Dommaraju Gukesh: Attack like a Super Grandmaster (Schach)

Die Gedankenwelt des Angriffsspielers

von Mario Ziegler

Der aus Chen­nai stam­men­de Dom­ma­ra­ju Gu­kesh (Jahr­gang 2006) be­legt in der Welt­rang­lis­te Platz 13, er ist zu­gleich der jüngs­te Spie­ler in den Top 100. Der Schach­öf­fent­lich­keit ist er spä­tes­tens seit sei­nem Auf­tritt bei der Schach­olym­pia­de 2022 in sei­ner Hei­mat­stadt ein Be­griff, wo er mit 9 Punk­ten aus 11 Par­tien das bes­te in­di­vi­du­el­le Er­geb­nis an Brett 1 er­ziel­te und doch zum tra­gi­schen Hel­den wur­de: Sei­ne Ver­lust­par­tie aus Ge­winn­stel­lung in der vor­letz­ten Run­de ge­gen den Us­be­ken Ab­du­sat­to­rov kos­te­te In­di­en die Goldmedaille.

Gu­keshs Erst­lings­werk “At­tack like a Su­per Grand­mas­ter”, als Fritz­trai­ner im Hau­se Ch­ess­Ba­se er­schie­nen, ver­spricht ei­nen Ein­blick in die Ge­dan­ken­welt ei­nes Welt­klas­se­spie­lers. Die Vi­de­os wur­den durch Ch­ess­Ba­se In­dia in Mum­bai pro­du­ziert, Gu­keshs “Si­de­kick” ist der Schach­jour­na­list und In­ter­na­tio­na­le Meis­ter Sa­gar Shah. Die­ser lenkt das Ge­spräch, in­dem er im­mer wie­der Fra­gen stellt – dar­un­ter sol­che, die auch ein Ama­teur an die­ser oder je­ner Stel­le auf­wer­fen könn­te. Der rou­ti­nier­te Me­di­en­pro­fi Shah stellt da­bei in je­der Hin­sicht ei­nen Ge­gen­satz zu dem jun­gen Groß­meis­ter dar: zum ei­nen äu­ßer­lich durch sein bun­tes Hemd, wäh­rend Gu­kesh de­zent ge­klei­det auf­tritt, zum an­de­ren durch sei­ne ex­tro­ver­tier­te Art, wäh­rend Gu­kesh lei­se und manch­mal fast et­was schüch­tern sei­ne Sicht der Din­ge zum Bes­ten gibt.

Schlüsselmomente in Angriffspartien

Herz­stück der Da­ten­bank bil­den fünf An­griff­s­par­tien Gu­keshs aus dem Jah­re 2022, die je­weils in meh­re­ren Vi­de­os ana­ly­siert wer­den. In ih­nen ge­lingt es ihm, aus durch­aus po­si­tio­nel­len Er­öff­nun­gen wie dem Da­men­gam­bit oder Ka­ta­la­nisch Ver­wick­lun­gen her­auf­zu­be­schwö­ren und nach und nach den ent­schei­den­den Schlag vor­zu­be­rei­ten. In Schlüs­sel­mo­men­ten wird der Zu­schau­er ge­be­ten, das Vi­deo an­zu­hal­ten und sich selbst Ge­dan­ken zu ma­chen. Ein Beispiel:

Cuenca Jimenez Jose Fernando - Gukesh Dommaraju (nach 30.Th3)Cuen­ca Ji­mé­nez, José Fer­nan­do (2558) – Gu­kesh, Dom­ma­ra­ju (2637)
Sant Fer­ran de ses Ro­ques 2022

Mei­ne En­gi­ne (Stock­fi­sh 15) sieht die­se Po­si­ti­on noch na­he­zu im Gleich­ge­wicht, was nichts dar­an än­dert, dass nach wei­te­ren 17 Zü­gen der Wei­ße – im­mer­hin ein Groß­meis­ter – die Se­gel strei­chen muss.
30…g5!
30…Th8?! ist der Ver­such, die of­fe­ne h-Li­nie zu nut­zen, aber nach 31.Txh8 Txh8 32.Tb1 mit der Idee b4-b5 über­nimmt be­reits Weiß das Kommando.
31.fxg5 Sxg5 32.Tg3 33.b5 Se4 34.Th3 Th8!
Schwarz tauscht ei­nen wich­ti­gen Ver­tei­di­ger des wei­ßen Kö­nigs ab.
35.Txh8 Txh8

Cuenca Jimenez Jose Fernando - Gukesh Dommaraju (35...Txh8)Noch im­mer sieht Stock­fi­sh die wei­ße Stel­lung als aus­ge­gli­chen an, aber für ei­nen Men­schen ist sie be­reits sehr un­an­ge­nehm: Schwarz kon­trol­liert die h-Li­nie, die Sprin­ger sind deut­lich wir­kungs­vol­ler als das wei­ße Läu­fer­paar. Ein Ab­tausch auf e4 wür­de die f-Li­nie ge­gen den wei­ßen Kö­nig öff­nen, an­de­rer­seits muss Weiß auch im­mer mit …f5-f4 rechnen.
36.f3?!
Hier kommt Weiß vom rech­ten Weg ab, der für ei­nen Men­schen aber al­les an­de­re als leicht zu fin­den war. 36.bxc6 bxc6 37.Tb1 ist ver­mut­lich im­mer noch aus­ge­gli­chen, auch wenn Schwarz mit 37…f4 den Druck auf­recht er­hal­ten kann: 38.exf4 (38.Lxe4?? f3! führt zu Matt) 38…Dxf4 mit der Idee 39…Sg3+ 40.Kg1 Sgf5.
36…Sd6! 37.bxc6 bxc6 38.Dd3 f4! 39.exf4 Dxf4
Die En­gi­ne gibt 39…Sef5 als deut­lich stär­ker an, aber das ist nur eine Rand­no­tiz. Prak­tisch ist die Par­tie­stel­lung für Weiß kaum zu verteidigen.
40.Ld2 Df6 41.Te1 Sc4 42.Le3 Sf5 43.Lf2 Dg6 44.f4 Th2 45.Lh3 Th1+ 46.Ke2 Dh5+ 0–1

Durchzogenes Schach-Niveau

Ge­fällt mir die­ses Ka­pi­tel aus­neh­mend gut, so hin­ter­lässt das fol­gen­de mit der Über­schrift “Mis­cel­la­neous” ge­misch­te Ge­füh­le. Die hier ent­hal­te­ne Par­tie Gu­kesh-Sa­mant trug sich im Jah­re 2015 zu, als Gu­kesh 9 Jah­re alt war. Der Geg­ner spiel­te die Er­öff­nung un­ge­nau und gab Gu­kesh die Ge­le­gen­heit zu ei­nem spek­ta­ku­lär vor­ge­tra­ge­nen Schluss­an­griff. Al­ler­dings hät­ten ab ei­nem be­stimm­ten Mo­ment wohl auch we­ni­ger en­er­gi­sche Züge ge­won­nen, wie der jun­ge Groß­meis­ter frei­mü­tig ein­räumt. Das bringt mich zu der Fra­ge: Was soll die­se Par­tie dem Zu­schau­er zei­gen? Der Geg­ner war mit Elo 1690 ganz si­cher kein star­ker Spie­ler (Gu­kesh hat­te zu die­sem Zeit­punkt Elo 1949), er miss­han­del­te die Er­öff­nung und wur­de von ei­nem gut vor­ge­tra­ge­nen, aber doch the­ma­ti­schen An­griff am Kö­nigs­flü­gel vom Brett ge­fegt. In ei­nem Ver­eins­trai­ning kann man solch eine Par­tie sehr gut vor­füh­ren, aber muss man sie in ei­nem Fritz­trai­ner ver­öf­fent­li­chen, in dem es um das An­griffs­schach ei­nes Su­per-Groß­meis­ters geht?

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Die glei­che Fra­ge wür­de ich zu der Par­tie Pra­nee­th-Gu­kesh (In­di­sche U11-Meis­ter­schaft 2017) stel­len. Hier ze­le­briert Gu­kesh das dop­pel­te Läu­fer­op­fer – im­mer wie­der eine ge­fäl­li­ge Kom­bi­na­ti­on, aber si­cher kei­ne, die nur ein Su­per-Groß­meis­ter zu­stan­de bringt. Da die Kennt­nis wich­ti­ger Mus­ter­par­tien zu be­stimm­ten The­men für das Fort­kom­men im Schach be­kannt­lich un­er­läss­lich ist, zei­gen Gu­kesh und Shah zum dop­pel­ten Läu­fer­op­fer zwei be­kann­te Vor­gän­ger­par­tien von Ema­nu­el Las­ker und Tony Mi­les und wei­sen auf eine Par­tie Fi­schers ge­gen My­ag­marsu­ren (In­ter­zo­nen­tur­nier 1967) hin, die ge­wis­se Ähn­lich­keit mit der Par­tie Gu­kesh-Sa­mant hat.

Kreative Taktik-Ideen

Die­ses Ka­pi­tel könn­te also un­ter dem Mot­to “Frü­he Meis­ter­wer­ke Gu­keshs und ihre schach­his­to­ri­schen Vor­bil­der” ste­hen, wenn nicht die letz­te Par­tie so voll­stän­dig aus die­sem Rah­men fal­len wür­de. Es han­delt sich um eine In­ter­net-Schnell­par­tie ge­gen Ri­chard Rap­port aus dem Jahr 2022, in der der In­der eine Qua­li­tät op­fer­te, um die geg­ne­ri­sche Dame für ei­ni­ge Züge aus dem Spiel zu hal­ten. Die Idee ist krea­tiv, wenn­gleich das Ma­nö­ver ob­jek­tiv wohl nicht die bes­te Spiel­wei­se darstellt.

Ins Schach-Gespräch vertieft: Moderator Sagar Shah (links) mit dem Super-Grossmeister und Autor Dommaraju Gukesh
Ins Schach-Ge­spräch ver­tieft: Mo­de­ra­tor Sa­gar Shah (links) mit dem Su­per-Gross­meis­ter und Au­tor Dom­ma­ra­ju Gukesh

Wie bei Fritz­trai­nern üb­lich fol­gen in­ter­ak­ti­ve Übun­gen, in die­sem Fall aus 7 Par­tien Gu­keshs, und 10 Übungs­po­si­tio­nen zum Spie­len ge­gen Fritz. Alle Par­tien sind auch in der bei­gefüg­ten Da­ten­bank ent­hal­ten, wo­bei die Haupt­par­tien aus­führ­lich kom­men­tiert wur­den. In der Zu­sam­men­fas­sung weist Gu­kesh auf die Be­deu­tung des Stu­di­ums der Klas­si­ker und die Not­wen­dig­keit hin, sich um­fas­send selbst Ge­dan­ken zu ih­ren Par­tien zu ma­chen. Ge­ra­de in ei­ner Zeit, in der die “Wahr­heit” über eine Stel­lung oft nur den Maus­klick auf den Start­but­ton ei­ner En­gi­ne ent­fernt ist, kann man die Be­deu­tung des ei­gen­stän­di­gen Den­kens nicht deut­lich ge­nug be­to­nen. “Be­ing cu­rious ist the most im­portant” – ein Satz, den je­der Schach­trai­ner so­fort un­ter­schrei­ben wird.

Interessante Schach-Gespräche

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Dom­ma­ra­ju Gukesh

At­tack like a Su­per Grand­mas­ter” hat mir über­wie­gend sehr gut ge­fal­len. Mit Gu­kesh ein in­ter­es­san­ter jun­ger Welt­klas­se­spie­ler, mit Shah ein rou­ti­nier­ter “Stich­wort­ge­ber”, dazu be­geis­tern­de Schach­par­tien. Dass die bei­de Ge­sprächs­part­ner ge­le­gent­lich ab­schwei­fen und Din­ge an­spre­chen, die mit dem The­ma des Fritz­trai­ners nichts zu tun ha­ben, hat mich nicht ge­stört. Wenn Gu­kesh dar­über plau­dert, dass er den Kö­nig­s­in­di­schen An­griff we­gen der Par­tien Bob­by Fi­schers in sein Re­per­toire auf­ge­nom­men hat, und wie er zu On­line-Schach steht, wird deut­lich, dass sich Gu­kesh und Shah nicht an ein Skript hal­ten, son­dern sich ein ech­tes Ge­spräch er­ge­ben hat. “Du siehst müde aus”, be­merkt Shah im letz­ten Vi­deo, be­vor er er­zählt, dass sich Gu­kesh vor ei­ni­gen Ta­gen bei der Vor­be­rei­tung des Fritz­trai­ners nachts um 2 Uhr in die Ana­ly­se ei­ner Stel­lung ver­bis­sen hatte.

Die Frage nach der Zielgruppe…

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Den­noch darf man die Fra­ge nach dem Kon­zept stel­len. Wenn ich eine Da­ten­bank mit dem viel­ver­spre­chen­den Ti­tel “At­tack like a Su­per Grand­mas­ter” er­wer­be, er­war­te ich Bei­spie­le aus der Welt­klas­se. Die­se bie­tet die Da­ten­bank im ers­ten Teil, und die­ser Teil – die er­wähn­ten fünf Par­tien aus dem Jahr 2022 – hat mich be­geis­tert. Die nach­fol­gen­den Bei­spie­le sind, bis auf die Schnell­par­tie ge­gen Rap­port, auf deut­lich nied­ri­ge­rem Ni­veau ge­spielt. Das dop­pel­te Läu­fer­op­fer, das in meh­re­ren Par­tien ex­er­ziert wird, ge­hört zum Stan­dard­re­per­toire ei­nes Tur­nier­spie­lers, so dass ich für die­ses Bei­spiel kei­nen Su­per-Groß­meis­ter als Vor­bild be­nö­ti­ge. Man kann sich an die­ser Stel­le fra­gen: Wer ist die Ziel­grup­pe der Da­ten­bank? Was die ers­ten Par­tien an­geht, so sind es ein­deu­tig fort­ge­schrit­te­ne Spie­ler (und Trai­ner), wäh­rend ein The­ma wie das dop­pel­te Läu­fer­op­fer die­ser Ziel­grup­pe viel­leicht ein an­er­ken­nen­des Lä­cheln aufs Ge­sicht zau­bern, mit Si­cher­heit we­nig Neu­es ver­mit­teln kann.

Ab­ge­se­hen von die­sen Be­den­ken ist “At­tack like a Su­per Grand­mas­ter” eine schö­ne Da­ten­bank und für Dom­ma­ra­ju Gu­kesh ein ge­lun­ge­nes De­büt als Au­tor. Es bleibt zu hof­fen, dass wei­te­re Da­ten­ban­ken fol­gen werden. ♦

Dom­ma­ra­ju Gu­kesh: At­tack like a Su­per Grand­mas­ter – Rei­he “Fritz-Trai­ner”, Chessbase/Hamburg

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma “Fritz-Trai­ner” auch über Ha­rald Schnei­der-Zin­ner: Strategieschule

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