Chessbase: Vasily Smyslov – Master Class Band 14

Die “Suche nach Harmonie”

von Mario Ziegler

Was­si­li Was­sil­je­witsch Smy­s­low (bzw. Va­si­ly Smys­lov) war der sieb­te Welt­meis­ter der Schach­ge­schich­te – und eine der viel­fäl­tigs­ten Per­sön­lich­kei­ten des in­ter­na­tio­na­len Schach­s­ports. Man at­tes­tier­te dem Spiel die­ses rus­si­schen Groß­meis­ters (und stu­dier­ten Ba­ri­ton-Sän­gers) ein be­son­de­res Stre­ben nach har­mo­ni­schen Fi­gu­ren­stel­lun­gen. Die­se “Har­mo­nie” sorg­te al­ler­dings nicht da­für, dass sein Le­ben und Schaf­fen im brei­ten Schach-Feuil­le­ton über­durch­schnitt­li­che Auf­merk­sam­keit zu­ge­stan­den wur­de. Eine neue DVD aus dem Hau­se Ch­ess­ba­se will da et­was nachbessern.

Vasily Smyslov - Wassili Smyslow - Master Class Vol. 14 - Chessbase (Fritz-Trainer)Ich muss ge­ste­hen, dass ich vor der An­fer­ti­gung die­ser Re­zen­si­on viel zu we­nig über Was­si­li Was­sil­je­witsch Smy­s­low (1921-2010) wuss­te. Na­tür­lich, er war Welt­meis­ter von 1957 bis 1958, nach­dem er in sei­nem ers­ten An­lauf 1954 Ti­tel­ver­tei­di­ger Bot­win­nik bei ei­nem End­stand von 12:12 denk­bar knapp nicht ent­thro­nen konn­te. Auf dem Weg zu sei­nen bei­den Ti­tel­kämp­fen ge­wann er zwei der wich­tigs­ten Tur­nie­re der Schach­ge­schich­te, die Kan­di­da­ten­tur­nie­re von 1953 und 1956, de­nen in Form der Tur­nier­bü­cher her­aus­ra­gen­de li­te­ra­ri­sche Denk­mä­ler ge­setzt wurden.

Die “Master Class” – Reihe von Chessbase

Denkt man an Smy­s­low, so schwingt so­gleich das Wort “Har­mo­nie” mit – lag doch dem 7. Welt­meis­ter, der auch aus­ge­bil­de­ter Ba­ri­ton­sän­ger war, ein be­son­de­res Stre­ben nach har­mo­ni­scher Fi­gu­ren­stel­lung am Her­zen, wie be­reits der Ti­tel sei­nes 1979 er­schie­ne­nen Wer­kes na­he­legt: “Auf der Su­che nach Har­mo­nie”. Und doch sind das nicht eben vie­le In­for­ma­tio­nen über eine der her­aus­ra­gen­den Ge­stal­ten der Schach­ge­schich­te. Umso ge­spann­ter war ich auf die DVD, die vor we­ni­gen Wo­chen im Hau­se Ch­ess­Ba­se als 14. Band der Rei­he “Mas­ter Class” her­aus­ge­ge­ben wur­de. Da­mit feh­len in der il­lus­tren Rei­he der be­spro­che­nen Schach­gi­gan­ten von den Welt­meis­tern le­dig­lich noch Wil­helm Stei­nitz und Max Euwe.

Schach-Weltmeister und Bariton-Sänger: Wassily Smyslow (1921-2010))
Schach-Welt­meis­ter und Ba­ri­ton-Sän­ger: Was­si­ly Smy­s­low (1921-2010)

Nach ei­ner Kurz­bio­gra­phie wird Smy­s­lows Schaf­fen in den Be­rei­chen Er­öff­nung, Stra­te­gie, Tak­tik und End­spiel un­ter­sucht. Je­des Ka­pi­tel ent­hält meh­re­re Vi­de­os, sehr oft mit Trai­nings­fra­gen ver­se­hen. Im Ka­pi­tel über die Er­öff­nung stellt Yan­nick Pel­le­tier Smy­s­lows die The­se auf, dass die Aus­ein­an­der­set­zung mit Bot­win­nik, mit dem sich Smy­s­low in drei Welt­meis­ter­schaf­ten maß, gro­ßen Ein­fluss auf sei­ne Er­öff­nun­gen, ins­be­son­de­re sein Schwarz­re­per­toire, ge­habt habe. In­ter­es­sant und in ge­wis­ser Wei­se be­zeich­nend für Smy­s­lows Stil ist das zwei­te Vi­deo, in dem das Kon­zept des Dop­pel­fi­nan­chet­tos be­han­delt wird, das von Smy­s­low mit gro­ßem Er­folg ge­wählt wur­de, um theo­re­ti­sche De­bat­ten zu ver­mei­den. Er ver­such­te mit Weiß von vor­ne­her­ein nicht, aus der Er­öff­nung her­aus deut­li­chen Vor­teil zu er­zie­len, son­dern spiel­ba­re Stel­lun­gen zu erhalten.

Untheoretisches Vorgehen” in der Eröffnung

Mit die­sem An­satz kommt Smy­s­low dem Vor­ge­hen heu­ti­ger Spit­zen­spie­ler er­staun­lich nahe. Dass die­ses “un­theo­re­ti­sche” Vor­ge­hen auch ge­gen sehr star­ke Geg­ner Früch­te trug, zeigt eine Schlüs­sel­par­tie im Kan­di­da­ten­tur­nier 1956 ge­gen ei­nen sei­ner Haupt­kon­kur­ren­ten, näm­lich Da­vid Bron­stein. Al­ler­dings deckt die­se Par­tie auch eine klei­ne Schwä­che der DVD auf, näm­lich die (mei­ner An­sicht nach) ge­le­gent­lich et­was zu pau­scha­len Bewertungen:

Smyslow-Bronstein - Amsterdam 1956

Enge Verbindung von Strategie und Taktik

Peter Hammer - Rätsel - Denksport - Insertion GLAREAN MAGAZIN - Oktober 2021
An­zei­ge

Smy­s­lows Stra­te­gie im Mit­tel­spiel nä­hert sich in sie­ben Vi­de­os Mihail Ma­rin an. Er be­tont die enge Ver­bin­dung von Stra­te­gie und Tak­tik: Smy­s­low sei kein ech­ter Po­si­ti­ons­spie­ler, als wel­cher er oft ge­se­hen wird, son­dern ein kom­plet­ter Spie­ler, der sei­ne Geg­ner erst po­si­tio­nell über­spiel­te, um die Par­tie da­nach tak­tisch zu ent­schei­den. In die­ser Hin­sicht zieht Ma­rin den über­ra­schen­den Ver­gleich zu Al­je­chin – si­cher nicht der Spie­ler, an den man am ehes­ten den­ken wür­de, wenn man Smy­s­low vor Au­gen hat. Sehr in­ter­es­sant ist die Ana­ly­se drei­er “Spät­wer­ke” – Par­tien, die Smy­s­low im Herbst sei­ner lan­gen Kar­rie­re im Al­ter von 52, 62 und 72 Jah­ren ge­gen an­de­re Welt­klas­se­spie­ler ge­win­nen konn­te. Ma­rin be­zeich­net Smy­s­lows Par­tien im Al­ter so­gar als “schö­ner und rei­ner” als die­je­ni­gen zu sei­ner Glanzzeit.

Smyslows Endspiel-Schaffen

Karsten Müller - Schach-Endspiel-Experte - GLAREAN MAGAZIN
End­spiel-Ex­per­te Dr. Kars­ten Müller

Mit Kars­ten Mül­ler wid­met sich ein aus­ge­wie­se­ner End­spiel­ex­per­te dem Schaf­fen Smy­s­lows in der letz­ten Par­tie­pha­se. Auch in den ge­wähl­ten 6 Bei­spie­len (dar­un­ter drei Turm­end­spie­len) wird das viel­be­schwo­re­ne Stre­ben nach Har­mo­nie be­müht. Die Bei­spie­le sind durch­ge­hend ein­drucks­voll und wer­den von Mül­ler gut er­klärt, wenn­gleich man sie, wie auch Mül­ler selbst be­tont, viel ein­ge­hen­der stu­die­ren soll­te als le­dig­lich in Form des Videos.
Ne­ben dem End­spiel ge­hö­ren die tak­ti­schen Fä­hig­kei­ten zu Smy­s­lows her­aus­ra­gen­den Ei­gen­schaf­ten. In 25 in­ter­ak­ti­ven Tak­tik­auf­ga­ben wid­met sich Oli­ver Reeh die­sem Bereich.

Fehlende Datenbank mit Smyslow-Studien

Als Bo­nus ent­hält die DVD alle 2856 von Smy­s­low ge­spiel­ten Par­tien (teil­wei­se mit Kom­men­ta­ren ver­se­hen), wei­te­re von Oli­ver Reeh auf­be­rei­te­te Trai­nings­fra­gen so­wie ein aus den Par­tien des Ex­welt­meis­ters ge­ne­rier­tes Eröffnungsbuch.

Screenshot Vasily Smyslov - DVD Chessbase - Marin (Strategie) - GLAREAN MAGAZIN
Screen­shot aus “Va­si­ly Smys­lov – Mas­ter Class Band 14”: Stra­te­gie-Ana­ly­sen von M. Marin

Wäh­rend sich mir der Nut­zen die­ser Er­öff­nungs­bü­cher, die sich auch in an­de­ren Pu­bli­ka­tio­nen fin­den, nicht recht er­schließt, hät­te ich die eine oder an­de­re Zu­ga­be nütz­lich ge­fun­den. Eine Über­sicht über Smy­s­lows Er­fol­ge mag vor al­lem aus Sicht ei­nes an Schach­his­to­rie In­ter­es­sier­ten wün­schens­wert sein, doch sind es nicht ge­ra­de Fans der Schach­ge­schich­te, die als Käu­fer sol­cher DVDs in Fra­ge kom­men? Eben­so hät­te eine Da­ten­bank mit den ca. 150 von Smy­s­low kom­po­nier­ten Stu­di­en die DVD abgerundet.

Interessante Gesamtschau

Wohl­ver­stan­den: Das ist Mä­keln auf ho­hem Ni­veau. Wenn man die DVD als das be­greift, als was sie kon­zi­piert wur­de, er­füllt sie die Er­war­tun­gen voll­kom­men: Es wird eine in­ter­es­san­te, kom­pe­ten­te Zu­sam­men­schau des Smyslow’schen Schaf­fens in den ver­schie­de­nen Par­tie­pha­sen ge­bo­ten und dem Zu­schau­er die Mög­lich­keit er­öff­net, an Schlüs­sel­stel­len selbst den Ent­schei­dun­gen des Meis­ters nachzuspüren. ♦

K. Mül­ler / M. Ma­rin / O. Reeh / Y. Pel­le­tier: Va­si­ly Smys­lov – Mas­ter Class Band 14, Ch­ess­ba­se Hamburg

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Welt­meis­ter auch über An­dré Schulz: Das gro­ße Buch der Schach-Weltmeisterschaften

2 Kommentare

  1. Sehr ge­ehr­ter Herr Pelletier,

    vie­len Dank für Ihre Anmerkung.

    Ich habe die Stel­lung nach 23.b5 aus der Par­tie Smy­s­low-Bron­stein re­la­tiv lan­ge mit Hil­fe von En­gi­nes über­prüft. Es er­schien mir nicht not­wen­dig, in der Re­zen­si­on die ex­ak­ten De­tails an­zu­ge­ben, um die­se nicht um­fang­rei­cher zu ge­stal­ten als er­for­der­lich, wer­de es aber ger­ne nachholen.

    Ich habe die Stel­lung mit Hil­fe von Hou­di­ni 6.02 und Stock­fi­sh 11 auf ei­nem Eight-Core-Pro­ces­sor mit 32 GB RAM ana­ly­siert. Nach ca. 3 Stun­den Dau­er­ana­ly­se be­wer­tet Hou­di­ni die Stel­lung mit +0,17, Stock­fi­sh mit +0,00 Bau­ern­ein­hei­ten. Ich gebe ger­ne zu, dass die­se En­gi­ne­be­wer­tun­gen die mensch­li­che Sei­te nicht be­rück­sich­ti­gen, aber sie spre­chen aus mei­ner Sicht je­den­falls nicht für ei­nen deut­li­chen wei­ßen Vor­teil oder da­für, dass Smy­s­low sei­nen Geg­ner an die­ser Stel­le be­reits über­spielt hät­te. In der Fol­ge be­wer­ten die En­gi­nes 24…Lxg5 als un­ge­nau und be­vor­zu­gen 24…g6 und möch­ten im 25.Zug eher mit dem Turm auf b4 neh­men um die Da­men auf dem Brett zu be­hal­ten, aber grund­sätz­lich ver­än­dert sich die Be­wer­tung erst mit dem 31.Zug. Hier schät­zen die En­gi­nes die Stel­lung (nach 31.Ta1) bei­de als +0,00 ein, nach Bron­steins Läu­fer­zug schnellt die Be­wer­tung auf +0,86 (Hou­di­ni) bzw. +1,48 (Stock­fi­sh).
    Dass an­de­re En­gi­nes auf an­de­rer Hard­ware zu leicht an­de­ren Be­wer­tun­gen kom­men kön­nen, steht selbst­ver­ständ­lich au­ßer Frage.

    Vie­le Grüße
    Ma­rio Ziegler

  2. Hier­mit be­dan­ke ich mich bei dem Au­tor für die Re­zen­si­on der Smys­lov Masterclass-DVD.
    Sei­ne Kri­tik gen­gen­über mei­ner Ein­schät­zung zur Par­tie Smys­lov-Bron­stein ist mir je­doch ein Rät­sel. Nor­ma­ler­wei­se un­ter­stüt­zen Ama­teu­re ihre Kri­tik zu Ana­ly­sen von Gross­meis­tern mit der Hil­fe des Com­pu­ters, wo­bei oft die mensch­li­schen Kom­po­nen­te feh­len. In die­sem Fall scheint dies aber nicht ein­mal der Fall zu sein… Selbst die En­gi­nes deu­ten in der Stel­lung nach 23.b5 auf ei­nen deut­li­chen weis­sen Vor­teil hin. Ein­fach ist die Lage selbst­ver­ständ­lich für bei­de Sei­ten nicht, und es ist nicht er­staun­lich, dass bei­de Le­gen­den in der Fol­ge Feh­ler be­gin­gen. Eine mög­li­che Ver­bes­se­rung bie­tet 25.Txb4, ob­wohl Weiss auch nach dem Da­men­tausch leicht in Vor­teil bleibt.
    Ich be­haup­te also, dass die gan­ze Er­öff­nungs­an­la­ge für Weiss er­folg­reich ab­lief, und wie­der­ho­le, dass Smys­lov im Gan­zen sei­nen Geg­ner überspielte.

    MfG
    GM Yan­nick Pelletier

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