Frank Schuster: Das Haus hinter dem Spiegel (Roman)

Ein Schach-Roman für
Carroll−Liebhaber

von Sabine & Mario Ziegler

Zu den gros­sen Klas­si­kern der Welt­li­te­ra­tur ge­hö­ren zwei­fel­los die bei­den Ro­ma­ne “Ali­ce im Wun­der­land” (“Alice’s Ad­ven­tures in Won­der­land”) und “Ali­ce hin­ter den Spie­geln” (“Th­rough the Loo­king-Glass, and What Ali­ce Found The­re”), ver­fasst in den Jah­ren 1865 und 1871 vom bri­ti­schen Schrift­stel­ler Le­wis Car­roll (ei­gent­lich Charles Lut­widge Dodgson, 1832-1898). Wie kaum ein an­de­res Kin­der­buch fan­den Ali­ce und ihre zahl­rei­chen skur­ri­len Ver­bün­de­ten und Wi­der­sa­cher Ein­gang in Li­te­ra­tur, Mu­sik und Film. In die lan­ge Rei­he von Re­zep­tio­nen des Ali­ce-The­mas reiht sich auch Frank Schus­ter mit sei­nem Ro­man “Das Haus hin­ter dem Spie­gel”. Es han­delt sich um die zwei­te Mo­no­gra­phie Schus­ters nach dem Ro­man “If 6 Was 9” (Ol­den­burg 2003)

Fantastischer Roman für Jung und Alt

Frank Schuster - Das Haus hinter dem Spiegel - Roman -mainbookDer Klap­pen­text ver­spricht ei­nen “fan­tas­ti­schen Ro­man für Jung und Alt”, und die ers­ten Ka­pi­tel las­sen an ein Ju­gend­buch den­ken: Kur­ze, über­schau­ba­re Ka­pi­tel, die Hand­lung ent­führt den Le­ser in die Welt der bei­den zehn­jäh­ri­gen Schwes­tern Lo­ri­na und Eli­za. Zum Leit­mo­tiv der Ge­schich­te wird eine Schach­fi­gur aus dem Spiel des Va­ters. Die­se Fi­gur, eine schwar­ze Dame, wird von ei­ner Els­ter ent­wen­det. Was zu­nächst le­dig­lich wie ein klei­nes Miss­ge­schick an­mu­tet, we­gen dem der Va­ter sei­ne an­ge­fan­ge­ne Fern­schach­par­tie mit ei­nem Freund nicht wird fort­set­zen kön­nen, ent­puppt sich bald als viel grös­se­res Pro­blem: Es exis­tiert eine par­al­le­le Welt “hin­ter dem Spie­gel”, in der Eli­zas “Zwil­ling” Ali­ce mit ih­rer Fa­mi­lie lebt. Aus ei­nem nicht nä­her be­zeich­ne­ten Grund ver­tau­schen Ali­ce und Eli­za ihre Plät­ze in der je­weils an­de­ren Welt. Als Me­di­um die­ser Ver­wand­lung dient ein gros­ser Spie­gel, den die Fa­mi­lie vor Jah­ren in Eng­land er­stan­den hat­te, und der aus dem Vik­to­ria­ni­schen Zeit­al­ter stammt – just aus der Zeit, in der Car­roll den Ro­man von “Ali­ce hin­ter den Spie­geln” ver­fass­te. Im wei­te­ren Ver­lauf der Ge­schich­te er­fährt der Le­ser nach und nach im­mer mehr De­tails der un­glaub­li­chen Ver­wand­lung von Eli­za zu Ali­ce. Für die Rück­ver­wand­lung am Ende ist – ähn­lich wie bei Car­roll – das Schach­spiel von gros­ser Be­deu­tung, das aber erst wie­der in sei­nen Ori­gi­nal­zu­stand zu­rück­ver­setzt wer­den muss. Hier kom­men der im glei­chen Haus wie die Kin­der woh­nen­de Er­fin­der Herr Rit­ter, der Leh­rer Herr Hundsen und der Psy­cho­lo­ge Herr Kö­nig ins Spiel. Nach vie­len Schwie­rig­kei­ten ge­lingt es, eine Er­satz­fi­gur für die schwar­ze Dame her­zu­stel­len, schliess­lich taucht auch das Ori­gi­nal wie­der auf, und zum gu­ten Schluss kann die Rück­ver­wand­lung durch­ge­führt werden.

Vom Kinderbuch zur Nonsens-Literatur

Lewis Carroll - Fotografie 1863
Le­wis Car­roll (Fo­to­gra­fie von 1863)

Zu die­sem Zeit­punkt hat der Ro­man je­doch schon lan­ge den Cha­rak­ter ei­nes Kin­der­buchs ver­lo­ren. Nicht nur wer­den die Ka­pi­tel zu­neh­mend län­ger, auch die Wort­wahl ver­än­dert sich. Wird zu Be­ginn auf Au­gen­hö­he der Kin­der be­rich­tet, was etwa im Be­lau­schen der El­tern (Ka­pi­tel 4) zum Aus­druck kommt, tre­ten im Lau­fe der Er­zäh­lung zu­neh­mend Wort­spie­le auf, die an die li­te­ra­ri­sche Gat­tung des Non­sens er­in­nern, für den Car­roll be­rühmt war. Das zen­tra­le Ka­pi­tel ist das ach­te, in dem Eli­za zur Ver­blüf­fung ih­rer Mit­schü­ler in Spie­gel­schrift fol­gen­des Ge­dicht schreibt:

Ver­daus­tig war’s, und glas­se Wieben
rot­ter­ten gor­kicht im Gemank.
Gar elump war der Pluckerwank,
und die gab­ben Schwei­sel frieben.

Textimmanente Andeutungen auf historische Figuren

Es han­delt sich hier­bei um die ers­te Stro­phe des Ge­dichts “Der Zip­fer­la­ke” (“Jab­ber­wo­cky”) aus der Fe­der von Le­wis Car­roll, wie dem Ver­tre­tungs­leh­rer Hundsen so­fort klar ist. Frank Schu­berts “Das Haus hin­ter den Spie­geln” ist voll von sol­chen An­spie­lun­gen: Der Gog­gel­mog­gel (im Ori­gi­nal Hump­ty Dump­ty) wird eben­so be­müht wie der Hut­ma­cher aus Ali­ce im Wun­der­land (in Ge­stalt der Deutsch­leh­re­rin “Frau Hut­ma­cher” oder der weis­se Rit­ter (in Ge­stalt des ret­tend ein­grei­fen­den Er­fin­ders Herr Rit­ter). Ne­ben sol­chen text­im­ma­nen­ten An­deu­tun­gen wird auf die his­to­ri­sche Fi­gur Car­roll selbst ver­wie­sen: Nicht zu­fäl­lig ist “Karl-Lud­wig Hundsen” die ex­ak­te Über­set­zung sei­nes bür­ger­li­chen Na­mens Charles Lut­widge Dodgson (die­ser Be­zug wird auf S. 70 aus­drück­lich her­ge­stellt). Die Hin­wei­se er­schlies­sen sich na­tür­lich nur dem­je­ni­gen, der Car­rolls Bio­gra­phie und sei­ne Wer­ke kennt. Für alle an­de­ren bleibt vie­les un­ver­ständ­lich und so­gar ver­wir­rend, etwa wenn in Ka­pi­tel 15 sei­ten­lang Non­sens­poe­sie zi­tiert wird, die die Ge­schich­te nicht vor­an­bringt. Skur­ril wirkt, wenn Eli­za als Gu­te­nacht­ge­schich­te eine wei­te­re Non­sens­bal­la­de aus der Fe­der von Car­roll, “Die Jagd auf den Snark”, vor­ge­le­sen wird.
Bis­wei­len ver­schwim­men die Ebe­nen: Eli­za, das Eben­bild der Carroll’schen Ali­ce, liest selbst Car­rolls Ro­man (S. 79) – im Grun­de also ihre ei­ge­ne Geschichte.

Zahlreiche Handlungsbezüge zum Schach

Wie in der li­te­ra­ri­schen Vor­la­ge so be­geg­nen auch in Schus­ters Ro­man zahl­rei­che Schach­be­zü­ge, be­son­ders in den letz­ten Ka­pi­teln. Hier­bei greift der Au­tor eine Stel­lung auf, die Car­roll selbst zur Grund­la­ge der Hand­lung in “Ali­ce hin­ter den Spie­geln” mach­te. Fol­gen­des Dia­gramm fin­det sich in der Aus­ga­be von “Th­rough the Loo­king-Glass” aus dem Jah­re 1871:

Schuster - Alice chess game
Schus­ter – Ali­ce ch­ess game

Dem Le­ser des Ro­mans leuch­ten die Be­zü­ge zu den Aben­teu­ern der Ali­ce so­fort ein, wozu auch die Far­be “Rot” (statt “Schwarz”) für den Nach­zie­hen­den passt; hier wird das Mo­tiv der “ro­ten Kö­ni­gin” wie­der­auf­ge­grif­fen, das sich be­reits in “Ali­ce im Wun­der­land” fin­det. Ver­wir­rend ist al­ler­dings – ge­ra­de für schach­spie­len­de Le­ser – dass die­se Po­si­ti­on aus der Fern­par­tie des Va­ters stam­men soll. Dies wird be­reits auf S. 7 ver­deut­licht, wo aus­drück­lich zwei Ele­men­te der Stel­lung ge­nannt sind: “So konn­te Papa ein­fach eine E-Mail an den Freund schi­cken, in der er zum Bei­spiel schrieb: ‚Weis­ser Bau­er auf d2.‘ Und sein Freund mail­te dann zu­rück: ‚Schwar­ze Kö­ni­gin von e2 auf h5.‘” Car­roll selbst al­ler­dings folgt bei den oben an­ge­ge­be­nen Zü­gen bis zum Matt zwar den Schach­re­geln, nicht aber der Re­gel, bei­de Spie­ler ab­we­send zie­hen zu las­sen. Viel­mehr ste­hen die Fi­gu­ren auf dem Brett für die han­deln­den Per­so­nen in Car­rolls Roman.
So wür­de der voll­stän­di­ge Ab­lauf bis zum Matt nach Car­roll in heu­ti­ger No­ta­ti­on lauten:
1…Dh5 2.d4 und Dc4 3.Dc5 4.d5 und Df8 5.d6 und Dc8 6.d7 Se7+ 7.Sxe7 und Sf5 8.d8/D De8+ 10.Da6 (die­ser Zug ist – schach­lich be­trach­tet – il­le­gal, da der weis­se Kö­nig im Schach der schwar­zen Dame steht) 11.Dxe8#
Bei Schus­ter wird die Zug­fol­ge nicht kom­plett wie­der­ge­ge­ben, aber durch die vor­han­de­nen An­spie­lun­gen wird dem Car­roll-kun­di­gen Le­ser klar, dass für die Rück­ver­wand­lung von Ali­ce in Eli­za eben jene “Schach­par­tie” zu Ende ge­spielt wer­den muss.

Trotz Märchen-Motiven kein Kinderbuch

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Frank Schus­ters Schach-Ro­man “Das Haus hin­ter dem Spie­gel” ist nicht ein ei­gent­li­ches Kin­der­buch, auch wenn die Haupt­per­so­nen Kin­der sind und die mär­chen­haf­ten Mo­ti­ve ge­eig­net wä­ren, jun­ge Le­ser an­zu­spre­chen. Liest man das Buch als mit dem Schach Ver­trau­ter, ohne die Schach­mo­ti­ve aus Car­rolls Wer­ken zu ken­nen, ist man schnell ob der ver­meint­li­chen “Feh­ler” ver­wirrt. Für Le­wis Car­roll-Fans öff­net der Schus­ters Ro­man aber eine wah­re Schatz­kis­te an Be­zü­gen und bie­tet eine mo­der­ne Neu­in­ter­pre­ta­ti­on des ver­trau­ten Stoffs.

Für wen ist also “Das Haus hin­ter dem Spie­gel” ge­schrie­ben? Of­fen­sicht­lich han­delt es sich nicht um ein Kin­der­buch, auch wenn die Haupt­per­so­nen Kin­der sind und die mär­chen­haf­ten Mo­ti­ve ge­eig­net wä­ren, jun­ge Le­ser an­zu­spre­chen. Liest man das Buch als mit dem Schach Ver­trau­ter, ohne die Schach­mo­ti­ve aus Car­rolls Wer­ken zu ken­nen, ist man schnell ob der ver­meint­li­chen “Feh­ler” ver­wirrt. Es blei­ben die Fans und Lieb­ha­ber der li­te­ra­ri­schen Vor­la­gen von Le­wis Car­roll. Für sol­che Lieb­ha­ber öff­net “Das Haus hin­ter den Spie­geln” eine wah­re Schatz­kis­te an Be­zü­gen und bie­tet eine mo­der­ne Neu­in­ter­pre­ta­ti­on des ver­trau­ten Stoffs. ♦

Frank Schus­ter: Das Haus hin­ter dem Spie­gel, Ro­man, Main­Book Ver­lag, 180 Sei­ten, ISBN 978-3944124728


Sa­bi­ne Ziegler-Staub

Geb. 1982 im Saar­land, Lehr­amts­stu­di­um, Mit­ar­beit an ei­nem For­schungs­pro­jekt im Be­reich Fach­di­dak­tik der Ma­the­ma­tik, seit meh­re­ren Jah­ren im Schul­dienst und ak­ti­ve Schach­spie­le­rin so­wie Trai­ne­rin ei­ner Schach-AG

Mario Ziegler - Glarean MagazinMario Ziegler

Geb. 1974 in Neunkirchen/Saarland, Stu­di­um der Ge­schich­te und Klas­si­schen Phi­lo­lo­gie, 2002 Pro­mo­ti­on in Al­ter Ge­schich­te, seit­her als Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter im uni­ver­si­tä­ren Lehr­be­trieb tä­tig. Lang­jäh­ri­ger Schach­trai­ner so­wie Au­tor und Her­aus­ge­ber ver­schie­de­ner Bü­cher zum The­ma Schach

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Kin­der-Schach auch über Clai­re Sum­mers­ca­le: Schach – So wirst du zum Profi

… so­wie zum The­ma Schach und Li­te­ra­tur auch über Man­fred Her­bold (Hrsg.): Fern­schach und Kunst

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