Andrew Soltis / David Smerdon: Schwindeln im Schach

Das Maximum aus verlorenen Stellungen holen

von Thomas Binder

Man muss im Schach nicht im­mer den bes­ten Zug fin­den. In ob­jek­tiv ver­lo­re­nen Stel­lun­gen hilft oft nur je­ner Zug, der den Geg­ner vor eine schwie­ri­ge Wahl stellt oder die Ge­stalt der Par­tie in un­er­war­te­ter Wei­se wen­det. Doch wie geht er­folg­rei­ches Schwin­deln im Schach? Die bei­den Au­toren An­drew Sol­tis in “How To Swind­le In Ch­ess” und Da­vid Smer­don in “The Com­ple­te Ch­ess Swind­ler” zei­gen es uns auf un­ter­halt­sa­me und lehr­rei­che Weise.

Der Zu­fall will es, dass kurz nach­ein­an­der zwei re­nom­mier­te Ver­la­ge und eben­so be­währ­te Au­toren Bü­cher mit na­he­zu iden­ti­schem An­satz her­aus­ge­bracht ha­ben. Die Gross­meis­ter An­drew Sol­tis aus den USA und Da­vid Smer­don aus Aus­tra­li­en wid­men sich dem The­ma “Schwin­deln im Schach”. Nor­ma­ler­wei­se bie­tet sich jetzt ein Ver­gleichs­test mit ei­ner Kauf­emp­feh­lung an, doch hier er­gibt sich ein “to­tes Ren­nen”. Denn vor­weg­ge­nom­men: Ich habe bei­de Bü­cher mit gros­sem Ver­gnü­gen ge­le­sen und kann sie un­ein­ge­schränkt emp­feh­len. Das ver­wen­de­te Par­tie­ma­te­ri­al über­schnei­det sich nur ge­ring­fü­gig, bei­de Wer­ke er­gän­zen sich also hervorragend.

Chancen für schwere Fehler bieten

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An­drew Sol­tis: How to Swind­le in Chess

Schwin­del” ist zwar sprach­lich die sanf­te­re Form der Lüge, doch es wird ei­nem even­tu­el­len Über­set­zer schwer­fal­len, eine pas­sen­de deut­sche Fas­sung des zen­tra­len Be­griffs zu fin­den. Es geht in bei­den Bü­chern dar­um, wie man aus ob­jek­tiv ver­lo­re­nen – manch­mal auf­ga­be­rei­fen – Stel­lun­gen das Ma­xi­mum an Chan­cen her­aus­holt. Da der nach rei­ner Leh­re “bes­te Zug” die Par­tie un­wei­ger­lich ver­lie­ren wird, muss man an­de­re Res­sour­cen er­grün­den. Es geht dar­um, dem Geg­ner die Ver­wer­tung sei­nes Vor­teils mög­lichst schwer zu ma­chen, ihm vie­le Op­tio­nen zu las­sen, un­ter de­nen er die ver­lo­ckends­te (aber fal­sche) wäh­len könn­te. Da wir die Par­tie nicht mehr durch ei­ge­ne gute Züge ge­win­nen kön­nen, müs­sen wir die Wahr­schein­lich­keit er­hö­hen, dass der Geg­ner noch ei­nen schwe­ren Feh­ler be­geht. Das eng­li­sche Verb “to bam­booz­le” be­schreibt dies schon laut­ma­le­risch sehr schön und ist eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung für den Übersetzer.

Mittelweg zwischen Lehr- und Unterhaltungsbuch

David Smerdon - The Complete Chess Swindler - New in Chess - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
Da­vid Smer­don: The Com­ple­te Ch­ess Swindler

Bei­de Au­toren nä­hern sich dem The­ma in glei­cher Wei­se und fin­den ei­nen sehr ge­sun­den Mit­tel­weg zwi­schen Lehr- und Un­ter­hal­tungs­buch. Wenn man nach der Lek­tü­re ei­nes Schach­buchs das Ge­fühl hat, gut un­ter­hal­ten wor­den zu sein und da­bei et­was prak­tisch Ver­wert­ba­res ge­lernt zu ha­ben – was kann es Schö­ne­res geben?
Sehr zum Ver­ständ­nis trägt die aus­führ­li­che Be­bil­de­rung mit Stel­lungs­dia­gram­men bei. Sie ist in bei­den Bü­chern so ge­hal­ten, dass man den Par­tien mü­he­los ohne ei­ge­nes Schach­brett fol­gen kann. Die am Zug be­find­li­che Sei­te wird bei Sol­tis noch ganz klas­sisch mit “White / Black to play” be­schrie­ben. Smer­don ver­zich­tet im Haupt­teil des Bu­ches lei­der völ­lig auf die Kenn­zeich­nung des Zug­rechts – ei­gent­lich heu­te Stan­dard in der Schachliteratur.

Geeignet für Vereinsspieler ab 1600 Elo

Um­fang und In­halt der schach­li­chen Er­läu­te­run­gen tref­fen ge­nau den Ge­schmack des Re­zen­sen­ten. Na­tür­lich wird schach­li­ches Kön­nen und vor al­lem wohl auch Wett­kampf­erfah­rung vor­aus­ge­setzt, um sich auf den An­satz der Wer­ke ein­zu­las­sen. Doch ab ei­nem mitt­le­ren Ver­eins­spie­ler­ni­veau, das ich bei ei­ner Elo-Be­wer­tung um 1600 an­set­zen wür­de, kann man al­len Ge­dan­ken­gän­gen fol­gen und die Bü­cher mit Ge­nuss und Ge­winn le­sen. Auch schach­be­geis­ter­te Ju­gend­li­che sind als Ziel­grup­pe vor­stell­bar, so­fern die Fremd­spra­che kei­ne we­sent­li­che Hür­de darstellt.

Andrew Soltis - How to Swindle in Chess - Batsford Chess - Leseprobe 1 - Glarean Magazin
Ein­fach ge­hal­te­ne Er­läu­te­run­gen: Le­se­pro­be aus An­drew Sol­tis “How to Swind­le in Chess”

Kom­men wir auf die äus­ser­li­chen Un­ter­schie­de: Smer­dons Werk ist um ca. 50% stär­ker, zu­dem im For­mat et­was grös­ser. Von den gut 120 zu­sätz­li­chen Sei­ten, ent­fal­len al­ler­dings ca. 80 auf das ab­schlies­sen­de Ka­pi­tel mit Auf­ga­ben und de­ren Lö­sun­gen. Die­se gibt es zwar bei Sol­tis eben­falls, aber deut­lich knap­per und in die Fach­ka­pi­tel in­te­griert. Ab­ge­se­hen da­von un­ter­schei­det sich die Zahl der vor­ge­stell­ten Par­tien we­ni­ger als man er­war­ten könn­te. Bei­de Bü­cher stel­len je­weils un­ge­fähr 100 Bei­spie­le aus­führ­lich vor.

Farbiger Sprachstil vs nüchterne Erklärungen

Das Lay­out wirkt bei Smer­don ins­ge­samt et­was ed­ler, was aber wohl nicht dem Au­tor son­dern dem je­wei­li­gen Ver­lags­pro­gramm zu­zu­rech­nen ist. Meist sind auch die Tex­te bei Smer­don aus­führ­li­cher. Rein schach­lich ist dies aber nur dort von Be­lang, wo er im De­tail auf ab­wei­chen­de Va­ri­an­ten ein­geht. An­sons­ten ist eben sein Sprach­stil deut­lich far­bi­ger als die nüch­ter­nen Er­klä­run­gen sei­nes ame­ri­ka­ni­schen Kollegen.

David Smerdon - The Complete Chess Swindler - New in Chess - Leseprobe 1 - Glarean Magazin
An­ek­do­ten und Ge­schich­ten: Le­se­pro­be aus Da­vid Smer­don “The Com­ple­te Ch­ess Swindler”

Auch fin­det sich bei Smer­don man­che klei­ne An­ek­do­te und Ge­schich­te zur vor­ge­stell­ten Par­tie. So wer­den ei­ni­ge Per­so­nen der aus­tra­li­schen Schach­sze­ne por­trä­tiert, die man hier bis­lang nicht wahr­ge­nom­men hat­te. Soll­ten also die Eng­lisch-Kennt­nis­se des Le­sers ein Kauf­kri­te­ri­um sein, wäre hier der ein­fa­cher ge­hal­te­ne Sol­tis-Text vor­zu­zie­hen. Al­ler­dings sind bei die­sem Buch noch ei­ni­ge Schreib­feh­ler im Text und in der No­ta­ti­on auszumerzen.

Umfangreicher Bestand an Aufgaben

Wie be­reits an­ge­deu­tet, ha­ben bei­de Wer­ke ei­nen mehr oder we­ni­ger um­fang­rei­chen Be­stand an Auf­ga­ben und je­weils ei­nen Lö­sungs­teil dazu. Sol­che Ab­schnit­te fin­det man heu­te in fast je­dem Schach­buch. Die Mei­nun­gen zur Sinn­haf­tig­keit die­ses For­mats mö­gen aus­ein­an­der ge­hen. Ich hät­te mir ge­wünscht, dass man lie­ber ei­nen Teil die­ser Par­tien in al­ler Aus­führ­lich­keit in den Haupt­text in­te­griert hätte. ♦

An­drew Sol­tis: How To Swind­le in Ch­ess, 240 Sei­ten, Bats­ford Ch­ess (Pa­vi­li­on Books), ISBN 978-1849945639

Da­vid Smer­don: The Com­ple­te Ch­ess Swind­ler, 368 Sei­ten, New in Ch­ess, ISBN 978-9056919115

Le­sen Sie aus­ser­dem im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma “Schwin­deln im Schach” den Com­pu­ter­schach-Es­say von Ro­land Stu­ckardt: Too cle­ver is dumb

Weitere Internet-Links zum Thema Schach

 


English Translation

You don’t al­ways have to find the best move in ch­ess. Of­ten the only thing that helps in ob­jec­tively lost po­si­ti­ons is the move that con­fronts the op­po­nent with a dif­fi­cult choice or un­ex­pec­ted­ly ch­an­ges the shape of the game. The aut­hors Da­vid Smer­don in “The com­ple­te ch­ess swind­ler” and An­drew Sol­tis in “How to swind­le in ch­ess” con­vey this know­ledge in an en­ter­tai­ning and in­for­ma­ti­ve way.

It’s a nice co­in­ci­dence, that two re­now­ned pu­blishers and suc­cessful aut­hors re­cent­ly edi­ted books with an al­most iden­ti­cal ap­proach. Grand­mas­ters An­drew Sol­tis (from US) and Da­vid Smer­don (from Down Un­der) fo­cus on the sub­ject “Swind­ling in Ch­ess”. Usual­ly this would ten­der a com­pa­ri­son test, but that would end in dead heat. I read both books with gre­at plea­su­re and re­com­mend them both wi­t­hout any re­ser­va­ti­on. The quo­ted games over­lap only to a small ext­ent; so both books com­ple­ment one an­o­ther perfectly.

Offer chances to make serious mistakes

To swind­le” seems to me as a gent­le form of “to lie” or “to be­tray”, but of cour­se it’s not about so­me­thing mo­ral­ly re­pre­hen­si­ble here. Both books deal with si­tua­tions on the ch­ess­board whe­re one side is ob­jec­tively ut­ter­ly lost. But now it’s time to ge­ne­ra­te some “swind­le” chan­ces. The “best move” ac­cor­ding to pure tea­ching or com­pu­ter eva­lua­ti­on will ine­vi­ta­b­ly lose the game. So we need to set obs­ta­cles for the op­po­nent to con­vert his clear ad­van­ta­ge. We of­fer him as much op­ti­ons as pos­si­ble to fall into a trap. The word “to bam­booz­le” is the per­fect ono­ma­to­poe­tic ex­pres­si­on for this attitude.
Both aut­hors find the hap­py me­di­um bet­ween edu­ca­ti­on and en­ter­tain­ment. Fee­ling well en­ter­tai­ned and ha­ving lear­ned so­me­thing useful – what can be better?
Both books are well equip­ped with po­si­ti­on dia­grams. That makes it easy to un­der­stand the ex­amp­les and to fol­low the cour­se of the game wi­t­hout using a chessboard.
Sol­tis marks the side to play with clas­si­cal comm­ents next to the board. Un­fort­u­na­te­ly Smer­don doesn’t use any move in­di­ca­tor – ac­tual­ly a stan­dard in today’s ch­ess literature.

Useful for club players with Elo 1600+

Scope and con­tent of the ch­ess-re­la­ted ex­pl­ana­ti­ons exact­ly match the tas­te of the re­view­er. Of cour­se both books re­qui­re a cer­tain amount of ch­ess skills and com­pe­ti­ti­on ex­pe­ri­ence. But me­di­um club play­ers at an Elo-le­vel of about 1600 will be able to fol­low all li­nes of thought and read the books with plea­su­re and pro­fit. Ch­ess-en­thu­si­a­stic teen­agers can pro­fit as well, pro­vi­ded that the for­eign lan­guage is not a ma­jor hurd­le to them.

Let’s have a look at the ex­ter­nal dif­fe­ren­ces: Smerdon’s book is about 50% big­ger and uses a slight­ly lar­ger for­mat. But about 80 of the 120 ad­di­tio­nal pa­ges ac­count for the fi­nal sec­tion with exer­ci­s­es and so­lu­ti­ons. The­se are available at Sol­tis too, but much more sc­ar­ce and in­te­gra­ted in the re­spec­ti­ve chap­ters. Apart from that, the num­ber of games pre­sen­ted dif­fers less than one might ex­pect. Both books pro­vi­de about 100 ex­amp­les in detail.

Colourful style vs sober explanations

The lay­out looks a bit no­bler at Smerdon’s book, but this must be at­tri­bu­ted to the pu­bli­shing pro­gram ra­ther than to the aut­hor. The texts are a bit more de­tail­ed the­re too. But the dif­fe­rence is ch­ess-re­la­ted only in the sub­si­dia­ry va­ri­ants, not in the game’s main line. Of cour­se his lan­guage style is more co­lourful than the sober ex­pl­ana­ti­ons of his Ame­ri­can col­le­ague. In Smerdon’s text we find lots of small an­ec­do­tes and sto­ries about the games pre­sen­ted. Some peo­p­le from Aus­tra­li­an ch­ess sce­ne are por­tray­ed, who have so far not been no­ti­ced here in Eu­ro­pe. If the reader’s Eng­lish know­ledge is a purcha­se cri­ter­ion, the simp­ler Sol­tis text would be pre­fera­ble. Ho­we­ver, some spel­ling mista­kes in the text and in the no­ta­ti­on have to be eli­mi­na­ted in Sol­tis’ book.

Both works have am more or less ex­ten­ded part with tasks and so­lu­ti­ons. Such sec­tions can be found in al­most every ch­ess book to­day. The opi­ni­ons on this for­mat may dif­fer. I would have pre­fer­red that some of the­se ex­amp­les had been in­te­gra­ted to the main text in grea­ter detail.

Pic­tures and Links can be found in the text above

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