Bärenreiter: Lexikon Musik und Gender

Musikgeschichte im Fokus des Weiblichen

von Wal­ter Eigenmann

Mu­sik­ge­schich­te und -wer­ke, die Kom­po­nie­ren­den und In­ter­pre­tie­ren­den, de­ren bio­gra­phisch de­ter­mi­nier­ten Mo­ti­va­tio­nen eben­so wie ihre über­ge­ord­ne­ten So­zi­al­ge­fü­ge aus de­zi­diert gen­der-spe­zi­fi­schem Blick­win­kel ab­zu­han­deln ist für die Mu­sik­wis­sen­schaft ein so be­kann­tes An­lie­gen nicht, wie es die his­to­ri­schen Fak­ten der The­ma­tik ei­gent­lich er­for­der­lich mach(t)en. Die Frau im Fo­kus der mu­sik­theo­re­ti­schen, -his­to­ri­schen und -so­zio­lo­gi­schen Un­ter­su­chung: da­von kann erst seit ca. zwei Jahr­zehn­ten die Rede sein.

Lexikon - Musik und Gender - Bärenreiter und Metzler VerlageJahr­hun­der­te lang spiel­te viel­mehr in­ner­halb der Mu­sik­wis­sen­schaft die Frau­en­for­schung eine mar­gi­na­li­sier­te Rol­le; zu om­ni­prä­sent und -po­tent war im Main­stream das „hel­di­sche Prin­zip“, wel­ches die Kom­po­nis­ten als Ge­nies ver­ein­nahm­te und die Mu­sik­kul­tur in mas­ku­lin-mi­li­tä­ri­sche Ka­te­go­rien wie „Fort­schritt“ und „He­ge­mo­nie“ zer­leg­te. Oder wie es schon Gui­do Ad­ler (in sei­ner „Vier­tel­jah­res­schrift für Mu­sik­wis­sen­schaft“) hell­hö­rig um­riss: „Die Ge­schich­te der Mu­sik ent­hält in den Bio­gra­phien der Ton­set­zer, in der Dar­stel­lung ih­res Rin­gens und Kämp­fens, der Strei­tig­kei­ten um die Gel­tend­ma­chung ih­rer Wer­ke, ih­rer Ei­gen­art förm­lich ein Stück Kriegsgeschichte.“

Das Ökosystem Kultur der längst fälligen Revision zugeführt

Die beiden "Musik und Gender"-Herausgeberinnen Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld
Die bei­den „Mu­sik und Gender“-Herausgeberinnen An­net­te Kreut­zi­ger-Herr und Me­la­nie Unseld

Die­ser re­du­zie­ren­den He­roi­sie­rung in der ge­sell­schaft­lich de­ter­mi­nier­ten Mu­sik­ge­schichts­schrei­bung bzw. ih­rer (männ­li­chen) Haupt­ak­teu­re wird zu­neh­mend ein dif­fe­ren­zie­ren­des For­schungs­bild ent­ge­gen­ge­setzt, das den weib­li­chen An­teil an be­deut­sa­men Le­bens­läu­fen auf­ar­bei­tet, die Mas­se an ent­spre­chen­dem neu­ent­deck­tem his­to­ri­schem Ma­te­ri­al bi­lan­ziert und das „be­gra­dig­te“ Öko­sys­tem Kul­tur, wel­ches lan­ge nur dem Männ­li­chen Krea­ti­tiv­ät und Ei­gen­stän­dig­keit so­wie öf­fent­li­ches Wir­ken zu­ge­stand, sei­ner längst not­wen­di­gen Re­vi­si­on zu­füh­ren will.

An die­sem Punk­te der ge­schlecht­er­ori­en­tier­ten Mu­sik-Dis­kus­si­on kommt das ers­te deutsch­spra­chi­ge Le­xi­kon zum The­ma „Mu­sik und Gen­der“ ge­ra­de rich­tig, das die bei­den deut­schen Mu­sik­wis­sen­schaft­le­rin­nen An­net­te Kreut­zi­ger-Herr und Me­la­nie Un­seld als Ge­mein­schafts­pro­jekt der Ver­la­ge Metz­ler und Bä­ren­rei­ter un­längst her­aus­ga­ben. Der über 600-sei­ti­ge Band zeich­net in ei­nem ers­ten his­to­ri­schen Ab­schnitt alle Fa­cet­ten weib­li­chen Mu­sik­schaf­fens vom 12. bis zum 20. Jahr­hun­dert nach, do­ku­men­tiert hier die Ge­schlech­ter­di­men­si­on an­hand der ers­ten ein­fluss­reichs­ten – wenn­gleich zeit­ge­nös­sisch mar­gi­na­li­sier­ten – Mu­si­ke­rin­nen und Kom­po­nis­tin­nen, be­zieht ihre ge­sell­schaft­li­chen Kon­tex­te vom Klos­ter­le­ben über die hö­fi­schen Kul­tu­ren und die spä­te­re bür­ger­li­che Haus­mu­sik bis zum in­ter­na­tio­na­len Mul­ti­me­dia-Mu­sik­be­trieb der Neu­zeit mit ein, the­ma­ti­siert den all­mäh­li­chen „Auf­stieg“ des Weib­li­chen in Mu­sik und Ge­sell­schaft bis hin zur mo­der­nen, weit­ge­hend pa­ri­tä­ti­schen Situation.

Der zwei­te, sys­te­ma­ti­sche Teil brei­tet dann als ei­gent­li­ches Le­xi­kon auf über 400 Sei­ten eine Fül­le von (teils aus­ge­dehn­ten) Sach- und Per­so­nen­ar­ti­keln aus zu prak­tisch al­len we­sent­li­chen Stich- und Schlag­wor­ten der ak­tu­el­len mu­sik­wis­sen­schaft­li­chen Gen­der­for­schung. Ein um­fang­rei­cher An­hang mit bi­blio­gra­phi­schen so­wie Per­so­nen-,  Au­toren- und In­sti­tu­tio­nen-Re­gis­tern run­det den Band ab.

Links das Original-Ölbild von Hans Hansen:
Links das Ori­gi­nal-Öl­bild von Hans Han­sen: „Con­stan­ze Mo­zart“. Die­se hält ein Kon­vo­lut in Hän­den, auf des­sen Ti­tel­blatt „Oeu­vres de MOZART“ er­sicht­lich ist. Rechts die in vie­len (auch wis­sen­schaft­li­chen) Re­pro­duk­tio­nen ver­wen­de­te, ge­schwärz­te Fäl­schung die­ses Ti­tel­blat­tes, um den ak­ti­ven Bei­trag der Frau Mo­zarts zur Mo­zart-Re­zep­ti­on zu ne­gie­ren. (Quel­le: Le­xi­kon „Mu­sik und Gen­der“ / S.94)

Strikte Beschränkung auf den weiblichen Blickwinkel

Die Troubairitz (= weibliches Gegenstück des Troubadours) Comtessa de Dia (oder Beatriz de Dia / Mitte 12. Jh.) in einer Initiale-Abbildung. Die einzige überlieferte Melodie einer Trobairitz stammt von ihr.
Die Trou­bai­ritz (= weib­li­ches Ge­gen­stück des Trou­ba­dours) Com­tessa de Dia (oder Bea­triz de Dia / Mit­te 12. Jh.) in ei­ner In­itia­le-Ab­bil­dung. Die ein­zi­ge über­lie­fer­te Me­lo­die ei­ner Tro­bai­ritz stammt von ihr.

Die strikt durch­ge­hal­te­ne Be­schrän­kung der bei­den Her­aus­ge­be­rin­nen auf den weib­li­chen Blick­win­kel, mit dem hier Mu­sik­ge­schich­te ge­sich­tet wird, re­sul­tiert in der to­ta­len Aus­klam­me­rung prak­tisch al­ler männ­li­chen Bio­gra­phien und Wir­kungs­ge­schich­ten von Bach bis Bou­lez – was ih­rer­seits grund­sätz­lich die Ge­fahr ei­ner „be­gra­di­gen­den“ Ein­di­men­sio­na­li­tät der Dar­stel­lung birgt. Sol­cher ideo­lo­gi­schen „Fe­mi­ni­sie­rung“ wirkt al­ler­dings al­lein schon der Um­stand ent­ge­gen, dass die Bei­trä­ge von ins­ge­samt über 170 Au­torin­nen und Au­toren stam­men (zum re­dak­tio­nel­len Mit­ar­bei­ter­stab zähl­ten u.a. zahl­rei­che Dok­to­ran­dIn­nen und stu­den­ti­sche Mit­ar­bei­te­rIn­nen ver­schie­de­ner deut­scher Musikhochschulen).
Da­bei be­ein­druckt  die Ma­te­ri­al­fül­le an Fak­ten und Ana­ly­sen, mit der das Le­xi­kon sei­ner noch jun­gen The­ma­tik ge­recht wird. Die Aus­deh­nung des Gen­der-Be­griffs auf alle Be­rei­che des his­to­ri­schen wie ak­tu­el­len Mu­sik­schaf­fens und -le­bens zei­tigt hier ein mu­sik­his­to­ri­sches Pan­ora­ma, das von je­der tra­di­tio­na­lis­tisch (um nicht zu sa­gen: pa­tri­ar­cha­lisch) re­zi­pie­ren­den Ge­schichts­schrei­bung nicht als Kon­trast, son­dern als we­sent­lich er­gän­zen­des Pen­dant zu er­fah­ren ge­zwun­gen wird.

„Mu­sik und Gen­der“ ist ein Le­xi­kon, das sehr ver­dienst­voll ei­nen Jahr­hun­der­te lang ver­nach­läs­sig­ten For­schungs-Ge­gen­stand in sei­ne be­deut­sa­me Stel­lung zu­rück setzt. Über­sicht­lich struk­tu­rier­ter Auf­bau, ein­drück­li­che his­to­ri­sche Ma­te­ri­al­fül­le, Kom­pe­tenz der Ein­zel­es­says und (last but not least) eine ge­wollt feuil­le­to­nis­ti­sche, er­fri­schend „un­le­xi­ka­li­sche“ Spra­che ha­ben ein Stan­dard-Nach­schla­ge­werk ent­ste­hen lassen.

Na­tür­lich spie­len da­bei in man­chen Buch­ab­schnit­ten auch nach Jahr­hun­der­ten noch ak­tu­el­le Fra­gen hin­ein wie bei­spiels­wei­se, war­um es zwar Har­fe­nis­tin­nen, aber kaum Po­sau­nis­tin­nen oder Per­kus­sio­nis­tin­nen gibt, war­um nach wie vor von Frau­en nur we­nig nen­nens­wer­te Sin­fo­nik exis­tiert, war­um sich noch im­mer das Kli­schee vom Jazz als ur­ei­ge­ne Män­ner­do­mä­ne hält – der An­teil weib­li­cher Stu­die­ren­der in eu­ro­päi­schen Jazz-Stu­di­en­gän­gen be­trägt un­ter 15% -, oder etwa auch, war­um Jungs sel­ten Block­flö­te spie­len. Dies­be­züg­lich hat auch neu­zeit­li­che Mu­sik­päd­ago­gik ei­nen An­teil an der Diskussion.
Über der­art rol­len­spe­zi­fisch Pro­ble­ma­ti­sches hin­aus­ge­hend ver­mit­telt aber das Le­xi­kon „Mu­sik und Gen­der“ noch weit mehr, näm­lich die durch zahl­rei­che Un­ter­su­chun­gen ge­stütz­te Ge­wiss­heit, dass ver­schie­de­ne – und nicht die un­wich­tigs­ten – Ka­pi­tel der kon­ser­va­ti­ven Mu­sik­ge­schichts­schrei­bung wenn nicht um­ge­schrie­ben, so doch re­vi­diert wer­den müs­sen. Um die zwei Her­aus­ge­be­rin­nen zu zi­tie­ren:  „Der über lan­ge Zeit ekla­tan­te Aus­schluss von Frau­en aus vie­len Be­rei­chen der Mu­sik­kul­tur ist Teil un­se­res his­to­ri­schen Er­bes, den wir we­ni­ger zu be­wer­ten als viel­mehr zu ver­ste­hen ha­ben. Dazu ist Grund­la­gen­wis­sen not­wen­dig, das wir durch die Fo­kus­sie­rung auf Frau­en be­reit­stel­len wollten.“

Einen Jahrhunderte lang vernachlässigten Forschungsgegenstand aktualisiert

Mu­sik und Gen­der“ ist ein Le­xi­kon, das höchst ver­dienst­voll ei­nen Jahr­hun­der­te lang ver­nach­läs­sig­ten, in den Ver­äs­te­lun­gen wohl noch im­mer nicht völ­lig über­blick­ba­ren For­schungs­ge­gen­stand wie­der in sei­ner be­deut­sa­men Stel­lung in­stal­liert. Über­sicht­lich struk­tu­rier­ter Auf­bau, ein­drück­li­che his­to­ri­sche Ma­te­ri­al­fül­le, Kom­pe­tenz in den Ein­zel­es­says und (last but not least) eine ge­wollt feuil­le­to­nis­tisch-flüs­si­ge, er­fri­schend „un­le­xi­ka­li­sche“ Spra­che ha­ben ein Stan­dard-Le­se­buch wie -Nach­schla­ge­werk der jüngs­ten mu­sik­wis­sen­schaft­li­chen Gen­der-For­schung ent­ste­hen lassen.
Dem Band hät­te man im ers­ten mu­sik­his­to­ri­schen Ab­schnitt noch ei­nen spe­zi­el­len Ex­kurs zur aus­ser­eu­ro­päi­schen Si­tua­ti­on der The­ma­tik so­wie im zwei­ten le­xi­ka­li­schen Teil stär­ke­re Ver­wen­dung von Il­lus­tra­tio­nen al­ler Art ge­gönnt, wor­auf je­doch zu­guns­ten des sehr um­fang­rei­chen Stich­wor­te-Ap­pa­ra­tes ver­zich­tet wer­den muss­te. Ins­ge­samt un­be­dingt eine eben­so will­kom­me­ne wie not­wen­di­ge Edi­ti­on, die für län­ge­re Zeit die Re­fe­renz in ih­rem The­ma ein­neh­men dürfte ♦

An­net­te Kreut­zi­ger-Herr / Me­la­nie Un­seld (Hg.): Mu­sik und Gen­der – Le­xi­kon, Ver­la­ge Metz­ler und Bä­ren­rei­ter, 610 Sei­ten, ISBN 978-3-476-02325-4

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