Inhaltsverzeichnis
Ultimatives Harmonik-Kompendium
von Walter Eigenmann
Die sog. Harmonielehre, darüber herrscht kein Zweifel, gilt sowohl manchen Klassik- als auch vielen Rock/Pop- oder Jazz-Musikern als trockene Materie. Verstaubte Theorie halt, die man allenfalls im Musik-Hochschulstudium als “Nebenfach” durchstehen muss oder als Improvisierender gleich ganz ignoriert.
Doch ebenso zweifellos behält in dem neuen 800-Seiten-Wälzer von Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony der Autor im Vorwort absolut spartenübergreifend recht: “Talent mag vom Himmel in die Wiege fallen, Wissen jedoch nicht. Jeder Musiker, Maler oder Bildhauer informiert sich und steht im Austausch mit Kollegen, um zu lernen.”
Drei unterschiedliche Lernebenen
Dieses Lernen bzw. Lehren kommt in Löfflers breit und stringent aufgebauter “Harmonielehre” in vielfältiger Manier daher. Theoretische Ausführungen (von den Basics wie das Notenlesen bis zum komplexen Modal Interchange) stehen neben graphisch illustrierten Harmonik-Analysen; Zusammenfassende Kapitel-Aufgaben zum Selber-Lösen wechseln sich ab mit konkreten Anweisungen für das improvisatorische Instrumentalspiel; Regelmässig eingestreute “Definitionskästchen” als unverzichtbare Lerninhalte kontrastieren (später) mit frei anwendbaren “Strategien” für das selbstständige Analysieren. Und es fehlen weder die Download-Hinweise zu online verfügbaren MP3-Dateien noch eine grosse Fülle an Notenbeispielen aus der ganzen jüngeren Rock- und Jazz-Szene.

Grundsätzlich schreitet dabei das Lehr- und Übungsbuch vom Einfachen zum Schwierigen fort; gleichwohl hat der Musikpädagoge Löffler die grossen Bereiche seines fast 800-seitiges Kompendiums geschickt in drei “Lernebenen” strukturiert: In eine Art “Quick Set Up Guides” mit zahlreichen inhaltlich zusammenfassenden “Konzentraten”; in den ausführlich erläuternden Fliesstext mit zahlreichen Songbeispielen; und in eine dritte Ebene, die für Fortgeschrittene das punktuelle Lernen gestattet. Diese dreiteilige “Binnenform” der Stoffbehandlung ermöglicht ganz unterschiedlichen Leserschichten ein modales Buchstudium und trägt wesentlich dazu bei, die Lektüre individuell und abwechslungsreich anzugehen.
Ein Fahrplan für das Crossover-Studium
Dem Band vorangestellt ist dabei ein sog. Fahrplan als Orientierungshilfe. Dessen Wegweiser leiten den Leser nicht aufsteigend von Kapitel zu Kapitel, sondern offerieren die Möglichkeit einer Crossover-Lektüre:
Den “Grundlagen” gestattet Löffler 150 Seiten, danach ist das “Basislager” erreicht, und das Interesse des Lesenden kann sich zu splitten beginnen. Die ersten drei Kapitel enthalten dabei die intensivsten Trainingseinheiten mit zahlreichen Aufgaben-Seiten, die das Gelernte abrufen und vertiefen sollen.
Themenfelder lückenlos erfasst

Meines Wissens war auf dem Buchmarkt bislang keine thematisch verwandte Publikation verfügbar, die den rein musiktheoretischen Aspekt der sog. U-Musik – Löffler definiert “Rock & Jazz” breit, subsumiert darunter auch Blues, Soul, Latin, Schlager, Metal oder Country u.a. – derart tiefgreifend und differenziert behandelt. Themenfelder und Begrifflichkeit sind dabei anfänglich bzw. als Grundlage durchaus der Klassischen Harmonielehre entnommen. Ungefähr ein Drittel des Buches dürfte dezidiert dieser “traditionellen” Lehre des 17. bis 19. Jahrhunderts zuzuordnen sein, wobei auch Anfänger wie Wieder-Einsteiger aller Stufen ihren Nutzen daraus ziehen können. Der Link zum historisch angehäuften Wissensfundus ist also gegeben. Darüber hinaus aber bereitet der Band das gesamte theoretische Material der neueren U-Musik-Geschichte auf, soweit es harmonietechnisch überhaupt analysier- bzw. vermittelbar ist.
Lehr- und Wörterbuch zugleich
Dass sich in Theorie und Praxis ohnehin die Schwerpunkte, Methoden und Historien der beiden Sparten U- und E-Musik teils synonym überschneiden, ist klar. Dass aber die “Populäre Musik” der letzten ca. 80-100 Jahre vom frühen Afro-Blues bis in unsere Tage des Aleatorischen FreeStyle-Jazz sich inzwischen ebenfalls einen musikhistorisch katalogisier- und didaktisch aufbereitbaren Begriffsapparat generiert hat, wird eben an solchen Arbeiten wie Löfflers “Harmony” ersichtlich, die kaum einen Aspekt ausser Acht lässt, der klanglich irgendwie Eingang ins heutige – ansonsten ja stilistisch völlig unübersehbare – Konzertleben gefunden hat. (Über die ganze Fülle des behandelten Materials orientiert hier das Inhaltsverzeichnis von Rock & Jazz Harmony).

In seinem ganzen didaktischen Aufbau ist der Band als Lehrbuch also sehr gut verwendbar. Gleichzeitig ist er mit seinem begriffsorientierten, teils auch modalen Konzept und der übersichtlichten Gliederung der Themenfelder (bis hin zum mehrseitigen Registerverzeichnis) auch ein Nachschlagewerk. Wohltuend dabei nicht nur für das Heer der “Garagen-Musik”-Amateure: Löfflers Buch versteht sich nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern stellt den theoretischen Bezug zur Rock- und Jazz-Musik in einer ungezwungenen Sprache her. Nicht Dozieren, sondern Vermitteln war offensichtlich angesagt.
Harmonische Analyse direkt an den Songs

Am konkretesten wird dieser Ansatz im letzten, dem “Analysen”-Kapitel. Auf fast 100 Seiten behandelt Löffler hier beinahe Takt für Takt das harmonische Gerüst von “Klassikern” wie “Hey Joe” (Jimi Hendrix) oder “Every Breath You Take” (The Police) über Pop-Hits wie “I Turn To You” (Christina Aguilera) oder Film-Titel wie “A Foggy Day” (George Gerschwin) bis hin zu legendären Jazz-Titeln wie “500 Miles High” (Chick Corea) und “Keep Me In Mind” (John Scofield) oder auch Bepop-Evergreens wie “Donna Lee” (Charlie Parker). Auch hier wieder illustrieren teils umfangreiche Notenbeispiele und unterstützen die Analyse der harmonischen Binnenstrukturen.
Die Referenz in Sachen Rock-Jazz-Harmonik

Im Unterschied zu vielen vergleichbaren “Schulbüchern” zum Thema gelingt es dieser “Harmonielehre” des 53-jährigen Band-Gründers, Profi-Gitarristen und Dozenten Mathias Löffler, seinen weitläufigen und komplexen Gegenstand in besonders transparenter Manier aufzubereiten. Dazu trägt nicht nur die raffinierte didaktische Bändigung der Theorie bei, sondern auch der ständige Bezug zum “musikalischen Alltag” mit Song-, Noten- und Hörbeispielen direkt “aus der Praxis”. Bei zukünftigen Auflagen ist zu wünschen, dass die Online-Anbindung des Buches noch ausgebaut bzw. aktualisiert wird, um so das moderne Lernverhalten weiter Jugend-Kreise zu unterstützen. Aber auch schon jetzt flankieren diverse Audio-Download-Optionen das Buch und verstärken so die Stoffvermittlung.
“Rock & Jazz Harmony” von Mathias Löffler macht deutlich, dass Konzerterfolge auch in der U-Musik-Welt tatsächlich nicht “vom Himmel fallen”, sondern ursächlich mit der “Harmonik” zu tun haben, die alles “im Innersten zusammenhält”. Die genaue Kenntnis der “Harmonielehre” ist also nicht der Widerpart des spontanen Musizierens, sondern dessen Voraussetzung…
Kurzum: Löfflers höchst umfangreiches, aber seinen Gegenstand sehr abwechslungsreich verkaufendes Kompendium ist meines Erachtens die neue Referenz zur Thematik und gehört als Lehr- wie als Wörterbuch in jede Musik-Unterrichtsstube an Hoch- wie an Volksschulen. Doch auch jeder Musiktheorie-Anfänger – und der Instrumentalist im “klassisschen” Sektor sowieso… – wird die “Rock & Jazz Harmony” als willkommene Ergänzung, ja als notwendige Horizonterweiterung seiner Musik erfahren. Der professionelle Songwriter oder Arrangeur schliesslich erhält zahlreiche weiterführende Anregungen, die seine Arbeit intensivieren werden. ♦
Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony – Die Klangwelt der Rock- und Jazzmusik verstehen, 784 Seiten, AMA Verlag, ISBN 978-3899222395
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musiktheorie auch über Christoph Wünsch: Satztechniken im 20. Jahrhundert
Was ich nie ganz verstanden habe ist, warum man im Deutschen so oft von “Zwischendominanten” spricht. Im Englischen wären es die Sekundärdominanten, sehr passend zu der Primärdominante – auch ich habe nach Berkeley gelernt, das scheint mir sehr konsistent zu sein.
Auch im Bereich TS finde ich dann den gewählten Begriff sehr passend. Ist das eine vom Sprachraum abhängige Verwendung der Begriffe? Auch Hauenschild spricht ja von Zwischendominanten.
Werde mir das Werk in jedem Fall gerne kaufen, um auch besser Vergleiche zwischen diesem, Hauenschild und dem Berkeley – Ansatz machen zu können.
Mir gefällt z.B, dass man (bei Löffler) nicht ganz am Anfang mit den Intervallen kommt, weil das für Anfänger so nicht sehr schlüssig wäre. Zuerst also z.B. eine Durtonleiter verstehen, dann kann man dazu schön die Intervalle erklären (grosse & reine), womit der Anfänger einen guten, praktischen Zugang zu den Intervallen bekommt, statt stumpfes Auswendiglernen zu betreiben. Freue mich auf das Buch!
Lieber Oliver,
der Begriff „Zwischendominante“ beschreibt sehr gut, was man hört: eine „zwischenzeitliche Auflösung“. Damit ist gemeint, dass bei einer zwischendominantischen Wendung wie etwa A7 – Dm in C-Dur, das Ohr den Dm-Akkord für einen Augenblick als Tonika interpretiert. U.a. Diether de la Motte spricht daher beim Dm-Akkord meines Beispiels auch von einer „Zwischentonika“, der A7-Akkord ist im Grunde folgerichtig dann die „Zwischendominante“. Dieser Augenblick der (kompositorisch gewollten) kurzzeitigen klanglichen Irritation wird im Englischen als „key of the Moment“ („Tonart des Augenblicks“) bezeichnet. So sollte dann sprachlich ähnlich konsequent wie im Deutschen die Zwischendominante im Englischen als „key of the Moment-Dominantchord“ bezeichnet werden. Wie die Musiker so sind, würde daraus bestimmt irgendwann eine „Moment-Dom“ oder gar die “Momdom”:-))
Man kann nachvollziehen, dass hier keine gute englische Bezeichnung in der Luft liegt, die sprachlich das rüberbringt, was man hört. Also gab man irgendwann der Logik den Vorzug und vergab nach „primary dominant“ die Kategorie “secondary dominant“. Ich besitze hier keinen Anspruch auf historische Genauigkeit, sondern will mit dieser Mini-Geschichte nur den Sachverhalt erläutern.
Soweit so gut, könnte man meinen. Lästig wird es erst dadurch, dass irgendwann ab den 1980er Jahren die ersten deutschsprachigen Berkeley Rückkehrer überflüssigerweise beschlossen, „secondary dominant“ einzudeutschen und rrrumms, haben wir den Begriff „Sekundärdominante“ ( = secondary dominant) für eine Dominantfunktion, die es begrifflich schon längst gibt, nämlich unsere gute alte Zwischendominante.
Doch damit nicht genug der babylonischen Sprachverwirrung, denn den Begriff „ Sekundärdominante“ gibt es schon länger im Deutschen, siehe z.B. Axel Jungbluth. Hiermit ist jedoch eine dritte Kategorie von Bewegungen eines Dominantseptakkordes gemeint, denen gleichzeitig der Mechanismus des Trugschlusses und der Tritonussubstitution innewohnt. Diese Gruppe von Dominantseptakkorden müsste im Englischen logischerweise dann in etwa „thirdly dominant“ heissen oä. Hier spricht Berkeley hingegen von „special funktion dominant chords“ (ohne übrigens auf den wesentlichen Aspekt der Stimmführung einzugehen).
Ich könnte jetzt munter weiterschreiben, zum Beispiel die grandiose Verwirrung, die durch den Begriff “Tensions“ herbeigeführt wird, einzig weil es eine Abkürzung von „EXtensions“ ist. Aber wozu habe ich ein Buch geschrieben, da steht alles drin….
Ich finde es in solchen Fällen gut, mit Schaubildern zu arbeiten:
https://glarean-magazin.ch/wp-content/uploads/2020/08/Matthias-Loeffer-Schaubild-Dominanten-Begriffsvergleiche-Glarean-Magazin.png
beste Grüße,
Mathias Löffler
Klingt ja regelrecht euphorisch… 😉 Und mit annähernd 800 Seiten hat das Buch ja biblische Ausmaße. Grazie für die Review.
Zwischenfrage: Wird darin auch auf die klanglichen Möglichkeiten des Superimposing (mit 3- und 4-Klängen) eingegangen? Ich hätte gerne ein paar Anregungen dazu erhalten für mein eigenes Solo-Spielen (bin Amateur-Klavier-Jazzer).
Gruss: Carlo
Lieber Carlo, danke für Dein Interesse an meinem Buch!
Die Antwort auf Deine Frage nach “Superimposing” findest Du auf Seite 670 – Superimposing mit Dreiklängen sowie auf Seite 675 – Superimposig mit Vierklängen; beide Abschnitte gehören zum Kapitel “Improvisation”, in dem ich eine grundlegende Orientierung zum Thema biete, vom “Lick” bis zum “outgoing”.
Das Kapitel Voicings (Seite 233) im Zusammenhang mit Lower – und Upper Structure Triads sowie ein kurzer Streifzug zu den “left hand voicings” von Evans solltest Du in dem Zusammenhang ebenfalls studieren. Ab Seite 672 findest Du im Übrigen noch “Superimposing mit Pentatonik” incl. der Solotrankription einer SI-Phrase von Jacky Terrasson, den ich total mag.
beste Grüße,
Mathias Löffler