Urs Widmer: Valentin Lustigs Pilgerreise

Im Anfang war das Bild

von Walter Eigenmann

Das Buch “Valen­tin Lus­tigs Pil­ger­reise” han­delt von Bil­dern – des Malers Valen­tin Lus­tig. Und von den Bil­dern die­ser Bil­der – des Autors Urs Wid­mer. So weit, so schwie­rig. Aber jetzt kommt’s: Es sind da noch die Bil­der der Bil­der der Bil­der – von uns, der Seh-/Le­ser­schaft.

Urs Widmer Valentin Lustig Valentin Lustigs Pilgerreise - Rezension Glarean MagazinHmm, noch­mals von vorne: Also, es gibt den 33-jäh­ri­gen, im rumä­ni­schen Klau­sen­burg gebo­re­nen, seit 25 Jah­ren in Zürich leben­den Maler Valen­tin Lus­tig. Und den 70-jäh­ri­gen Bas­ler, auch in Zürich woh­nen­den Schrift­stel­ler Urs Wid­mer – und der Dio­ge­nes Ver­lag meint (zuhin­terst, also zuvor­derst): Die bei­den “haben sich als See­len­ver­wandte ent­deckt, ein künst­le­ri­scher Dia­log hat sich ent­spon­nen”, dar­aus sei nun ein raf­fi­niert kom­po­nier­tes Gesamt­kunst­werk entstanden.
Diese Bemer­kung stimmt – ist aber eine leere Werbe-Sprech­blase. Es hilft also nichts: man muss noch wei­ter, min­des­tens bis zum Buch-Titel zurück, um anzu­fan­gen – näm­lich: “Urs Wid­mer: Valen­tin Lus­tigs Pil­ger­reise – Bericht eines Spa­zier­gangs durch 33 sei­ner Gemälde – Mit Brie­fen des Malers an den Ver­fas­ser”. Ja, so packt der Rah­men diese Gale­rie rich­tig, und nun kann man auch das aller­erste Bild auf­ru­fen. Man betrachte es gut, denn es beinhal­tet das ganze Buch und heisst “Vier lachende Knaben”:

Valentin Lustig: "Vier lachende Knaben"
Valen­tin Lus­tig: “Vier lachende Kna­ben” (Abb. “Lus­tigs Pilgerreise”)

Weisst du denn nicht, dass der Erdenkreis von Toten bevölkert ist?

Und dann hat, nach dem Maler, der wohl seit Jah­ren bild-gewal­tigste Tex­ter der Schweiz sei­nen ers­ten Auf­tritt – und weit holt er schon zu Beginn aus, den Maler ein, und den Betrach­ter hinein:
“Weisst du denn nicht, dass der Erdenkreis von Toten bevöl­kert ist? Den Ver­stor­be­nen alter und auch jun­ger Zei­ten? So sie­ben Mil­li­ar­den Schat­ten dürf­ten sie inzwi­schen sein, die Toten aller Zei­ten, vom aller­ers­ten homo sapi­ens an, der keine vier­zehn Jahr alt und eine Frau war, die nach der Geburt des drit­ten Men­schen unse­rer Art starb, bis hin zu dei­nem Freund, der ges­tern ver­schied. Inzwi­schen leben mehr Men­schen auf der Erde, als jemals auf ihr gestor­ben sind. Obwohl wir uns immer noch umbrin­gen und auch die Viren ihr letz­tes Wort noch nicht gespro­chen haben. – Die Toten gehen so, wie sie im Augen­blick ihres Todes waren. Schwarz und nackt im Fall der ers­ten Gestor­be­nen, oder eben im Pyjama, mit einem ein­ge­schla­ge­nen Schä­del, ohne Beine, bleich, im Geh­rock, mit einer Schie­ber­mütze auf dem Kopf, einem Stahl­helm. Wir sehen die See­len nicht, die Auf­merk­sa­me­ren unter uns spü­ren sie zuwei­len, vor allem, wenn wir durch eine hin­durch­ge­hen, die nicht aus­wei­chen kann oder will. Wozu auch? Wir frös­teln und haben einen Wider­stand gespürt, so etwas wie dicke Luft.”

Zwei Ver-rückte auf Umwegen in die Hölle, zuweilen in den Himmel

Urs Widmer - Schriftsteller - Glarean Magazin
Urs Wid­mer (1938-2014)

Sol­cher­mas­sen die Route die­ser Reise von Lus­tig und Wid­mer abge­steckt erhal­ten, pil­gert man nun als Leser los, 140 Sei­ten lang, an bei­den Hän­den geführt von zwei Ver-rück­ten, die einen schnur­stracks, oder auch auf Umwe­gen, in die Hölle reis­sen, zuwei­len in den Him­mel heben. Gott bewahre, lang­wei­lig sind die zwei Autoren wirk­lich nicht, sie unter­hal­ten auf Teu­fel komm raus:
“Im Anfang war das Bild. Fürs erste Bild kommt auch der beste Maler heute zu spät. Weil das so ist, wol­len die Maler wenigs­tens das letzte Bild haben. Das ist ver­ständ­lich. Wozu mal­ten sie sonst. Die Schöp­fung war nach sechs Tagen Arbeit ein pracht­vol­les Gemälde gewor­den, das sein Schöp­fer am sie­ben­ten Tag mit Wohl­ge­fal­len ansah. Spä­ter sah er das, was er da getan hatte, eher als eine Art Tes­ta­ment, ein Ver­mächt­nis, als einen Ent­wurf für etwas, was ihm spä­ter noch viel bes­ser gelin­gen sollte. Aber er machte sich dann kein zwei­tes Mal an die Arbeit, jene sechs Tage hat­ten ihn aus­ge­laugt. […] Die Arbeit Got­tes fer­tig­ma­chen, einer muss es ein­mal tun. Schön­heit schaf­fen, Ent­set­zen. So viel Zeit bleibt uns ja nicht mehr dafür. Nir­gendwo tanzt es sich schö­ner als auf der heis­sen Herd­platte. Kei­nen Augen­blick hal­ten die Tan­zen­den inne.”

Valentin Lustig (*1955)
Valen­tin Lus­tig (*1955)

Es ist diese spi­ri­tu­elle, um nicht zu sagen reli­giöse Ein­kehr von Bild und Text bei “Gott und der Welt und bei allen Zei­ten”, die aus jeder Seite des Ban­des spricht. Aller­dings nicht die stille, kon­tem­pla­tive, quasi ver­söhn­li­che Man­tra-Ein­kehr, son­dern eine des Ner­vö­sen, des Sprung­haf­ten, des frei­schwe­ben­den Asso­zi­ie­rens – jene, wel­che die bei­den Autoren in ihrem Buch zuwei­len als “Insom­nia” bezeich­nen. Wid­mer und Lus­tig keh­ren ein bei Koper­ni­kus und bei Bart Simpson, in Hiro­shima und in Zürich, zu Michel­an­ge­los David und zu den Pago­den Macaos, um end­lich über Ham­let und dem Glo­bal Warm­ing oder auch über Max Bill und dem Spitz­schna­beler­pel bei der Madonna in Man­hat­tan und der Tante Hoka in der Bade­wanne (vol­ler Getier) zu lan­den. Auf Schritt und Tritt wird der Leser, wel­cher der dritte Pil­ger ist, an Abgründe gezerrt, doch nicht hin­un­ter­ge­stos­sen. Und hin­ters Licht geführt, auf dass er bes­ser sehe. Und Wid­mer schreibt und schreibt und schreibt – und kei­nen Augen­blick geschwät­zig, son­dern unan­ge­strengt kon­zen­triert, falls das geht, und bis in den Mikro­kos­mos der Wort-Wort-Bezie­hung hin­ein aus­kom­po­niert: “…Der iri­sche Phi­lo­soph de Selby (der­selbe, der…)”

Alle Erfahrungswelten mit Sprache erschlossen

In dem Dialog-Band von Urs Widmer: "Valentin Lustigs Pilgerreise - Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde" beschreiten der Schweizer Dichter Widmer und sein rumänischer Brieffreund Lustig - mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leerschlucken, mal auch bloss interessant - einen Pilgerweg, dessen 33 Stationen nur einen Nachteil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn diesem Paar könnte man noch tagelang beim Kunstmachen zuschauen...
In dem Dia­log-Band von Urs Wid­mer: “Valen­tin Lus­tigs Pil­ger­reise – Bericht eines Spa­zier­gangs durch 33 sei­ner Gemälde” beschrei­ten der Schwei­zer Dich­ter Wid­mer und sein rumä­ni­scher Brief­freund Lus­tig – mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leer­schlu­cken, mal auch bloss inter­es­sant – einen Pil­ger­weg, des­sen 33 Sta­tio­nen nur einen Nach­teil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn die­sem Paar könnte man noch tage­lang beim Kunst­ma­chen zuschauen…

Wer die­sem Urs Wid­mer beim Schrei­ben zuhört, kann Musik sehen – eine Art Wid­mer-Sound. Mir ist kein Schwei­zer Schrift­stel­ler bekannt, der sol­che Unge­heuer von Gemälde ertö­nen las­sen kann wie die­ser zurecht viel­fach aus­ge­zeich­nete Bas­ler Dich­ter mit dem zwie­lich­ten Blick und dem klaf­fen­den Haar. Die­sem Autor scheint keine Erfah­rungs­welt ver­schlos­sen, und kein Gebiet des Erle­bens, das sich nicht zumin­dest andeu­tungs­weise mit Spra­che fas­sen liesse. Der Wid­mer­sche Wör­ter- und Sätze-Kos­mos mag (Lite­ra­tur-ver­hält­nis­mäs­sig) ein­fach sein, aber seine Bedeu­tungs-Wei­ten sind der schiere Zau­ber. Er und sein Brief-Freund Valen­tin beschrei­ten – mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leer­schlu­cken, mal auch bloss inter­es­sant – einen Pil­ger-Weg, des­sen 33 Sta­tio­nen nur einen Nach­teil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn die­sem Paar könnte man noch tage­lang beim Kunst­ma­chen zuschauen. Auch wenn schon zutrifft, wie’s Seite 102 heisst: “Das Eigent­li­che bleibt immer unge­malt. Unge­schrie­ben auch, übrigens.” ♦

Urs Wid­mer & Valen­tin Lus­tig: Valen­tin Lus­tigs Pil­ger­reise, Bericht eines Spa­zier­gangs durch 33 sei­ner Gemälde, Mit Brie­fen des Malers an den Ver­fas­ser, Dio­ge­nes Ver­lag, 140 Sei­ten, ISBN 978-3257066340

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Wort-Bild-Medi­ta­tion” auch von Bernd Giehl und Huber­tus Graf: Die Offen­ba­run­gen des Schwar­zen Quadrats

sowie zum Thema lite­ra­ri­scher Humor: Anek­do­ten aus der Welt der Literatur


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