Gennadi Sosonko: Genna Remembers (Schach-Erinnerungen)

Spannende Schach-Geschichte(n)

von Thomas Binder

Gen­nadi Sosonko schil­dert in “Genna Remem­bers” vor allem die Lebens­ge­schich­ten von (vor­wie­gend sowje­ti­schen) Schach­meis­tern, denen er in sei­nem Leben dies- und jen­seits des “Eiser­nen Vor­hangs” begeg­net ist. So ent­ste­hen far­bige Lebens­bil­der, die uns bekannte und weni­ger bekannte Per­so­nen der Schach­szene mit ihren Stär­ken und Schwä­chen näher bringen.

Gennadi Sosonko: Genna RemembersGroß­meis­ter Gen­nadi Sosonko war einer der ers­ten sowje­ti­schen Schach­spie­ler, die in der Hoch-Zeit des Kal­ten Krie­ges einen Tur­nier­auf­ent­halt nutz­ten, im Wes­ten zu blei­ben. War er in der UdSSR einer unter vie­len, gehörte er spä­ter in sei­ner hol­län­di­schen Wahl­hei­mat lange zur natio­na­len Spitze, ver­trat die Nie­der­lande z.B. bei elf Schacholympiaden.

Nach dem Ende sei­ner akti­ven Kar­riere hat es sich “Genna” zur Auf­gabe gemacht, seine Erin­ne­run­gen zu Papier zu brin­gen und die Ein­drü­cke jener Zeit für die Nach­welt zu erhal­ten. Mit “Genna Remem­bers” liegt nun­mehr bereits das fünfte Werk die­ser Art vor. Dabei von einer Auto­bio­gra­phie zu spre­chen, wäre zu knapp gefasst. Sosonko berich­tet zwar sehr wohl “aus ers­ter Hand”, also aus eige­nem Erle­ben – er bleibt aber immer nur Rand­fi­gur und stellt andere Per­sön­lich­kei­ten in den Mittelpunkt.

Hervorragend in der Szene vernetzt

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Um es vor­weg zu neh­men: Die Lek­türe von “Genna Remem­bers” hat bei mir den Wunsch geweckt, nach und nach die vier vor­he­ri­gen Titel lesen zu wollen.
Sosonko ist offen­bar her­vor­ra­gend in der Schach­szene ver­netzt – glei­cher­ma­ßen unter den in den Wes­ten emi­grier­ten Meis­tern, wie unter jenen, die in der Sowjet­union ver­blie­ben waren. Seine per­sön­li­che Inte­gri­tät und Men­schen­kennt­nis eröff­net ihm detail­lierte Ein­bli­cke in die Lebens­ge­schichte sei­ner Gesprächs­part­ner, die er stets mit einem gesun­den Maß von Nähe und Distanz auf­be­rei­tet. Selbst dort, wo die Nach­rich­ten nicht ganz so schmei­chel­haft sind – es soll auch Schach­groß­meis­ter mit Alko­hol­pro­ble­men geben – bleibt er immer wür­de­voll, wird nie ver­let­zend oder bloß­stel­lend. Dabei pro­fi­tiert unser Autor davon, dass er sowohl die schach­li­che als auch die all­täg­li­che Lebens­wirk­lich­keit auf bei­den Sei­ten des Eiser­nen Vor­hangs ken­nen­ge­lernt hat.

Umfassendes Wissen

Gennadi Sosonko - Genna Remembers - Beispiel-Seite - Thinkers Publishing - Rezension Glarean Magazin
Bei­spiel-Seite aus “Genna Remem­bers” von Gen­nadi Sosonko (S. 196)

Eine (wohl unfrei­wil­lige) Doku­men­ta­tion sei­nes Anse­hens wie sei­nes umfas­sen­den Wis­sens ent­hüllt die fol­gende kleine Anekdote:
Die sowje­ti­schen Groß­meis­ter wur­den auf Aus­lands­rei­sen von einem “Auf­pas­ser” des Geheim­diens­tes KGB beglei­tet. Beim Ban­kett nach einem Tur­nier näherte sich der große Andor Lili­en­thal die­sem Mann: “Ich denke, ich bin hier mit jeder­mann bekannt, außer – ent­schul­di­gen Sie – mit Ihnen. Sind Sie ein Großmeister?”
Der KGB-Major ant­wor­tete: “Warum fra­gen Sie nicht Genna? Er hat schon dar­über geschrie­ben. Er wird mich kennen.”
Sel­ten ist wohl ein Sowjet-Dis­si­dent vom KGB selbst so geadelt worden…

Breites Spektrum bekannter Namen

Entspannte Sowjet-Protagonisten im amerikanischen Exil: Alburt, Gulko, Shamkovich (New York 1988)
Ent­spannte Sowjet-Prot­ago­nis­ten im ame­ri­ka­ni­schen Exil: Alburt, Gulko, Sham­ko­vich (New York 1988)

Im Mit­tel­punkt der 15 Kapi­tel steht meist eine ein­zelne Per­sön­lich­keit. Einige Bei­spiele sol­len zei­gen aus wel­chem brei­ten Spek­trum bekann­ter bzw. weni­ger bekann­ter Namen hier geschöpft wird:
• Igor Iwa­now (1947 – 2005), der sich 1980 nach Kanada absetzte
• Leo­nid Scham­ko­witsch (1923 – 2005), seit 1974 im Westen
• Arn­fried Pagel (gest. 2015), umtrie­bi­ger nie­der­län­di­scher Schachmäzen
• Ser­gej Niko­la­jew (1961 – 2007), jaku­ti­scher Schach­meis­ter und Unter­neh­mer, 2007 ermordet
• Juri Rasu­wa­jew (1945 – 2012)
• Wik­tor Kupreit­schik (1949 – 2017)
• Mark Tai­ma­now (1926 – 2016)

Sosonko stellt uns diese und wei­tere Per­so­nen in facet­ten­rei­chen Por­träts vor, meist aus unmit­tel­bar erleb­tem Kon­takt und ange­rei­chert mit vie­len klei­nen Geschich­ten. So ent­steht vor uns ein leben­di­ges Bild vom gan­zen Wesen die­ser Schach­spie­ler mit all ihren Stär­ken und Schwä­chen – viel bes­ser, als es eine auf Voll­stän­dig­keit bedachte Bio­gra­phie leis­ten könnte. Die rein schach-sport­li­chen Aspekte tre­ten dabei zurück, Tur­nier­er­geb­nisse wer­den nur am Rande gestreift, wo sie das Gesche­hen direkt beein­flus­sen. Par­tie­frag­mente sind sehr sel­ten. Sie wer­den wirk­sam prä­sen­tiert, aber schach­ana­ly­tisch nur spar­sam kom­men­tiert. Selbst hier tritt der Schach­spie­ler hin­ter den Men­schen zurück.

Vor dem Vergessen bewahrt

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Gen­nadi Sosonko selbst nimmt sich nicht so wich­tig. Den­noch ent­rollt sich aus den vor­ge­stell­ten Geschich­ten natür­lich ganz neben­bei ein Lebens­bild des Autors. Das ist ein zusätz­li­cher Gewinn, den man aus der Lek­türe zieht: Man fühlt sich nicht nur den Por­trä­tier­ten ver­bun­den, son­dern auch dem, der sie für uns vor dem Ver­ges­sen bewahrt.
Zwei High­lights mit direk­tem Bezug zu Sosonko möchte ich erwäh­nen: Er hat wohl das ein­zige Vor­schau­buch zum WM-Kampf zwi­schen Fischer und Kar­pow 1975 geschrie­ben. Das heißt, geschrie­ben hat er es natür­lich nicht, denn wie wir wis­sen, fand der Wett­kampf nie statt. Ein­band und “Mockup” des Buches sind aber erhal­ten und wur­den sei­ner­zeit sogar schon auf einer Messe präsentiert.
2017 erwarb Sosonko bei einer Ver­stei­ge­rung ein ganz eige­nes Doku­ment schach­li­cher Zeit­ge­schichte: Jenes Flug­ti­cket, von Ams­ter­dam nach Mos­kau, das Vik­tor Kort­schnoi am 27. Juli 1976 eben nicht benutzte, weil er damals im Wes­ten blieb. Der Sinn für sol­che Details zeich­net “Genna” aus und macht sein Werk für jeden an Schach­ge­schichte und spe­zi­ell der Epo­che des Kal­ten Krie­ges inter­es­sier­ten Leser beson­ders spannend.

Englische Sprachkenntnisse nötig

Was ist noch zu ergän­zen? Das Buch ist in ange­mes­se­nem Umfang bebil­dert, wobei es sich fast durch­weg um Fotos han­delt, die auch kun­di­gen Schach­his­to­ri­kern bis­lang unbe­kannt sein dürften.
Die Bil­der und die Unter­glie­de­rung in 15 Kapi­tel und wei­ter in klei­nere Abschnitte erleich­tern auch dem­je­ni­gen das Lesen, für den die eng­li­sche Spra­che mög­li­cher­weise eine gewisse Hürde dar­stellt. Hier muss man natür­lich die Mess­latte recht hoch legen. Wir haben einen rei­nen Prosa-Text vor uns, der uns weit in aus dem schach­li­chen Bereich hin­aus führt. Das übli­che Schach-Eng­lisch, mit dem wir auch als Nicht-Mut­ter­sprach­ler bei nor­ma­ler Schach­li­te­ra­tur gut zurecht­kom­men, hilft hier nicht wei­ter. Gute eng­li­sche Sprach­kennt­nisse sind also abso­lut not­wen­dig. Doch auch dies wird mei­nen ein­gangs geäu­ßer­ten Wunsch nach der Lek­türe der vier ande­ren Sosonko-Bücher nicht bremsen. ♦

Gen­nadi Sosonko: Genna Remem­bers, Thin­kers Publi­shing 2021, 256 Sei­ten (engl.), ISBN 978-9464201178

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach­per­sön­lich­kei­ten auch über Kars­ten Mül­ler & Luis Engel: Spie­ler­ty­pen im Schach

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