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Weg in den Abgrund
von Isabelle Klein
Die guten alten Zeiten sind nun endgültig vorbei. Mit “Olympia” nimmt Volker Kutschers achter Gereon-Rath-Roman an Fahrt auf und knüpft – wenngleich inzwischen ein weiteres Jahr ins Land gegangen ist – mehr oder minder nahtlos an “Marlow” (2018) an. Eine Abwendung vom klassischen Krimi mithin, wie wir ihn seit “Der nasse Fisch” (2008) kennen.
“Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden, das höchste Gut mit Füßen treten?” So die Band PUR in ihrem Lied “Leben” (Abenteuerland, 1998).
Thrillerqualitäten schreibt Kutscher bereits seit “Marlow” groß. Man gewinnt den Eindruck, dass Kutscher im vorliegenden Band – mit dem er langsam, aber sicher an das Ende seiner Serie gelangt (wenn ich nicht irre, hatte er von geplanten neun Teilen gesprochen) – versucht, die Entwicklung von ganz normalen Menschen zu Bestien in Uniform zu zeigen. Und dies unvermittelt, im Kleinen wie im Großen und dadurch umso eindringlicher, auswegloser und beklemmender.
Archetypisches Figuren-Inventar
Da gibt es den Prototyp des Sadisten in Gestalt des uns seit “Akte Vaterland” bekannten SS-Mann Sebastian Tornow, dessen Natur seine Stellung im Sicherheitsdienst widerspiegelt. Des weiteren: Gräf, der alte Freund, der exemplarisch für den guten Kerl, der sich – irgendwo und irgendwie zum Mitläufer mutiert – trotzdem einen Hauch von Menschlichkeit bewahrt. Er verliert allerdings im Vergleich zu den Anfängen, die acht Jahre zurück in Gennats Mordinspektion liegen, deutlich an Sympathie und Menschsein.
Gereon Rath, ebenso archetypisch den Mitläufer repräsentierend, muss sich hingegen eingestehen, dass die Ausübung der Berufung eben nicht mehr problemlos zu rechtfertigen ist, wenn er für den Sicherheitsdienst tätig ist. Und er muss letztlich einsehen, dass Charly in ihrer gefährlichen Arbeit gegen das Regime das Richtige tut. Denn irgendwann kann man auch mit der richtigen Einstellung formal nicht mehr mit dem Strom schwimmen.
Falsches Bild vom Status quo der Welt
Dichotomie: Das weiße, strahlend helle Olympia-Ereignis, die perfekte Selbstinszenierung, wie man sie aus den Filmen von Leni Riefenstahl kennt, bildet den Rahmen für ein Deutschland, das ein vollkommen falsches Bild vom Status Quo der Welt vermittelt. Mittendrin ist Fritze, inzwischen von seinen Adoptiveltern getrennt, für den Jugendehrendienst tätig. Und während ihm alles möglich scheint und er sich im Glanz des Dritten Reiches sonnt, werden die Schattenseiten auch für ihn immer offensichtlicher: Als er Zeuge des Todes eines US-Sportfunktionärs wird, sticht er in ein Wespennest, in dessen Folge sich die Leben seiner Lieben dramatisch verändern werden.
Am Scheitelpunkt eines verkorksten Lebens

Und so ist Kommisar Rath acht Jahre nach seinem unglamourösen Debüt in “Der nasse Fisch” am Scheitelpunkt seines inzwischen ziemlich verkorksten Lebens angelangt.
Großer Pluspunkt von “Olympia”: Man taucht noch tiefer in die unauslotbaren Tiefen der Rath’schen Welt ein, in seinen Alltag und in seine ganz normalen Ehe-Sorgen und Nöte. Dies gelingt nicht zuletzt durch eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, die Kutscher in der ihm eigenen Dichte äußerst glaubwürdig zu vermitteln vermag, ohne einen Hauch von Pathos.
Nachteil des achten Teils, gegenüber den klassischen Kriminalfällen, die Rath und Co. unter Gennat aufklären: Ein in sich nicht wirklich geschlossener Fall, zwei Todesfälle (das ist nur der Anfang), die eben nicht zusammenhängen, und die schließlich zur Katstrophe führen. Dazu eine Erpressung, die im 7. Fall begründet liegt (ehrlich gesagt hab ich mich nur schwerlich erinnert).
Verzeihliche Schwächen im Plot

Trotzdem verzeiht man gewisse Schwächen im Plot und dessen Aufbau als eingefleischter Rath- bzw. Kutscher-Fan quasi sofort. Und so bleibt am Ende, nach einem viel zu kurzem Leseerlebnis nur die Hoffnung auf einen weiteren Teil 2022, der den gnadenlos fiesen Cliffhanger hoffentlich zur Freude des Lesers aufklärt – und falls nicht, die losen Fäden der anderen Figuren zum Abschluss bringt.
Was für mich den Reiz der Serie ausmacht, ist definitiv die Figur des Gereon Rath: Schwer zu fassen, oft mit sich selbst im Unreinen, wandert er zwischen den Welten und verstrickt sich in Machenschaften, die ihn letztlich spätestens in “Marlow” zum Verhängnis werden und im vorliegenden Buch zum unumkehrbaren Wendepunkt führen. Kurzum profitiert Kutschers Serie von der Rath’schen Vielschichtigkeit, die es uns eben verbietet, ihn in ein Korsett aus gut oder böse, aufrecht oder opportun zu stecken. Das Leben ist eben selten schwarzweiß, stattdessen nuanciert, über hell- bis dunkelgrau.
Durch leise Töne eindringlich
Und so überrascht es keineswegs, dass “Olympia” in einem Knall endet – im wahrsten Sinne des Wortes. Und den Prolog, der bereits zu Beginn Böses ahnen lässt, um ein vielfaches steigert. Wo andere recht brav und bieder ihren Kommissar ermitteln lassen im Glanz einer längst vergangen Zeit, testet Kutscher Spielräume aus, lässt seinen Antihelden Fehler über Fehler begehen und ihn dabei trotzdem immer wieder als Held erscheinen. Und ganz im Gegensatz zu Tykwers fürchterlich überzogenem Mainstream-Machwerk “Babylon Berlin“, in dem Exzesse und ein Bilderrausch ungeahnten Ausmaßes das eigentliche (und viel spannendere) Geschehen vollkommen in den Hintergrund treten lassen, ist die Vorlage zwar leiser und unaufgeregter, weniger farbenprächtig, dafür aber ungleich spannender und durch die leisen Töne umso eindringlicher. ♦
Volker Kutscher: Olympia – Kriminal-Roman, 544 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3492070591
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… sowie zum Thema Zeitgeschichtlicher Krimi über Susanne Goga: Der Ballhaus-Mörder
Vielen Dank für diese interessante Buchbesprechung, Frau Klein. Sie informieren und urteilen sehr differenziert über den neuen “Kutscher”!
Ok ich bin ein bisschen befangen, ich liebe diesen Autor einfach… 🙂
Weiter so! Danke: Mia Schwarz