Gisa Pauly: Die Hebamme von Sylt (Roman)

Interessantes Sujet – schlecht realisiert

von Isabelle Klein

In einer stür­mi­schen Som­mer­nacht des Jah­res 1872 wer­den im Haus der Syl­ter Heb­amme Geesche zwei Kin­der gebo­ren, deren künf­ti­ges Leben nicht unter­schied­li­cher ver­lau­fen könnte: Hanna und Elisa. Und 16 Jahre spä­ter hat sich so eini­ges im Leben der Prot­ago­nis­ten anders ent­wi­ckelt als geplant: Gee­sches Ver­lob­ter hat sich das Leben genom­men, und der Leser erfährt recht schnell, dass auf dem Gewis­sen der Heb­amme ein furcht­ba­res Geheim­nis las­tet, das mit der Geburt der bei­den Mäd­chen ver­bun­den ist. Der Bau der Insel­bahn bringt den Tou­ris­mus nach Sylt, und sowohl Geesche als auch Hanna pro­fi­tie­ren davon.

Gisa Pauly - Die Hebamme von Sylt - Roman (Aufbau Verlag)Die Heb­amme beher­bergt den Ham­bur­ger Arzt Leo­nard Nis­sen, der ihr Avan­cen macht. Doch auch Marius Roden­berg, der unehe­li­che Sohn eines Gra­fen, kehrt beruf­lich auf die Insel zurück und umwirbt sie erneut. Pünkt­lich zur Som­mer­fri­sche tref­fen schliess­lich wie­der Graf von Zeder­litz samt Frau und Toch­ter Elisa zum jähr­li­chen Auf­ent­halt auf der Insel ein. Sehr zur Freude Han­nas, die sich als Eli­sas Mäd­chen für alles ein Zubrot ver­dient. Das Ver­häng­nis nimmt sei­nen Lauf durch Han­nas intri­gan­tes Wesen, durch Eli­sas unbe­küm­merte Ver­liebt­heit in Han­nas Stief­bru­der Ebbo – und durch das 16 Jahre zurück­lie­gende grosse Geheim­nis. Doch damit nicht genug: Sogar die Köni­gin Rumä­ni­ens stat­tet der auf­stre­ben­den Insel einen Besuch ab, zu guter Letzt sorgt ein schwarz geklei­de­ter, unheim­li­cher Frem­der für Auf­ruhr und mys­te­riöse Ver­wick­lun­gen; erst wird der Initia­tor des Insel­bahn­baus, ein Dr. Pol­lac­sek beraubt – und dann wird ein Mann ermordet…

Zu viele unverbundene Handlungsstränge

Soweit der Inhalt von Gisa Pau­lys his­to­ri­schem Roman “Die Heb­amme von Sylt” – doch noch sel­ten ist mir der­art schwer gefal­len, den Inhalt die­ser Prosa zusam­men­zu­fas­sen. Es gibt hier ein­fach zu viele unver­bun­dene Hand­lungs­stränge, selbst die erklärte Haupt­fi­gur des Romans, die Heb­amme Geesche bleibt nur eine Prot­ago­nis­tin unter vie­len. Dem­ge­gen­über wird das ange­kün­digte “Geheim­nis” jedem Leser von Beginn an ersicht­lich, ist ledig­lich pla­ka­tive Wer­bung auf dem Cover. Wie gesagt: Die Hand­lung wird durch stän­dige über­flüs­sige Details und viel zu aus­führ­li­che Beschrei­bun­gen per­ma­nent “unter­bro­chen”. Lange Satz­kon­strukte und gleich­zei­tig eine eher simple Spra­che las­sen das Lesen zu einer bel­le­tris­ti­schen Durstre­cke gera­den. Wenn ich aus­führ­lichste Beschrei­bun­gen von Gebäu­den und Hand­lungs­schau­plät­zen möchte, lese ich einen Rei­se­füh­rer, aber zual­ler­letzt einen his­to­ri­schen Roman. Durch exzes­sive Hin­ter­grund­in­for­mie­rung und detail­lier­teste Beschrei­bung kleins­ter Hand­lungs­ab­läufe wie sämt­li­cher mit­wir­ken­den Per­so­nen kann sich die Geschichte Gee­sches nicht wirk­lich ent­fal­ten; hier wäre eine Fokus­sie­rung bzw. Straf­fung des fast 500-sei­ti­gen Tex­tes wich­tig gewesen.

Eindimensionale Zeichnung der Protagonisten

Obschon Gisa Paulys Roman
Obschon Gisa Pau­lys Roman “Die Heb­amme von Sylt” durch­aus inter­es­sant den Schwer­punkt auf die Dar­stel­lung von Sylt wäh­rend des­sen tou­ris­ti­scher Pio­nier­zeit legt, ist von einer Lek­türe abzu­ra­ten, denn wer Wert legt auf einen gut geschrie­be­nen, flüs­sig erzähl­ten, mensch­lich über­zeu­gen­den, span­nungs­reich kon­zi­pier­ten his­to­ri­schen Roman mit leben­di­gen Cha­rak­te­ren und unvor­her­seh­ba­ren “Geheim­nis­sen”, der geht beim neuen “Pauly” lei­der leer aus.

Auch die ande­ren Prot­ago­nis­ten neben der Heb­amme blei­ben blass, noch schlim­mer: ein­di­men­sio­nal gezeich­net. Pauly betreibt hier eine extreme Schwarz-Weiss-Male­rei. Hanna z.B. ist durch­wegs unan­ge­nehm und ver­kom­men; Geesche viel zu fest­ge­fah­ren. Das sind keine “ech­ten” Men­schen, son­dern Sche­mata. Dazu trägt wesent­lich bei, dass die Autorin wei­test­ge­hend auf ein “Innen­le­ben” ihrer Figu­ren ver­zich­tete; Der Leser erfährt prak­tisch nichts über deren Ängste, Sor­gen, Gefühle. Beson­ders abstrus emp­fand ich aber das letzte Vier­tel des Buches: Erst pas­siert hun­derte von Sei­ten bei­nahe nichts, was das Gesche­hen hin auf das “töd­li­che Geheim­nis” vor­an­triebe – und dann auf ein­mal ver­schie­denste Tote. Ein abso­lut hane­bü­che­nes Buch-Ende, ein fina­ler, aber auf­ge­setz­ter Show­down – unglaubwürdig.

Obschon also Gisa Pau­lys His­to­ri­scher Roman “Die Heb­amme von Sylt” durch­aus inter­es­sant den Schwer­punkt auf die Dar­stel­lung von Sylt wäh­rend des­sen tou­ris­ti­scher Pio­nier­zeit legt, ist von einer Lek­türe abzu­ra­ten, denn wer Wert legt auf einen gut geschrie­be­nen, flüs­sig erzähl­ten, mensch­lich über­zeu­gen­den, span­nungs­reich kon­zi­pier­ten his­to­ri­schen Prosa-Text mit leben­di­gen Cha­rak­te­ren und unvor­her­seh­ba­ren “Geheim­nis­sen”, der geht beim neuen “Pauly” lei­der leer aus. ♦

Gisa Pauly, Die Heb­amme von Sylt, Roman, 495 Sei­ten, Rütten&Loening (Auf­bau Ver­lag), ISBN 978-3352008023


Isabelle Klein - Glarean MagazinIsabelle Klein

Geb. 1975 in Würz­burg, Lehr­amts-Staats­examen, Stu­dium der Sozio­lo­gie und Poli­to­lo­gie, zahl­rei­che Online-Bel­le­tris­tik- und Sach­buch-Rezen­sio­nen, lebt in Hannover

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema His­to­ri­scher Roman auch über Sarah Lark: Die Insel der roten Mangroven

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