“Jiddische Literatur gehört den kleinen Literaturen an und weist einen ungewöhnlichen Reichtum an literarischen Genres auf”. So steht es in dem aussergewöhnlichen interessanten, wichtigen und schönen Buch der Malerin, Autorin und Jiddistik-Professorin Efrat Gal-Ed. Zu diesem “ungewöhnlichen Reichtum” dieser Literatur hat der jiddischen Dichter Itzik Manger (1901-1969) mit seinem Werk Wesentliches beigetragen. Seine Biographie – “der erste Versuch einer kritischen Biographie” – hat Efrat Gal-Ed jetzt unter dem Titel “Niemandssprache: Itzig Manger – ein europäischer Dichter” veröffentlicht.
Aussergewöhnlich ist dieses Buch auf vielerlei Weise. Einmal ist es der Dichter, dem diese Biographie gewidmet ist, zum anderen die typografische “Konstruktion” dieses Buches, die sich an den Talmud anlehnt. “Auf Seitenmitte steht der Haupttext,… um ihn herum, in einer anderen, kleiner gesetzten Schrift, stehen Erörterungen und Auslegungen aus späteren Jahrhunderten…”, so erklärt die Autorin ihr typografisches Konzept. Und so war auch der Gestaltungsmodus der jiddischen Bücher, den sich Efrat Gal-Ed für dieses Buch zu Eigen gemacht hat. Die jiddischen Texte werden – wie seinerzeit üblich – zudem in hebräischer Schrift zitiert. Allerdings dann ins Deutsche (in lateinischer Umschrift) “übersetzt”. Für den Leser eine Herausforderung, der er sich allerdings gern stellt.
Ist doch das Thema, das auf diese Weise präsentiert wird, von grösstem Interesse. Die jiddische Kultur, die Sprache – sie waren doch lange Zeit für viele Menschen von grösster Bedeutung. Noch im vorigen Jahrhundert war “Jiddischland” innerhalb Europas ein säkularer Kulturraum – eine Kultur und eine Sprache, die weitestgehend in Vergessenheit geraten ist. Heute sind es leider nur noch etwa 1.5 Millionen Menschen, die Jiddische sprechen.
Deutsche Kultur und Sprache als Massstab für das Schaffen
Itzik Manger
Ein Vertreter dieser Kultur war Itzik Manger. Geboren wurde er in Czernowitz, in einer multi-ethnischen Stadt in der Bukowina. Für ihn waren deutsche Kultur und Sprache – wie für viele andere auch: Paul Celan und Rose Ausländer u.a. – der Massstab, an dem er sich und sein Schaffen orientierte. Dennoch entschied er sich, wie Efrat Gal-Ed schreibt, für das Jiddische als seine “Dichtersprache”. Für ihn war sie “herrenlos”, war “Jiddisch… “Niemandsprache”, war sie “Niemandsliteratur” in einer “Niemandswelt”.
In dieser “Niemandswelt” lebte der Itzik Manger. “Der exzentrische Dichter mit seinen originellen Versen, seinen rumänisch-zigeunerischen Weisen, mit seinen Träumen und selbst mit seinen Skandalen erweckt in Warschau grosses Interesse, auch über die literarischen Kreise hinaus.”, schreibt Efrat Gal-Ed. Er gehörte der einen und anderen literarischen Gruppe an – und war doch irgendwie isoliert. Immer mal wieder denkt er an Selbstmord.
Und er reist: Warschau, wo die zweitgrösste jüdische Gemeinschaft der Welt lebte, und wo er seine wohl glücklichste Zeit verlebte, und Wilna, Krakau und Bukarest, Riga und Berlin und endlich auch nach Paris. Ein unstetes Leben, oft auch abenteuerlich-gefährliches Leben in Kriegs- und Nachkriegszeiten. Und weiter – nach England, nach New York und schliesslich nach Israel. In Israel, in Gedera sollte der wohl grösste und bedeutendste jiddische Dichter am 20. Februar 1969 sterben. Israel mit einem grossen Begräbnis als einen Helden der jiddischen Literatur.
Die Welt des nichtassimilierten Judentums
Als Dichter war Itzik Manger unverwechselbar. In unzähligen Gedichten und Balladen hat er eine Welt beschrieben, die mit dem Holocaust untergegangen ist. Vor allem die Welt des osteuropäischen, des nichtassimilierten Judentums. Auf diese Weise wurde er berühmt – zumindest bis zur Zeit seines Exils. Danach verlor sich seine Stimme, trotz grossen Erfolgs in Amerika.
Mit der Biographie des jiddischen Dichters Itzik Manger hat die Autorin Efrat Gal-Ed einen vergessenen europäischen Autoren des 20. Jahrhunderts ins literarische Gedächtnis zurück geholt. Und sie hat mit ihrem aussergewöhnlichen Buch nicht nur eine spannende Lebens- und Autorengeschichte erzählt, sondern auch eine kleine, aber bedeutsame Literatur- und Kulturgeschichte geschrieben.
Nicht nur von Efrat Gal-Ed zitierten Gedichte und Balladen belegen seine literarischen Qualitäten. Ergänzend zu dieser grossartigen Biographie empfiehlt sich die Lektüre des ebenfalls von der Biografin herausgegebenen und übertragenen Bandes “Dunkelgold: Gedichte” (Jiddisch und deutsch).
Der Sohn eines Schneiders wurde zum jiddischen Troubadour, zum “Prinzen der jiddischen Ballade”. Volkspoesie war die Quelle seines Schaffens. Auf diese Weise blieb Manger erdgebunden, blieb er mit seiner Poesie im Hier und Jetzt. Zuhause, als Kind hatte er die Volkslieder gehört. “Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein verlassenes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füssen getreten wurde.” Er hat diesen Schatz gehoben.
Und so “klingt” es dann bei ihm:
“Stiller Abend. Dunkelgold. / Ich sitz beim Gläschen Wein. / Was ist geworden aus meinen Tagen? / Ein Schatten und ein Schein – / ein Augenblick von Dunkelgold / soll in mein Lied hinein.”
Lebensgeschichte mit der Kulturgeschichte verwoben
Sein poetisches Credo: “Der Künstler muss in menschlichen Kategorien denken, er muss nicht nur Mitgefühl mit dem Opfer haben, sondern in menschlichen Kategorien den Mörder verstehen, seine Motive, seine Pathologie, sein gesamtes Nervensystem”. Auch das ist Itzik Manger.
Sein vielfältig verflochtenes, sein abenteuerliche und immer gefährdetes Leben hat die Autorin Gal-Ed in ihrem Buch beschrieben. Eigentlich sind es zwei Bücher. Denn Efrat Gal-Ed hat nicht nur die Biographie des Dichters geschrieben, den sie – und das wird in diesem Buch ganz deutlich – als europäischen Dichter begreift; sie hat diese Lebensgeschichte verwoben mit der Literatur- und Kulturgeschichte einer Zeit, in der die jiddisch-säkulare Kultur Osteuropas eine bedeutende Rolle spielte.
Der vergessene Dichter Itzik Manger – Efrat Gal-Ed hat ihn der Vergessenheit entrissen, ihm mit Empathie, profunder Kenntnis und wissenschaftlicher Akribie ein wunderbares Denkmal gesetzt. ♦
Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter, Suhrkamp Verlag, 784 Seiten, ISBN 978-3-633-54269-7