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Elend und Zuflucht im Schweizer Exil
von Christian Busch
In seinem neuen biographischen Roman “Ascona” schildert Edgar Rai sechs Jahre aus dem Exilleben des deutschen Bestsellerautors E. M. Remarque – und seinen Kampf mit den äußeren und inneren Dämonen seiner Zeit.
Es ist der Abend des 18. März 1939. Die Queen Mary steht am Hafen von Cherbourg – bereit zur Überfahrt nach New York. Als sie ablegt, sind 6’000 Passagiere an Bord des Luxuskreuzers, der für 2000 Menschen ausgelegt ist – alle auf der Flucht vor der drohenden, braunen Schlammlawine, die sich anschickt, Europa und die ganze Welt zu überrollen.
Vor ihnen liegt eine ungewisse, ferne Zukunft in Amerika. Als einer der letzten Schiffsgäste erreicht ein Mann das Schiff, der in einem stotternden Lancia über 1000 Kilometer aus dem Schweizer Exil Ascona zurückgelegt hat: Erich Maria Remarque, ein überzeugter Pazifist, der Autor des Welterfolgs und Antikriegsromans “Im Westen nichts Neues”, die Stimme der “verlorenen Generation”, die “vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam”. Sechs Jahre zuvor hatte er nach Hitlers Machtergreifung Berlin und seine jüdische Exfrau bei Nacht und Nebel zurücklassen müssen.
Ascona – Zufluchtsstätte für Künstler im Exil

Edgar Rai, der – vom Film kommend, nach Abstechern in verschiedenen literarischen Gattungen – zuletzt sehr erfolgreich im Genre des biographischen Romans heimisch geworden ist, hat sich (nach seiner jüngsten Darstellung der deutschen Befindlichkeit in den 20er Jahren und der Filmwelt um Marlene Dietrich) nun auf die Spuren von Erich Maria Remarque begeben.
In seinem Roman “Ascona” erweckt er die sechs Jahre, die der angefochtene Exilschriftsteller in seiner Villa am Laggio Maggiore verbracht hat, zum Leben. Er erzählt in vierzig locker verknüpften Kapiteln zunächst von der illustren, aber auch leicht skurrilen Exilgemeinde, zu der emigrierte Künstler (Emil Ludwig, Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, la Nonna), aber auch um die Kunst buhlende Industrielle gehören (Max Emden, Eduard von der Heydt). Man trifft sich im Café Verbano, wo man sich von der attraktiven Fede verzaubern lässt – Schmelztiegel einer brüchigen Welt mit ungewisser Zukunft. Auch Remarque gehört zu diesen heimatlosen, entwurzelten Künstlerseelen. Alle kämpfen um ihre Existenz, aber auch um ihren Stolz.
Erlösung durch die Liebe
Doch dann widmet sich der Erzähler mehr und mehr dem unsteten, ausschweifenden Liebesleben Remarques, jedoch nicht aus Neu- oder Sensationsgier, sondern weil der Liebe nicht nur in dessen Romanen, sondern auch in dessen Leben Erlösungsfunktion zukommt. Immer wieder muss Remarque bei den Begegnungen mit Emil Ludwig von dessen Produktivität hören, während er – von Selbstzweifeln durchdrungen – jahrelang um die Umgestaltung seines Romans “Pat” (später “Three Comrades” / Drei Kameraden) ringt.
Remarque bleibt – im Werk wie im Leben – ein von seinen Kriegserlebnissen traumatisierter, beziehungsunfähiger Einzelgänger, der sich nicht öffnen kann.
Auf rauschende Feste und sexuelle Eskapaden folgen Phasen der Ernüchterung und Impotenz. Schließlich begegnet er in Venedig Marlene Dietrich, die er in ihrer selbstzerstörerischen Affäre “das Puma” nennt und ihr und ihrem Clan doch in aller Ausweglosigkeit zunächst nach Paris, dann sogar nach Amerika folgt. “Wenn ich danach Ihre Lesbienne sein darf”, sagt er zu ihr.
Sorgfältig recherchierte Episoden

Zweifellos ist Edgar Rai hier in seinem Element, er hat ausführlich recherchiert und es gelingt ihm, in seiner filmszenisch und episodenhaft orientierten Darstellung dieser Zeit und vor allem dem nicht leicht zugänglichen Literaten Leben einzuhauchen, ohne zu überzeichnen oder allzu sehr zu psychologisieren. Rai hat ein sicheres Gespür für die Auslegung und Grenzen seiner Quellen. Er heftet sich seiner Figur aufmerksam, dicht und doch diskret an die Fersen, ohne ihr zu nahe zu treten. Lediglich die angedeutete Parallele zwischen Jutta und Remarques Protagonistin Pat kann nicht überzeugen und ist misslungen – zu unterschiedlich sind die beiden Charaktere.
Auch stockt im Mittelteil die Handlung etwas. Manche Kapitel wirken seifenopernartig, durch vage Paukenschläge miteinander verknüpft. Fulminant dagegen der letzte Teil mit einer intensiven Darstellung der “Liaison dangereuse” zwischen der voller Allüren und Egozentrik steckenden gefeierten Film-Diva und dem von Selbstzweifel gebeutelten und dem Alkohol allzu sehr verbundenen Schriftsteller. Der Leser spürt: Hier ist nichts ausgebreitet, nichts erfunden, sondern alles wahr.
Kurzweilige Roman-Biographie
Damit gelingt dem in Berlin lebenden Autor Rai sogar das, was auch Remarques Antriebsfeder war: Ein Sittengemälde seiner Zeit und das Porträt eines tragischen Helden. Auch wenn Wilhelm von Sternburgs großartige Remarque-Biographie umfassend, sehr erhellend und verdienstvoll geraten ist, bietet Rais Romanbiographie eine verdichtete, lebendigere und kurzweiligere Alternative. Auch sein Roman ist ein erschütterndes Dokument deutscher Vor- und Nachkriegsgeschichte – und eines Romanhelden, der den ersten Weltkrieg erlebte und den zweiten dennoch nicht verhindern konnte. Dessen Leiden an dieser Zeit erscheint uns lebendiger denn je. ♦
Edgar Rai: Ascona (Roman-Biographie über E.M. Remarque), Piper Verlag, ISBN 978-3492-070683
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Roman-Literatur auch über Rainer Wedler: Die Versuche des Rudolph Anton R.
Außerdem zum Thema Roman-Biographie: Klaas Huizing: Zu dritt – Karl Barth
Weitere Internet-Beiträge über E.M. Remarque:
- Keine Wege zum Ruhm – Das Grauen des Krieges (Lernwerkstatt Film&Geschichte)
- Im Westen nichts Neues (PPM)
- Graphic Novel: Im Westen nichts Neues
- Remarque: Gesammelte Werke (Chisinau)
- Remarque-Gesellschaft (Osnabrück)