Literatur-Projekt “Edition Balkan” gestartet

Anspruchsvolle und unterhaltsame Texte aus Bulgarien

von Gün­ter Nawe

Alle re­den von In­te­gra­ti­on, vom Aus­tausch der Kul­tu­ren und von EU-Er­wei­te­rung. Doch was wis­sen wir von­ein­an­der? Es gibt auf der li­te­ra­ri­schen Land­kar­te Eu­ro­pas – und nicht nur hier – eine Men­ge weis­ser Fle­cken und ter­rae in­co­gni­tae. Dem will der Ber­li­ner Dittrich Ver­lag Ab­hil­fe schaf­fen – mit sei­nem ehr­gei­zi­gen Pro­jekt ei­ner “edi­ti­onBal­kan”: Zeit­ge­nös­si­sche Au­toren aus Län­dern wie Bul­ga­ri­en, Ru­mä­ni­en, Ser­bi­en und Grie­chen­land sol­len über die Gren­zen des Bal­kans hin­aus Auf­merk­sam­keit fin­den. Un­kennt­nis­se sol­len ab­ge­baut, Ver­ständ­nis für die­se Li­te­ra­tu­ren soll ge­weckt werden.

Viktor Paskow: Autopsie - Roman - Dittrich VerlagDenn sie hat es ver­dient. Ha­ben wir es doch in den Bal­kan­län­dern mit Au­toren zu tun, die an­spruchs­vol­le und un­ter­halt­sa­me Tex­te ge­schrie­ben ha­ben; Tex­te, die das ge­gen­sei­ti­ge Ken­nen­ler­nen er­mög­li­chen, das Mit­ein­an­der von Kul­tu­ren för­dern und das oft ver­zerr­te Bild, das eine Ge­sell­schaft sich von der an­de­ren macht, der Wirk­lich­keit an­pas­sen. So das Cre­do der Her­aus­ge­ber die­ser “edi­ti­onBal­kan” Ne­diel­ka und Ro­u­men M. Evert (selbst ein re­nom­mier­ter Au­tor), Bernd Oel­je­schlä­ger, Vol­ker Dittrich und Ger­ritt Schooff.

Rumänien als Schwerpunkt der Reihe

Es herrscht all­ge­mein Op­ti­mis­mus hin­sicht­lich des Ge­lin­gens – und dies nicht ohne Grund. Nicht erst durch die ru­mä­ni­sche Li­te­ra­tur-No­bel­preis­trä­ge­rin Her­ta Mül­ler ist die ru­mä­ni­sche Li­te­ra­tur ins Blick­feld von Me­di­en und Le­ser­schaft ge­ra­ten. Und so wird Ru­mä­ni­en auch ei­ner der Län­der­schwer­punk­te sein, der die edi­ti­onBal­kan aus­zeich­nen wird.

Bul­ga­ri­en macht den An­fang. Her­vor­ra­gen­de Au­toren, die zur Eli­te der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur Bul­ga­ri­ens ge­hö­ren, wer­den ihre Wer­ke vor­stel­len; Au­toren, die in ih­rem Land längst An­er­ken­nung ge­fun­den und na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­le Prei­se be­kom­men ha­ben. Sie wer­den uns eine Kul­tur und Ge­sell­schaft schil­dern, die bei uns wei­test­ge­hend un­be­kannt ist, wer­den auf li­te­ra­risch an­spruchs­vol­le Wei­se über die mensch­li­chen Be­zie­hun­gen, über die öko­no­mi­schen und so­zia­len Ge­ge­ben­hei­ten und Kon­flik­te be­rich­ten, die ge­ra­de die letz­ten zwei Jahr­zehn­te ge­prägt ha­ben. Und sie wer­den von Men­schen und ih­ren Schick­sa­len er­zäh­len, die in Bul­ga­ri­en oder aus­ser­halb der Gren­zen ih­res Lan­des das Mit­ein­an­der un­ter den je­wei­li­gen Be­din­gun­gen le­ben müssen.

Enfant terrible der bulgarischen Literatur

Grenz­über­schrei­tend im wahrs­ten Sin­ne ist der ers­te jetzt er­schie­ne­ne Ro­man des bul­ga­ri­schen Au­tors Vik­tor Pas­kow (ge­bo­ren 1949 in So­fia, ge­stor­ben 2009 in Bern). Er galt als das kos­mo­po­li­ti­sche En­fant ter­ri­ble der bul­ga­ri­schen Li­te­ra­tur. Der stu­dier­te Mu­si­ker leb­te in der DDR, in West­ber­lin und zu­letzt als Kul­tur­at­ta­ché Bul­ga­ri­ens in Bern. Mit “Aut­op­sie” (im Ori­gi­nal: “Aut­op­sie ei­ner Lie­be”) hat er, nach meh­re­ren an­de­ren Bü­chern,  ei­nen ful­mi­nan­ten Künst­ler- und Lie­bes­ro­man ge­schrie­ben. Der Le­ser kann Pas­kows Prot­ago­nis­ten durch die Bo­hè­me Ber­lins und die Kul­tur So­fi­as be­glei­ten. Im Wech­sel­spiel von mu­si­ka­li­scher Krea­ti­vi­tät und ero­ti­scher Ob­ses­si­on und ei­ner Lie­be “aus tie­fem Schmerz und De­mut” er­lei­det der Jazz­sa­xo­pho­nist und Kla­ri­net­ten­vir­tuo­se Char­lie eine fa­ta­la Blo­cka­de. Er be­gibt sich auf die Su­che nach dem “ab­so­lu­ten Ton”, der ihm al­ler­dings nur mit dem rich­ti­gen “In­stru­ment” ge­lin­gen kann. Die­ses “In­stru­ment” ist die schö­ne Bul­ga­rin Ina, bei der er die Lie­be und die se­xu­el­le Er­fül­lung fin­det – aber zu wel­chem Preis?

Hochmusikalische Sprache

Be­son­ders be­ein­dru­ckend ist nicht nur der Plot, son­dern die Spra­che Vik­tor Pas­kows. Sie ist hoch­mu­si­ka­lisch, sein Leit­mo­tiv spielt der Au­tor im­mer wie­der mit herr­li­chen Va­ria­tio­nen und er­staun­li­chen Im­pro­vi­sa­tio­nen durch. Das gan­ze Buch ist wie eine bril­lan­te Jam-Ses­si­on, wie ein wun­der­ba­res Kla­ri­net­ten­kon­zert vol­ler Über­ra­schun­gen. Und wie Mu­sik und Spra­che sich in die­sem Buch auf er­staun­li­che Wei­se li­te­ra­risch er­gän­zen, so spürt der Le­ser auch in sehr sub­ti­len Pas­sa­gen die Ge­mein­sam­kei­ten der Kul­tu­ren, die sich im Le­ben und in der Kunst darstellen.

Von ähn­li­cher Sen­si­bi­li­tät, vor al­lem aber li­te­ra­ri­scher Qua­li­tät sind die drei klei­nen Ro­ma­ne der Ma­ria Stan­kowa, die un­ter dem Ti­tel “Lan­ge­wei­le” er­schie­nen sind. Auch die Stan­kowa, ge­bo­ren 1956, ist – wie ihr Kol­le­ge Pas­kow – stu­dier­te Mu­si­ke­rin, hat als Re­gie­as­sis­ten­tin und Re­dak­teu­rin ge­ar­bei­tet, Dreh­bü­cher und Thea­ter­stü­cke ge­schrie­ben und 1998 ihr ers­tes Pro­sa­werk veröffentlicht.
In den drei klei­nen Ro­ma­nen “Die schwar­ze Frau und der Schüt­ze”, “Lan­ge­wei­le” und “Das Netz” geht es trotz un­ter­schied­li­cher An­sät­ze wei­test­ge­hend um Frau­en in Le­bens­kri­sen, um Frau­en, die sich der Zweck- und Sinn­lo­sig­keit des Le­bens ge­gen­über sehen.
“Die Frau und der schwar­ze Schüt­ze” ist eine Lie­bes­ge­schich­te. Der Aus­bruch aus der Höl­le ei­ner lieb­lo­sen Ehe, der Ver­such, eine alte Lie­be wie­der auf­le­ben zu las­sen. Er ist zum Schei­tern ver­ur­teilt, weil die Frau die Fä­hig­keit zu lie­ben ver­lo­ren hat.
Ver­lo­ren hat da­ge­gen in der Ti­tel­ge­schich­te “Lan­ge­wei­le” eine Frau ihr Le­ben. Mord – das zu­min­dest ist der Er­mitt­lungs­an­satz der Kri­mi­nal­kom­mis­sa­rin. Doch die Sa­che ist kom­ple­xer. Mit viel Re­fle­xi­ons­fä­hig­keit und gros­ser psy­cho­lo­gi­scher Sen­si­bi­li­tät hat Ma­ria Stan­kowa ihre Prot­ago­nis­tin aus­ge­stat­tet. Und am Ende steht die Ein­sicht, dass nicht nur Mör­der grau­sam sind. Und nicht nur sie ha­ben ein ge­bro­che­nes Ver­hält­nis zum Le­ben, ste­hen ihm mit Gleich­gül­tig­keit und Käl­te ge­gen­über. Er­kennt­nis­se, die für alle gelten.

Virtuos mit den literarischen Möglichkeiten gespielt

Seine neue
Sei­ne neue “edi­ti­onBal­kan” star­tet der Ber­li­ner Dittrich Ver­lag mit be­deu­ten­den Au­torIn­nen aus Bul­ga­ri­en: Die Ro­ma­ne von Vik­tor Pas­kow und Ma­ria Stan­kowa über­zeu­gen so­wohl in­halt­lich als auch sti­lis­tisch und zei­gen be­reits ex­em­pla­risch auf, wie gross­ar­tig der Li­te­ra­tur-Raum des Bal­kan be­sie­delt ist.

Über­zeu­gend ist auch die Ge­schich­te “Das Netz”. In ihr er­zählt Ma­ria Stan­kowa von Frau­en und Män­nern, die ihre Ein­sam­keit und ihre hoff­nungs­lo­se Sehn­sucht nach Lie­be und Zu­nei­gung der vir­tu­el­len Welt des In­ter­net, den Chat­Rooms an­ver­trau­en. Hier kön­nen sie ge­schützt ihre All­tags­sor­gen los­wer­den, sich an­de­ren Men­schen an­ver­trau­en, Ge­füh­le for­mu­lie­ren und Sehn­süch­te the­ma­ti­sie­ren. So weit, so gut. In dem Au­gen­blick aber, wo die vir­tu­el­len Er­fah­run­gen auf die rea­le Welt stos­sen, wo sich die Part­ner in der Wirk­lich­keit tref­fen, stellt sich her­aus, dass die so ge­schlos­se­nen Freund­schaf­ten und Be­zie­hun­gen die­ser Wirk­lich­keit nicht stand­hal­ten. Das Schei­tern ist pro­gram­miert – und die Rück­kehr in die vir­tu­el­le Welt der letz­te Ausweg.
Es ist vor al­lem die sprach­li­che Prä­zi­si­on, die ei­nen tie­fen Blick auf den Men­schen und in sei­ne Psy­che er­laubt. Ma­ria Stan­kowa spielt vir­tu­os auf der Kla­via­tur der li­te­ra­ri­schen Mög­lich­kei­ten. Ihr Stil ist über­ra­schend viel­fäl­tig und doch un­ver­wech­sel­bar. Ma­ria Stan­kowa ist – wenn man will – eine gros­se Ent­de­ckung, eine bril­lan­te bul­ga­ri­sche Au­torin von in­ter­na­tio­na­ler Bedeutung.

Zu er­wäh­nen sind in al­len Fäl­len die Über­set­zer aus dem Bul­ga­ri­schen: Alex­an­der Sitz­mann, der “Aut­op­sie” ins Deut­sche über­tra­gen hat, und Bar­ba­ra Bey­er, die “Lan­ge­wei­le” über­setzt hat. Ihr gros­ser An­teil an der Ak­zep­tanz die­ser Bü­cher im deut­schen Sprach­raum ist nicht zu übersehen.
Ein sehr ge­lun­ge­ner Start der “edi­ti­onBal­kan”, der viel ver­spricht für die wei­te­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen bul­ga­ri­scher und spä­ter auch an­de­rer Literaturen. ♦

Vik­tor Pas­kow: Aut­op­sie, Ro­man, 404 Sei­ten, edi­ti­onBal­kan im Dittrich Ver­lag, ISBN 978-3-937717-49-4; Ma­ria Stan­kowa: Lan­ge­wei­le, Drei klei­ne Ro­ma­ne, 320 Sei­ten, edi­ti­onBal­kan im Dittrich­Ver­lag, ISBN 978-3-937717-53-1

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Lie­be im In­ter­net“ auch über den
Ro­man von Anke Beh­rend: Fake Off!

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