Neurowissenschaft: Musik als soziales Experimentierfeld

Herzen im gruppendynamischen Gleichtakt

von Walter Eigenmann

Im All­tag sind be­kannt­lich Grup­pen- und Zu­sam­men­ar­beit von gros­ser Be­deu­tung. Wel­chen po­si­ti­ven Ein­fluss auf die phy­sio­lo­gi­sche, psy­chi­sche und so­zia­le Syn­chro­ni­tät der Men­schen kann da­bei die Mu­sik ent­wi­ckeln? Über die Wech­sel­wir­kung von Mu­sik und Zu­sam­men­ar­beit gibt eine neue Stu­die zum The­ma “Mu­sik als so­zia­les Ex­pe­ri­men­tier­feld” der Bar-Ilan-Uni­ver­si­tät im is­rae­li­schen Ra­mat Gan Auskunft.

In der Chor­mu­sik ist das Phä­no­men längst be­kannt: Beim ge­mein­sa­men Mu­si­zie­ren be­gin­nen die Her­zen der Sän­ge­rin­nen und Sän­ger nach kur­zer Zeit in ei­nen Gleich­takt zu ver­fal­len. Nicht zu­letzt die mu­si­ka­lisch syn­chro­ni­sier­te At­mung löst hier den Ef­fekt aus.
Doch wie funk­tio­niert eine sol­che er­höh­te phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­tät aus­ser­halb vor­ge­ge­be­ner mu­si­ka­li­scher Ziel­set­zun­gen? Und wel­che Auf­ga­ben­aspek­te der Herz­funk­ti­on kön­nen durch eine sol­che be­wuss­te Syn­chro­ni­tät die Grup­pen­leis­tung verbessern?

Herzen, die zusammen trommeln, schlagen zusammen”

Herz-Synchronisation durch Musik - Glarean Magazin
Grup­pen­dy­na­mi­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on der Her­zen durch Musik-Rhythmen

Die in­ter­dis­zi­pli­nä­re is­rae­li­sche Stu­die, ver­öf­fent­licht in der wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift “Sci­en­ti­fic Re­ports”, be­rich­tet über die Ent­de­ckung, dass beim Zu­sam­men­trom­meln Aspek­te der Herz­funk­ti­on von Grup­pen­mit­glie­dern – ins­be­son­de­re das Zeit­in­ter­vall zwi­schen den ein­zel­nen Schlä­gen (IBI) – syn­chro­ni­siert werden.
Die­se phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on wur­de wäh­rend ei­ner neu­ar­ti­gen mu­si­ka­li­schen Trom­mel­auf­ga­be auf­ge­zeich­net, die spe­zi­ell für die Stu­die in ei­ner Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen So­zi­al-Neu­ro-Wis­sen­schaft­lern und Wis­sen­schaft­lern der Mu­sik­ab­tei­lung ent­wi­ckelt wurde.

51 Gruppen mit je drei Teilnehmern

An dem Schlag­zeug­spiel nah­men 51 Grup­pen mit drei Teil­neh­mern teil, in de­nen IBI-Da­ten kon­ti­nu­ier­lich ge­sam­melt wur­den. Die Teil­neh­mer wur­den ge­be­ten, ihr Schlag­zeug­spiel – auf ein­zel­nen Schlag­zeug­pads in­ner­halb ei­nes elek­tro­ni­schen Schlag­zeugsets, das von der Grup­pe ge­mein­sam be­nutzt wur­de – an ein Tem­po an­zu­pas­sen, das der Grup­pe über Laut­spre­cher prä­sen­tiert wurde.
Für die Hälf­te der Grup­pen war da­bei das Tem­po kon­stant und vor­her­seh­bar, so dass das dar­aus re­sul­tie­ren­de Schlag­zeug­spiel und sein Out­put syn­chron sein soll­ten. Bei der an­de­ren Hälf­te än­der­te sich das Tem­po stän­dig und war prak­tisch nicht nach­voll­zieh­bar, so dass das dar­aus re­sul­tie­ren­de Trom­meln und der mu­si­ka­li­sche Out­put asyn­chron sein sollten.
Die­se Auf­ga­ben­stel­lung er­mög­lich­te es den For­schern, den Grad der Ver­hal­tens­syn­chro­ni­sa­ti­on beim Trom­meln zwi­schen den Grup­pen­mit­glie­dern zu ma­ni­pu­lie­ren und die Dy­na­mik der Ver­än­de­run­gen des IBI für je­den Teil­neh­mer wäh­rend des ge­sam­ten Ex­pe­ri­ments zu beurteilen.

Gezielter physiologischer Gleichtakt

Anzeige Amazon: Musik und Medizin - Chancen für Therapie, Prävention und Bildung - Günther Bernatzky, Günter Kreutz - Springer Verlag
An­zei­ge

Im An­schluss an die­se struk­tu­rier­te Trom­mel­auf­ga­be wur­den die Teil­neh­mer ge­be­ten, das Trom­meln frei mit­ein­an­der zu im­pro­vi­sie­ren. Die Grup­pen mit ho­her phy­sio­lo­gi­scher Syn­chro­ni­tät in der struk­tu­rier­ten Auf­ga­be zeig­ten in der frei­en Im­pro­vi­sa­ti­ons­sit­zung mehr Ko­or­di­na­ti­on beim Trommeln.

Die Ana­ly­se der Da­ten zeig­te, dass die Trom­mel­auf­ga­be in den Grup­pen eine phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on her­vor­rief, die über das hin­aus­ging, was zu­fäl­lig er­war­tet wer­den konn­te. aus­ser­dem las­sen die Ver­hal­tens­syn­chro­ni­sa­ti­on und die ver­bes­ser­te phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on beim Trom­meln je­weils auf ein­zig­ar­ti­ge Wei­se eine er­höh­te Er­fah­rung von Grup­pen­zu­sam­men­halt vor­aus­sa­gen. Und schliess­lich zeig­ten die For­scher, dass eine hö­he­re phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­tät auch eine er­höh­te Grup­pen­leis­tung zu ei­nem spä­te­ren Zeit­punkt bei ei­ner an­de­ren Grup­pen­auf­ga­be vorhersagt.

Aus Synchronität resultiert Kooperationsfähigkeit

Ilanit Gordon - Psychologin - Neurowissenschaftlerin - Israel - Glarean Magazin
“Ver­stärk­tes Ge­fühl des Zu­sam­men­halts zwi­schen Grup­pen­mit­glie­dern”: Neu­ro­wis­sen­schaft­le­rin Ila­nit Gordon

Un­se­re Er­geb­nis­se prä­sen­tie­ren ei­nen mul­ti­mo­da­len ver­hal­tens­be­zo­ge­nen und phy­sio­lo­gi­schen Be­richt dar­über, wie die Syn­chro­ni­sa­ti­on zur Bil­dung der Grup­pen­bin­dung und der dar­aus fol­gen­den Ko­ope­ra­ti­ons­fä­hig­keit bei­trägt”, sagt Dr. Ila­nit Gor­don, Lei­te­rin des La­bors für so­zia­le Neu­ro­wis­sen­schaf­ten an der Psy­cho­lo­gi­schen Fa­kul­tät der Bar-Ilan-Uni­ver­si­tät. “Eine Ma­ni­pu­la­ti­on der Ver­hal­tens­syn­chro­ni­tät und der sich ab­zeich­nen­den phy­sio­lo­gi­schen Ko­or­di­na­ti­on in IBI zwi­schen Grup­pen­mit­glie­dern sagt ein ver­stärk­tes Ge­fühl des Zu­sam­men­halts zwi­schen den Grup­pen­mit­glie­dern voraus”.

Musik als experimentelle Plattform der sozialen Interaktion

Musik-Therapeut Avi Gilboa - Music Therapy - Musikwissenschaftler Israel - Glarean Magazin
“Mu­sik als ex­pe­ri­men­tel­le Platt­form der so­zia­len In­ter­ak­ti­on”: The­ra­peut Avi Gilboa

Co-Au­tor der Stu­die Prof. Avi Gil­boa for­mu­liert die Per­spek­ti­ven der For­schungs­er­geb­nis­se noch wei­ter­ge­hend: “Wir glau­ben, dass das ge­mein­sa­me Mu­si­zie­ren eine viel­ver­spre­chen­de ex­pe­ri­men­tel­le Platt­form für die Um­set­zung öko­lo­gi­scher und voll­stän­dig in­ter­ak­ti­ver Sze­na­ri­en dar­stellt, die den Reich­tum und die Kom­ple­xi­tät der mensch­li­chen so­zia­len In­ter­ak­ti­on er­fas­sen. Die­se Er­geb­nis­se sind auf­grund der ent­schei­den­den Wich­tig­keit von Grup­pen für das Han­deln, die Iden­ti­tät und den so­zia­len Wan­del in un­se­rer Welt von be­son­de­rer Bedeutung”.

Quel­le Bar-Ilan Uni­ver­si­tät: “Her­zen, die zu­sam­men trom­meln, schla­gen zu­sam­men – Grup­pen­trom­meln sti­mu­liert die ver­hal­tens­mäs­si­ge und phy­sio­lo­gi­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on, die zur Bil­dung so­zia­ler Bin­dun­gen und ei­ner dar­aus fol­gen­den Ko­ope­ra­ti­ons­fä­hig­keit bei­trägt”, Is­ra­el 2020 ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mu­sik und Me­di­zin über neue For­schungs­er­geb­nis­se be­züg­lich Mu­sik in der Gruppe

… so­wie zum The­ma Mu­sik und Ge­sund­heit über Stress­re­du­zie­rung durch Musikhören

Ich un­ter­stüt­ze das eh­ren­amt­li­che Kul­tur-Pro­jekt Glarean Ma­ga­zin mit ei­ner Spen­de:

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)