Siegmeth, Hunstein, Wolf: Winterreise nach Franz Schubert

Gemeinsame Sprache zweier Musikwelten

von Horst-Dieter Radke

Das Wort “Win­ter­rei­se” as­so­zi­iert so­fort mit Franz Schu­bert, wo­hin­ge­gen die In­stru­men­te, die auf dem Co­ver des entspr. Al­bums zu se­hen sind, gleich für Ir­ri­ta­tio­nen sor­gen. Sa­xo­phon und The­or­be, an­statt Kla­vier – kann das gut ge­hen? Die Rück­sei­te macht dann die ne­ga­ti­ve Vor­ah­nung kom­plett: “nach Schu­bert”. Aber, um die ne­ga­ti­ven Kon­no­ta­tio­nen nicht zu weit zu trei­ben: Die Sa­che ist bes­ser, als sie scheint. Viel besser!

Was als ers­tes auf­fällt in die­ser neu­en “Win­ter­rei­se” nach Schu­bert mit dem Sa­xo­pho­nis­ten Hugo Sieg­me­th, dem Lau­te­nis­ten Axel Wolf und dem Spre­cher Ste­fan Hun­stein: Es wird nicht ad­ap­tiert. Die Kla­vier­stim­me wur­de nicht auf Lau­te und Sa­xo­phon auf­ge­teilt. Bei­de spie­len ei­gen­stän­dig, grei­fen hier und da The­men aus Schu­berts Me­lo­dien auf, va­ri­ie­ren sie aber frei und ver­las­sen sie auch gern. Manch­mal liegt das Auf­grei­fen des Ori­gi­nals auch hin­ter dem Vor­der­grün­di­gen, etwa durch den Ton­art­wech­sel. Das zwei­te, was auf­fällt, ist dass nicht ge­sun­gen wird. Ste­fan Hun­stein spricht die Tex­te, so wie sie als Ge­dicht von Wil­helm Mül­ler ge­schrie­ben wur­den, also auch un­ter Ver­zicht man­cher Wie­der­ho­lun­gen, wie sie die Lied­fas­sung vorsieht.

Keine Berührungsängste

Anzeige Amazon - Reincarnation - Franz Schubert Olivier Messiaen - Karin Kei Nagano - Analekta
An­zei­ge

Man muss Schu­berts Win­ter­rei­se im Ori­gi­nal nicht ken­nen, um die­ses Al­bum mit Ge­nuss zu hö­ren. Doch es scha­det auch nicht, denn so kann man nach Mo­ti­ven und Be­kann­tem fahn­den und sich dar­über freu­en, wie die Mu­si­ker die The­men auf­grei­fen und sich von ih­nen lö­sen. Span­nend ist zu hö­ren, wie sich zwei Mu­si­ker aus un­ter­schied­li­chen mu­si­ka­li­schen Wel­ten nicht nur er­gän­zen, son­dern zu ei­ner ho­mo­ge­nen, ge­mein­sa­men Mu­sik­spra­che fin­den. Das Sa­xo­phon und die Bass­kla­ri­net­te, die nie­mals ihre Her­kunft aus dem Jazz leug­nen, klin­gen an man­chen Stel­len doch sehr klas­sisch, die Lau­te da­ge­gen an nicht we­ni­gen Stel­len sehr mo­dern, etwa in “Gefror’ne Tränen”.

Musik ohne Gesangsirritation

Franz Schubert - Gemälde von Wilhelm August Rieder 1875 - Glarean Magazin
In­spi­ra­tor für Neue Mu­sik: Franz Schu­bert (Ge­mäl­de von Wil­helm Au­gust Rie­der 1875

Über­rascht war ich, als mir auf­fiel, dass ich schon nach we­ni­gen Ma­len Hö­ren der CD gan­ze Stro­phen der Ver­se im Kopf hat­te und aus­wen­dig wie­der­ho­len konn­te. Das ist mir vor­her mit der ori­gi­na­len Schu­bert-Ver­si­on nie pas­siert. Da blieb mal die­se und jene Zei­le hän­gen, nie aber mehr. Die Me­lo­dien schon eher. Mög­lich, dass dies mit den Wie­der­ho­lun­gen, die oft kreuz und quer durch die Stro­phen ge­hen, zu­sam­men­hängt. Viel­leicht auch mit der Mu­sik, die bei Schu­bert doch die Auf­merk­sam­keit auf sich zieht, nicht sel­ten so­gar dann, wenn das Kla­vier nur be­glei­tet. Bei die­ser Fas­sung “nach Schu­bert” ir­ri­tiert die Mu­sik nicht beim Ge­sang. Manch­mal un­ter­bricht der Spre­cher die Mu­sik ab­rupt – und lässt sie in den Sprech­pau­sen zwi­schen den Stro­phen wie­der auf­le­ben. Den “Lin­den­baum”, der es ja in ver­ein­fach­ter Form bis ins Volks­lied­gut ge­bracht hat, habe ich na­tür­lich im Kopf. Die frag­men­tier­te Ein­lei­tung des Te­nor­sa­xo­phons lie­be ich vom ers­ten Hö­ren an, auch, wie es die Stim­me des Spre­chers bei der ers­ten Stro­phe führt, die fast ein An-Sin­gen ist.

Alte und neue Version als je Ganzes

Anzeige Amazon - Nous - Delangle, Delangle, Leroux
An­zei­ge

Ich habe ver­sucht, bei­de Ver­sio­nen im Ver­gleich zu hö­ren, also Lied für Lied. Dar­an habe ich schnell die Lust ver­lo­ren, so nach dem sechs­ten oder sieb­ten Lied. Bei­de Ver­sio­nen sind als Gan­zes zu hö­ren, dann ent­fal­ten sie ihre ei­ge­ne Schön­heit und ins­be­son­de­re die “nach”-Fassung zeigt eine Ei­gen­stän­dig­keit, die nicht den Ver­gleich mit dem Ori­gi­nal su­chen muss. Ge­nau ge­nom­men ist sie sel­ber ein Ori­gi­nal. Dass sie die an­de­re Fas­sung je­doch ver­drängt, muss man nicht befürchten.

Wie man mit al­tem Ma­te­ri­al kon­ge­ni­al um­geht und da­bei Neu­es schafft, zeigt die­ses Al­bum sehr gut, auch, wie man Wel­ten zu­sam­men­führt – etwa Jazz- und Re­nais­sance-Mu­sik. Der feh­len­de Ge­sang stört über­haupt nicht. Ge­spro­chen wirkt der Text an­ders, wird deut­li­cher wahr­ge­nom­men. Müss­te ich ein Al­bum als “Al­bum des Jah­res” aus­zeich­nen, wäre es die­ses für mich, und da­für müss­te ich nicht lan­ge überlegen. ♦

Axel Wolf (Lau­te), Ste­fan Hun­stein (Spre­cher), Hugo Sieg­me­th (Sa­xo­phon): Win­ter­rei­se nach Schu­bert, Oehms Clas­sics (Na­xos)

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Schu­bert und die Mo­der­ne auch über Franz Schu­bert & Jörg Wid­mann: Oktette

… so­wie zum The­ma Mu­sik­ge­schich­te: Das 50-Euro-Preis­rät­sel Mu­sik vom No­vem­ber 2020

Aus­ser­dem zum The­ma Cross­over-Mu­sik mit Sa­xo­phon: Sa­xo­four – Opa­ret­tet den Jazz

Weitere Links zum Thema “Winterreise”

2 Kommentare

  1. Lie­ber Herr Becker,

    viel­leicht habe ich es in mei­ner Re­zen­si­on nicht deut­lich ge­nug ge­sagt: Ich höre Schu­berts Win­ter­rei­se eben­falls gern und das än­dert sich nicht durch die­se Fas­sung. Ich emp­fin­de sie, und das schrieb ich ja auch, als et­was An­de­res und Ei­gen­stän­di­ges. Sie ge­fällt mir trotz­dem (oder ge­ra­de des­we­gen?) aus­ge­spro­chen gut und auch den Text er­le­be ich an­ders. Und ja, die me­lo­di­schen Zi­ta­te gibt es durch­aus, aber sie ma­chen nicht das Haupt­an­lie­gen aus. Man muss noch nicht ein­mal Schu­berts “Ori­gi­nal” ken­nen, um sei­ne Freu­de dar­an zu ha­ben. Die Su­che nach die­sen Zi­ta­ten (oder An­leh­nun­gen) macht Spaß. Mir jedenfalls.

    Vie­len Dank für Ihre Rückmeldung

    Horst-Die­ter Radke

  2. Lie­ber Herr Radke

    Es ist na­tür­lich toll, dass Ih­nen die­ses Al­bum der­art gut ge­fällt. Und dass Sie es so­gar zum “Al­bum des Jah­res” er­he­ben möch­ten… Aber viel­leicht geht da mit Ih­nen doch et­was die Eu­pho­rie durch? Nichts ge­gen Cross­over-Mu­sik, schon gar nicht in der Form Klassik2Jazz. Aber dass die­se neue Trio-Fas­sung die Schu­bert­sche “ver­drän­gen” könn­te, “muss man” ta­säch­lich “nicht be­fürch­ten”. Schu­berts Win­ter­rei­se wird man welt­weit noch tau­send­fach auf­füh­ren, wenn Ste­fan Hun­stein & Co. längst nicht mehr sind…
    Wei­ters lässt mich et­was Ihr Satz stut­zen: “Der feh­len­de Ge­sang stört über­haupt nicht”. Ich mei­ne, den Vo­kal­part mit ei­ner Sprech­stim­me zu er­set­zen läuft der Schu­bert­schen Vor­stel­lung zu­wi­der. Dort sind Ge­sang und Kla­vier eine künst­le­ri­sche Ein­heit. Der Be­griff “Win­ter­rei­se nach Schu­bert” ist in die­sem Zu­sam­men­hang ei­gent­lich falsch (und wohl nur ein PR-Gag). Denn ge­nau ge­nom­men ist das ein­fach eine Neu­ver­to­nung von Wil­helm Mül­lers Ly­rik-Zy­klus. Hat da­durch nur we­nig mit Schu­bert zu tun. Oder sehe ich das falsch? An­ders wäre es ja, wenn die Mu­sik ei­nen ho­hen An­teil von me­lo­di­schen Zi­ta­ten auf­wie­se (?) Das kann ich nicht be­ur­tei­len, ich habe die CD nicht.
    Da­von ab­ge­se­hen aber ein gros­ses Kom­pli­ment für Ih­ren de­tail­liert ab­ge­fass­ten, in­ter­es­san­ten Be­richt. Wahr­schein­lich lege ich mir das Al­bum zu – Ihre Be­spre­chung hat mich neu­gie­rig gemacht!

    Thors­ten Be­cker (Schu­bert-Fan)

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)