Musik-Psychologie: Klang und Timing (Studie)

Das rhythmische Zentrum des Klangs

von Walter Eigenmann

Für un­se­ren Ge­samt­ein­druck von Mu­sik ist es sehr wich­tig, dass die De­tails stim­men”, sagt die Mu­sik­wis­sen­schaft­le­rin Anne Da­ni­el­sen vom RIT­MO-Zen­trum für in­ter­dis­zi­pli­nä­re Stu­di­en über Rhyth­mus, Zeit und Be­we­gung an der Uni­ver­si­tät Oslo. Ge­mein­sam mit ih­rem For­scher­kol­le­gen Guil­her­me Schmidt Câ­ma­ra sucht sie in ih­rem For­schungs­pro­jekt “Ti­ming und Sound” nach Ant­wor­ten auf die­se De­tails: “In Be­zug auf Klang und Ti­ming gibt es ei­ni­ge Grund­re­geln, an die sich die meis­ten Mu­sik­schaf­fen­den hal­ten. Nur we­ni­ge wis­sen je­doch, was sie rhyth­misch tat­säch­lich tun, um es rich­tig klin­gen zu lassen”.

Wenn wir mit Mu­si­kern und Pro­du­zen­ten spre­chen, wird klar, dass sie die Klän­ge ein­fach au­to­ma­tisch an­pas­sen, um das rich­ti­ge Ti­ming zu er­rei­chen – das ist eine Form von im­pli­zi­tem Wis­sen”, sagt Câ­ma­ra. Um nun die­ses Wis­sen ex­pli­zi­ter zu ma­chen, ha­ben die For­scher die Fak­to­ren un­ter­sucht, die be­ein­flus­sen, wann wir ein Klang­ge­sche­hen wahr­neh­men. Sie ha­ben ein Mus­ter ge­fun­den und fest­ge­stellt, dass un­se­re Wahr­neh­mung des Ti­mings eng mit der Qua­li­tät des Klangs zu­sam­men­hängt – ob er nun weich oder scharf, kurz oder lang und wa­cke­lig ist oder nicht.

Wann “geschieht” ein Ton?

Anne Danielsen und Guilherme Schmidt Camara - Musikwissenschaftler Oslo Norway - Glarean Magazin
Prof. Dr. Anne Da­ni­el­sen und Guil­her­me Schmidt Camara

Es ist wich­tig, die Klän­ge al­ler In­stru­men­te so zu ti­men, dass die Mu­sik gut klingt, aber die ver­schie­de­nen Töne wer­den nicht un­be­dingt ge­spielt, wenn man sie hört. “Wis­sen­schaft­ler sind bis­her da­von aus­ge­gan­gen, dass wir das Ti­ming zu Be­ginn ei­nes Klangs wahr­neh­men, ha­ben aber nicht kri­tisch dar­über re­flek­tiert, was pas­siert, wenn die Klän­ge un­ter­schied­li­che For­men ha­ben”, sagt Da­ni­el­sen. Denn ein Klang habe ein rhyth­mi­sches Zen­trum: “Wenn Sie sich eine Schall­wel­le vor­stel­len, be­fin­det sich die­ses Zen­trum in der Nähe der Spit­ze der Wel­le, und Ihre Wahr­neh­mung, wo sich der Schall zeit­lich be­fin­det, ist tat­säch­lich dort oben, und nicht dort, wo er beginnt.

Rhythmische Zentren verschiedener Klänge

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Wenn der Ton scharf ist, fällt der An­fang mit die­sem rhyth­mi­schen Zen­trum zu­sam­men. Bei ei­nem län­ge­ren und wa­cke­li­ge­ren Klang neh­men wir wahr, dass sich das Zen­trum lan­ge nach dem ei­gent­li­chen Be­ginn des Klangs befindet.
Um ei­nen Takt zu schla­gen oder zu­sam­men in ei­ner Band zu spie­len, müs­sen sich die Mu­si­ker auf­ein­an­der ein­stim­men, um es rich­tig zu ma­chen: “Wenn man ei­nen lei­sen Klang hat und möch­te, dass er ge­nau auf dem Schlag zu hö­ren ist, dann muss man ihn et­was frü­her plat­zie­ren, da­mit man ihn auch so er­le­ben kann”, sagt Danielsen.

Experimente zu den Strategien der Musiker

Um dies zu un­ter­su­chen, hat Câ­ma­ra kon­trol­lier­te Ex­pe­ri­men­te mit er­fah­re­nen Gi­tar­ris­ten, Bas­sis­ten und Schlag­zeu­gern durch­ge­führt. Ih­nen al­len wur­de eine rhyth­mi­sche Re­fe­renz ge­ge­ben, ein ein­fa­ches Groo­ve-Pat­tern, das in vie­len Gen­res zu fin­den ist. Dann wur­den sie ge­be­ten, auf drei ver­schie­de­ne Ar­ten mit­zu­spie­len: Ent­we­der di­rekt im Takt, ein we­nig hin­ter oder ein we­nig vor dem Takt”, er­klärt sie. Auf die­se Wei­se konn­te sie tes­ten, wie sie das Ti­ming der ver­schie­de­nen Klän­ge wahr­neh­men und wie sie spie­len, um die Klän­ge auf ei­nen Takt zu ti­men. Nach den Ex­pe­ri­men­ten frag­ten sie die Mu­si­ker, was sie ver­sucht hatten.

Klang dem Timing angepasst

Musikwissenschaft - Studie Klang und Timing 2020 - Orchester-Streicher-Gruppe - Glarean Magazin
Ob Sam­ba, Sin­fo­nik oder Hip-Hop: “Je­des Gen­re hat sein cha­rak­te­ris­ti­sches mi­kro­rhyth­mi­sches Pro­fil und sei­ne grund­le­gen­den psy­cho­akus­ti­schen Regeln”

Die­se be­nutz­ten ihre ei­ge­nen Wor­te, in­dem sie sa­gen, dass sie “lang­sa­mer” oder “stär­ker” spie­len, wenn sie nach dem Takt zie­len. “Dies passt gut zu dem, was wir als ein Mus­ter der Be­ein­flus­sung des Klangs und nicht nur sei­nes Orts se­hen”, meint Da­ni­el­sen. Sie weist dar­auf hin, dass das Ti­ming des ei­ge­nen Spiels nach ei­nem Takt et­was ist, das alle Mu­si­ker üben, also et­was, wor­über je­der nach­denkt. “Sie sind sich je­doch viel we­ni­ger be­wusst, wie sie den Klang nut­zen, um Ti­ming-Un­ter­schie­de zu kommunizieren”.

Musiker manipulieren Klang und Zeit

Die For­scher glau­ben, dass un­se­re Wahr­neh­mung von Schall in der Zeit auf grund­le­gen­den psy­cho­akus­ti­schen Re­geln be­ruht, also dar­auf, wie das Ge­hirn Schall­si­gna­le wahr­nimmt. Alle Mu­si­ker be­rück­sich­ti­gen die­se mehr oder we­ni­ger fest­ge­leg­ten Re­geln, aber wie sie das tun, hängt da­von ab, in wel­ches Gen­re ihr Spiel fällt.
“Je­des Gen­re hat ein cha­rak­te­ris­ti­sches mi­kro­rhyth­mi­sches Pro­fil. Sam­ba hat sein ei­ge­nes, EDM hat sein ei­ge­nes, Hip-Hop hat ein an­de­res”, sagt Danielsen.

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“Mu­si­ker am Com­pu­ter er­hö­hen rhyth­mi­sche Prä­zi­si­on durch Jon­glie­ren mit den Klängen”

Bei der Mu­sik­pro­duk­ti­on sieht der Pro­du­zent den Klang vor sich auf dem Bild­schirm und kann die Mu­sik dre­hen und wen­den, in­dem er die Be­zie­hung der Klän­ge zu­ein­an­der be­wegt: “Pro­du­zen­ten, die am Com­pu­ter ei­nen Groo­ve er­zeu­gen, wis­sen das. Sie be­we­gen Klän­ge im Takt hin und her und den­ken: ‘Wenn ich ihn dort hin­stel­le, funk­tio­niert er, und wenn ich ihn dort hin­stel­le, funk­tio­niert er nicht’. Sie ler­nen also durch Er­fah­rung, und wenn et­was prä­zi­se klin­gen soll, müs­sen sie mit den Klän­gen ein biss­chen her­um jonglieren”.

Die menschliche Qualität in der KI-Musik

Die nor­we­gi­schen For­scher glau­ben, dass un­ser Wis­sen dar­über, wie ver­schie­de­ne Ar­ten von Schall das Ti­ming be­ein­flus­sen, zur Ent­wick­lung von Soft­ware ge­nutzt wer­den könn­te, die künst­li­che In­tel­li­genz zur Er­zeu­gung von Mu­sik ver­wen­det. “Wir kön­nen eine Se­quenz be­reits groo­vi­ger und mensch­li­cher ge­stal­ten, so dass sie nicht völ­lig me­cha­nisch klingt. Wenn wir mit ei­nem pro­gram­mier­ten Takt be­gin­nen, dann kön­nen die Al­go­rith­men die Klän­ge leicht be­we­gen, um den Stil zu be­ein­flus­sen. Wenn der Al­go­rith­mus auch die Form des Klangs be­rück­sich­tigt, kön­nen wir eine noch brei­te­re Pa­let­te an rhyth­mi­schen Be­din­gun­gen er­hal­ten, die die Mu­sik auf äs­the­tisch an­spre­chen­de­re Wei­se ge­stal­ten kön­nen”, sagt Câmara.

Spielraum für Fehler

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Denn wenn wir live spie­len, wol­len wir ei­nen Spiel­raum für Feh­ler, wir sind kei­ne Ma­schi­nen: “Es gibt im­mer ein ge­wis­ses Mass an Asyn­chro­ni­tät”, sagt Câ­ma­ra, der selbst Mu­si­ker ist. Ob­wohl es sich um win­zi­ge Ver­schie­bun­gen hand­le, habe der Mensch ein ge­schul­tes Ohr da­für, mit Hil­fe von Schall et­was in der Zeit zu plat­zie­ren: “In man­chen Kon­tex­ten kön­nen 10 bis 20 Mil­li­se­kun­den aus­rei­chen, um ei­nen Un­ter­schied zu hö­ren. Wir müs­sen uns des­sen nicht völ­lig be­wusst sein, aber wir kön­nen es fühlen”.

Anne Da­ni­el­sen weist dar­auf hin, dass dies nicht nur für Men­schen gilt, die mit Mu­sik ar­bei­ten. “Im Ver­gleich zu dem, was wir mit un­se­ren Au­gen wahr­neh­men, ist un­se­re Prä­zi­si­on in Be­zug auf Zeit und Klang äu­ßerst prä­zi­se. Das macht uns sehr emp­find­lich für räum­li­che Klang­un­ter­schie­de. Aber auch beim Hö­ren von Stim­men­un­ter­schie­den – ob je­mand wü­tend, trau­rig, glück­lich oder ver­är­gert ist – ver­wen­den wir fein­ma­schi­ge Au­dio­in­for­ma­tio­nen, um zu in­ter­pre­tie­ren, was die­se Stim­me tat­säch­lich ver­mit­telt”, sagt sie. “Es mag un­glaub­lich klein und un­be­deu­tend er­schei­nen, aber in Wirk­lich­keit ist es eine sehr wich­ti­ge In­for­ma­ti­on für uns”.

Musik fordert sensorische Grenzen heraus

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“Wenn man ei­nen lei­sen Klang hat und möch­te, dass er ge­nau auf dem Schlag zu hö­ren ist, dann muss man ihn et­was frü­her plat­zie­ren, da­mit man ihn auch so er­le­ben kann”

Da­ni­el­sen ist der Mei­nung, dass die Tat­sa­che, dass die Mu­sik­for­schung uns in die Lage ver­setzt hat, psy­cho­akus­ti­sche Re­geln zu ent­de­cken, die sich dar­auf be­zie­hen, wie das mensch­li­che Ge­hirn Schall wahr­nimmt, et­was über die Be­deu­tung der Mu­sik­for­schung aus­sagt. “Wir tun in der Mu­sik ex­tre­me Din­ge. In­dem wir die Gren­zen des­sen aus­lo­ten, was wir äs­the­tisch an­spre­chend fin­den kön­nen, tes­ten wir auch un­se­ren Wahr­neh­mungs­ap­pa­rat. Man könn­te sa­gen, dass Mu­sik stän­dig mit un­se­ren Sin­nen ex­pe­ri­men­tiert. Des­halb ist Mu­sik ein gu­tes For­schungs­the­ma, um her­aus­zu­fin­den, wie wir Klang wahr­neh­men, wie wir zu­hö­ren und wie wir ihn zeit­lich strukturieren”. ♦

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