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Demut, Wahrheit, Schicksal
von Christian Busch
Nachdem sich Biograph Clemens Morgenthaler zuletzt dem belgischen Komponisten Flor Peeters gewidmet hatte, zeichnet er nun Jean Langlais‘ Leben und Werk nach: Die Geschichte eines früh erblindeten Jungen aus einem kleinen bretonischen Dorf, der auf wundersame Weise zu einem gefeierten “Weltstar der Orgelmusik” wurde. Er zeigt sich darin als exquisiter Kenner und Verfechter der französisch-belgischen Orgelschule des 20. Jahrhunderts.
Es ist ein Zeichen von hoher Kultur, wenn in unserer schnelllebigen Zeit posthum Künstlerexistenzen jenseits des Mainstreams und des bewährten Werkekanons in unser Blickfeld geraten. Die Liste prominenter Künstler, ganz gleich ob Maler oder Musiker, die zu Lebzeiten übersehen und erst nach ihrem Tode entdeckt wurden, ist länger, als uns bewusst ist. Vor diesem Hintergrund rückt die jüngst erschienene und sehr verdienstvolle Monographie über den französischen Komponisten und Organisten Jean Langlais (1907-1991) von Clemens Morgenthaler in den Blickpunkt.
Erblindung als schicksalhafte Wendung
Seine präzise und akribisch recherchierte Studie setzt mit Langlais‘ Geburt in der nur 700 Seelen zählenden bretonischen Gemeinde Fontenelle ein. Sein Vater ist Steinmetz, stolzer Bretone und Sozialist, seine ebenso gottesfürchtige Mutter Schneiderin, beide ohne musikalische Bildung und künstlerische Ambitionen. Ihr Haus liegt unmittelbar neben der Dorfkirche, in welcher der kleine Jean frühe musikalische Inspiration durch gregorianische Choräle, aber auch durch folkloristische Klänge bretonischer Mystik und Spiritualität erhalten haben dürfte.
Seine Erblindung im Alter von zwei Jahren, Folgen einer damals noch nicht heilbaren Glaukom-Erkrankung, dürfte – so Morgenthaler – wesentlich zu seiner beruflichen Weichenstellung vom vorgezeichneten Steinmetz zum späteren Meister der Orgelmusik beigetragen haben. Erste Samen seiner frühkindlichen Bildung, die damals in einem kleinen Bauerndorf noch nicht an seine Behinderung angepasst werden konnte, dürfte er von seiner Großmutter, die erst im Alter von 60 Jahren für ihren erblindeten Enkel das Lesen erlernte, erhalten haben, die ihn religiös und musikalisch unterwies.
Die entscheidende Schicksalswendung indes stellte wohl die Idee seines Cousins Jules dar, der – Berufsoffizier der französischen Armee – Jean 1917 ein Stipendium in der weitbekannten Blindenschule, dem Institut National des Jeunes aveugles de Paris (INJA) besorgte und ihn finanziell aus eigener Tasche unterstützte. Ein Meilenstein auf dem Weg des kleinen blinden Jungen zu einem erfolgreichen Organisten, Komponisten und Pädagogen.
Studium und Werdegang

In der Folge zeichnet Morgenthaler nun, reich illustriert und dokumentiert, die Stationen von Langlais‘ Werdegang nach, seine Anfänge als Violinist, seine Liebe zur Orgel, seine Lehrer und Vorbilder (u.a. Marcel Dupré, Charles Tournemire, Paul Dukas). Dabei wird deutlich, welches Maß an Fleiß und Disziplin erforderlich ist, ohne Sehkraft musikalisch und künstlerisch gefördert und ausgebildet zu werden.
1932 tritt Langlais seine erste Stelle als Titular-Organist einer Kirche im Norden von Paris an. Doch es wird noch Jahre dauern, bis er 1945 die Nachfolge seines 1939 verstorbenen, verehrten Lehrers und Vorbildes Charles Tournemire an der Cavaillé-Coll-Orgel der Pariser Pfarrkirche Sainte-Clotilde antreten wird – eine Stelle, die er bis 1987 ausüben konnte, und die ihn nun als herausragenden Protagonisten im erlauchten Kreis der weltberühmten Pariser Organisten positionierte.
Komponist, Interpret und Pädagoge
Von dort wird Jean Langlais, der sich in erster Linie als Komponist sah, seine vielfältigen Tätigkeiten ausüben. Sein umfangreiches Werk (254 Werke für Orgel, Kammermusik, Gesang und Orchester) steht der eher impressionistisch-introvertierten, von der Gregorianik beeinflussten und stärker liturgisch-orientierten Richtung nahe. Es ist stark von Langlais‘ katholischem Glauben und seiner bretonischen Herkunft beeinflusst, was ihn als tief in der Kultur seiner durchaus als glücklich empfundenen Kindheit verwurzelt zeigt.
Morgenthaler verweist in diesem Zusammenhang auf die weitreichenden Parallelen zum Werk des belgischen Komponisten Flor Peeters und skizziert drei Schaffensperioden in seinem Werk, das zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhielt (u.a. Officier de La Légion d’honneur 1968 von Olivier Messiaen). Das stete Credo seiner Kompositionen war es, Gott zu feiern und zu verherrlichen (“Pulchrum quasi splendor veritatis” – “Das Schöne ist gleichsam der Glanz der Wahrheit”).
Neben Langlais‘ Lehrtätigkeit (INJA, Pariser Schola Cantorum) gilt auch ein Kapitel seiner Tätigkeit als Interpret, die ihn als konzertierenden Organisten nicht nur in Frankreich und Europa verortet, sondern zahlreiche, erfolgreiche Konzertreisen nach Kanada und Nordamerika unternehmen lässt.

Persönlichkeit
Eng auf seinen Spuren, aber Langlais niemals zu nahe tretend, zeichnet Morgenthaler ein feines und stimmiges Portrait des bretonischen Musikers, dessen Leben und Werk untrennbar miteinander verbunden sind. Sein sowohl demütiges, tief religiöses, aber auch lebensfrohes Wesen machten aus ihm – trotz seiner Beeinträchtigung – einen schaffensreichen und zufriedenen Menschen, der auch privat beleuchtet wird. Aus seiner Ehe mit der Malerin Jeanne Langlais (1931), die ihre eigenen Bedürfnisse ihrem Mann und seiner Berufung unterordnete, entstammte eine adoptierte Tochter und ein leiblicher Sohn Claude, der ihm später drei Enkel bescherte. Nach dem Tod seiner Frau (1979) heiratete Langlais seine ehemalige Schülerin Marie-Louise Jacquet, die ihm im hohen Alter noch eine Tochter schenkte, und bis heute sein Erbe – getreu dem auch für ihn geltenden augustinischen Grundsatz “Demut ist Wahrheit” verwaltet.
Gelungene Monographie
Die umfangreich dokumentierte und illustrierte Monographie lässt keine Wünsche offen, sondern lässt aus einer unumwunden zugebenen Verehrung ein geschlossenes und vielfältiges Bild einer faszinierenden Künstlerpersönlichkeit entstehen. Das sehr klar und übersichtlich gegliederte Buch, das auch sprachlich sehr ansprechend geraten ist, liefert darüber hinaus eine Vielzahl von Informationen (Auflistung sämtlicher Werke, chronologische Biographie, Diskographie) und lädt damit sehr nachdrücklich und überzeugend zur Beschäftigung mit dem Komponisten und seinem Werk ein. Eine in höchstem Maße verdienstvolle, gelungene und empfehlenswerte Neuerscheinung! ♦
Clemens Morgenthaler: Jean Langlais – Leben und Werk des Komponisten, Organisten und Pädagogen, 220 Seiten, Wißner Verlag, ISBN 978-3957863041
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Orgelmusik auch über “Leichte Orgel-Stücke des 19. Jahrhunderts“
… sowie über Kurt Estermann: Missa brevis für Chor und Orgel
Schöne Besprechung – und die grosse Persönlichkeit Langlais! Wird völlig noch immer unterschätzt!
Ein guter Einblick in seine Orgel-Künste: https://www.youtube.com/watch?v=xgnOvTIdry8&ab_channel=FraserGartshore
Es war höchste Zeit, dass dieses Genie mal auch deutsch ausführlich in einer Biographie behandelt wurde.
Danke für die Rezension, Herr Busch!
Karlheinz B. (Zürich)