Werke für kleinere Kammerensembles, teils noch mit elektronischen Instrumenten, Computern und Drumset etc. entstehen werden. (Das ist hier in den USA schon der Fall).
Die Zeiten der “Alpensinfonie” u.a. sind vorbei; Das Bürgertum, das das finanziell und “ästhetisch” getragen hat, ist tot, und die Nachfahren gehen zum Autorennen oder Tennismatch. Der Volkswille zur Erschaffung solcher Werke ist nicht mehr da.
Natürlich finde ich das sehr schade. Ich liebe das! Ich hab ja selbst sehr viele Sachen für grosses Orchester geschrieben und tausende von Stunden daran gearbeitet, wie ein Besessener! Allein ich sehe zur Zeit den Willen unserer Gesellschaft zur Erschaffung neuer grosser symphonischer Werke als sehr beschränkt.
Auch ist leider schon sehr viel Handwerk verschwunden, es entstehen viele absurde Dinger, die nicht funktionieren können. Man muss das Komponieren üben und viel schreiben und dann alles genau einstudieren; sonst entsteht einfach eine Farbensuppe mit ab und zu einem Knaller drin. Wie gesagt: Ein weites Feld…! ♦
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schweizer Komponistinnen und -Komponisten auch das Interview mit Katharina Nohl
Many thanks to Mr. Leiner for this very interesting interview with composer Schnyder! A composer who deserves attention. His answers have a lot of content. Unfortunately I have not been able to see him live so far in NYC. Maybe there will be an opportunity later. All the best from the States: S. Wilson