Rainer Wedler: Die Versuche des Rudolph Anton R. (Roman)

Dechiffrierende Stenogramme

von Walter Eigenmann

Der Karls­ru­her Schrift­stel­ler Rai­ner Wed­ler legt mit “Die Ver­su­che des Rudolph Anton R.” einen neuen Prosa-Band vor. Auf 176 Buch­sei­ten brei­tet Wed­ler eine Fülle von gro­tes­ken bis absur­den, oft aber­wit­zi­gen, doch auch zärt­li­chen, teils ana­ly­ti­schen, dann wie­der ero­ti­schen Ste­no­gram­men aus. Ent­stan­den ist eine kalei­do­sko­pi­sche Dechif­frie­rung des Innen- und Außen­le­bens eines jun­gen Schrift­stel­lers – Auto­bio­gra­phi­sches nicht ganz ausgeschlossen…

Erzählst du mir eine Geschichte?
Sie rollt sich neben mich und trom­melt auf mei­nen Bauch, der ein küm­mer­li­cher Schall­kör­per ist.
Aus mei­nem Leben oder fiktiv?
Kann man das trennen?
Nein.
Was aber soll ich erzäh­len, ohne zu lang­wei­len?” (S. 96)

Rainer Wedler: Die Versuche des Rudolph Anton R. (Roman), Pop-VerlagInhalt­li­che Stränge (oder Strenge), Figu­ren-Ent­wick­lun­gen, Lite­ra­ri­sche Bekennt­nisse, Poli­ti­sches Kal­kül, Sozial-Ana­lyse, Exqui­site Schau­plätze, Knat­ternde Spra­che, Viel­falt der Sze­na­rien, oder auch nur unter­halt­sa­mes Erzäh­len, ver­bun­den mit ordent­lich Sex&Crime – sol­cher­lei “gewöhn­li­che” Prosa-Ingre­di­en­zien mag für “gewöhn­li­che Lite­ra­tur” aus­rei­chen, um breit gou­tiert, also erfolg­reich zu sein.
Bei dem 79-jäh­ri­gen Autor Rai­ner Wed­ler fin­det sich, nach zahl­rei­chen Roman-, Kurz­prosa- und Lyrik-Büchern, inzwi­schen nichts mehr davon. “Die Ver­su­che des Rudolph Anton R.”, der neu­este Wed­ler, erscheint jenen, wel­che die Ent­wick­lung die­ses pro­duk­ti­ven Dich­ters ver­folgt haben, viel­mehr als regel­rech­tes Alters­werk. Ver­knappt, ver­dich­tet auf viele hete­ro­gene Psycho-Ste­no­gramme, legiert in zahl­lose klei­nere, teils nur ein paar Zei­len lange Abschnitte, und ein­ge­dampft mit­tels Kurz-Sät­zen mit kaum Kom­mata und vie­len Punk­ten – so schlin­gert sich das Leben des Prot­ago­nis­ten R. A. Rin­gel­retz durch des­sen Refle­xio­nen, die nie erklä­ren, son­dern immer nur kon­sta­tie­ren. Und gerade dadurch erhellen.

Autopsie eines Schriftstellerlebens

Rainer Wedler - Schriftsteller - Glarean Magazin
Rai­ner Wed­ler (geb. 1942)

Wed­lers Prosa – ich tue mich schwer, diese “Ver­su­che” Roman zu nen­nen – ist von einer der­art gereif­ten, elo­quen­ten, fokus­sier­ten Qua­li­tät, dass man schier schon gefes­selt ist allein vom sprach­li­chen, weni­ger vom inhalt­li­chen Gesche­hen: “Stille. Hei­lig­geist schlägt zehn Mal, das dau­ert. Stille. Die dau­ert.” In die­sem Buch pas­siert stän­dig etwas – aber kaum je etwas Erwar­te­tes. Und ob all das Uner­war­tete eine innere Kohä­renz hat, könnte allein eine aus­ge­dehnte Bin­nen­ana­lyse aufzeigen.
“Die Ver­su­che des Rudolph Anton R.” ist ein ein­zi­ges, man muss es so banal aus­drü­cken: Lese­ver­gnü­gen. Keine Beleh­rung, keine Durch­leuch­tung, keine Ana­lyse. Allen­falls die Aut­op­sie eines Schrift­stel­ler­le­bens, das sich abspielt in “Phan­tas­ma­go­rien, die über mich kom­men und mich spal­ten”. Wie gesagt: Auto­bio­gra­phi­sches nicht ganz ausgeschlossen…

Das Wed­ler­sche Schrei­ben, sein exal­tier­tes Asso­zie­ren und Illus­trie­ren, sein sprung­haft-unge­zähm­tes Ver­bin­den ent­le­gendst-hete­ro­ge­ner Denk- und Gefühls­in­halte wird nicht jede Leser­schicht vor­be­halt­los ent­zü­cken. Das Ver­gnü­gen an die­ser Lite­ra­tur ist direkt pro­por­tio­nal der Fähig­keit, sich dem Sog einer gera­dezu sezie­ren­den Spra­che auszuliefern.

Eines der vie­len Sprach­spiele – alias ero­ti­sches Geplän­kel – in die­sem “Roman” geht so:

Ich weiß es und ich weiß, dass sie es weiß. Mit der Spra­che kom­men wir nicht wei­ter. Die Zeit zer­deh­nen kann sie zerreißen.
Das Spiel beginnt.
Sie zieht ihr T-Shirt über den Kopf, die Haare ver­wir­ren sich, ich reiße mein Hemd auf, dass die Knöpfe nur so sprin­gen, werfe es ihr über den Kopf, sie schüt­telt es weg, ihre Bäll­chen hüpfen.
Nach einer hal­ben Stunde steht es eins zu eins.”

Virtuos und phantasievoll

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Rai­ner Wed­lers extrem wort­schatz­rei­ches, dabei mit durch­aus Situa­ti­ons­ko­mik durch­zo­ge­nes, auch regel­mä­ßig mit zyni­schem Schmun­zeln hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand ange­rei­cher­tes Buch, wie es vir­tuos und phan­ta­sie­voll, aber auch mit viel distan­zier­ter Kälte die Irrun­gen und Wir­run­gen eines vom Leben (und den Frauen) über­rasch­ten Lite­ra­ten zele­briert, wird so man­chen Leser ver­ständ­nis­los zurück­las­sen. Es sei denn, er ver­mag auf einer Meta-Ebene mit­zu­le­sen. Dort wo die Spra­che sel­ber zum Ereig­nis wird.

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Man wird auf dem moder­nen Lite­ra­tur­markt nur wenige Bücher fin­den, die so künst­le­risch und zugleich so ver­ant­wor­tungs­voll und so prä­zis mit dem Wort umge­hen wie diese “Ver­su­che des Rudolph Anton R.”. Hier fährt einer die Ernte eines jahr­zehn­te­lan­gen, gedul­di­gen, sorg­fäl­ti­gen, auch exzes­si­ven Umgangs mit dem Aus­drucks­mit­tel Spra­che ein. Nir­gends schiefe Bil­der, nie ein rich­ti­ges Wort am fal­schen Ort, keine lus­tig-fla­chen Sätze. Jeder Buch­stabe sitzt und klingt. Noch nicht mal laut­ma­le­ri­sche Holp­rig­kei­ten, geschweige denn seman­ti­sches Lang­wei­len mit­tels Wie­der­ho­lun­gen oder Beto­nun­gen oder Insis­tie­run­gen. Wed­ler schreibt üppig – aber nichts ist über­flüs­sig. Sorg­falt in jedem Satz, schät­zungs­weise nach einem sehr lan­gen Entstehungsprozess.
Die krea­tive Sprung­haf­tig­keit die­ses “Romans” über den Schrift­stel­ler Rudolph Anton Rin­gel­retz hat tat­säch­lich etwas von Rin­gel­natz an und in sich. Doch die schwe­re­lose Vir­tuo­si­tät und der Asso­zia­ti­ons­reich­tum die­ser Spra­che macht sie zu einem sin­gu­lä­ren Erleb­nis über jeden absur­den Witz hinaus.
Ja: Ein Lese­ver­gnü­gen. Und: Am Ende des Buches ist man nicht schlauer. Aber klüger. ♦

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