Die Frage stellt sich jedem Schachspieler in jeder Partie: Wie ist eine gegebene Stellung zu beurteilen? Soll man sie eher strategisch spielen oder stehen taktische Überlegungen im Vordergrund? Diesen Fragen widmet sich der österreichische Internationale Meister Harald Schneider-Zinner in seinem zweibändigen Werk „Strategieschule“ auf DVD.
„Strategie ist die Kunst, das Spiel zu planen. Strategie befasst sich mit den allgemeinen Plänen zum siegreichen Abschluss der Partie oder zum Erreichen eines Zieles in einem Partieteil. Strategische Züge sind gewöhnlich positionell; sie helfen, eine Stellung zu schaffen, in der der Plan ausgeführt werden kann.“ Mit diesen Worten fassen Ex-Weltmeister Max Euwe und Walter Meiden in ihrem Klassiker „Meister gegen Amateur“ das Wesen der Strategie im Schachspiel zusammen. Ist der lernwillige Schachenthusiast erst einmal über die Anfangsgründe des Spiels hinweggeschritten, so kommt unweigerlich der Moment, wo er sich auf das Gebiet der Strategie wagen muss. Im Vergleich zur Taktik, wo die Ideen offensichtlicher sind und das Ziel im Gewinn von Material oder dem Angriff gegen den gegnerischen König besteht, sind strategische Überlegungen subtiler: Existieren langfristige Schwächen? Empfiehlt sich der Abtausch der einen oder anderen Figur? Kann man ein bestimmtes Endspiel anstreben? Und noch grundsätzlicher: Wie ist eine gegebene Stellung zu beurteilen? Soll man sie eher strategisch spielen oder stehen taktische Überlegungen im Vordergrund?
International renommierter Trainer
International gefragter Schach-Trainer: Harald Schneider-Zinner
Der Autor der vorliegenden „Strategieschule“ Harald Schneider-Zinner (geb. 1968) zählt zu den profiliertesten Schachtrainern des deutschsprachigen Raums. Zu seinen Schülern gehören die österreichischen Spitzenspieler Valentin Dragnev und Felix Blohberger, und als Trainer der Frauen-Nationalmannschaft führte er das ÖSB-Team zu herausragenden Resultaten (4.-9. Platz bei der Mannschafts-Europameisterschaft 2015, 2. Platz beim Mitropa-Cup 2018).
Seit 2010 leitet er die Trainerausbildung in Österreich. Kurz gesagt: Schneider-Zinner kann auf eine reiche Erfahrung von der Grundlagenarbeit bis hin zum Leistungssport zurückgreifen.
„Stehe ich besser oder schlechter?“
Wie oft steht man in einer Partie vor der Frage, wie genau man eine Stellung angehen soll! Stehe ich besser oder schlechter? Soll ich die Position statisch oder dynamisch behandeln? Wie soll ich meine Bedenkzeit investieren? Diesen und weiteren Fragen geht Schneider-Zinner an Hand von Klassikern, aber auch sehr vielen neueren Beispielen aus der Weltspitze und dem österreichischen Schach nach.
Aus der Vielzahl der nützlichen Themen (Hebel, Planfindung, typische Springer- und Läufermanöver, Prinzip der überzähligen Figur) möchte ich mit der „Schwerfiguren-Regel“, ein vielleicht etwas weniger bekanntes Prinzip herausgreifen. Sie besagt, dass im Fall einer ungleichen Anzahl von Schwerfiguren derjenige Spieler mit mehr Schwerfiguren einen Abtausch dieser Figuren vornehmen sollte. Die verbleibenden Schwerfiguren können sich dann besser entfalten.
Hier ein Beispiel aus einer Blitzpartie des Autors:
bast (2448) – Harald Schneider-Zinner (2455) Internet-Blitzpartie 3+2
Materiell ist die Stellung etwa gleich, aber die schwarzen Türme sind optimal postiert. Nach besagter Schwerfiguren-Regel muss Weiß nun den Tausch seines letzten Turms vermeiden: 30.Td3+ Ke7 und nun sollte 31.Te3 erfolgen, wonach der Bauer c2 wegen des Abzugsschachs 32.Lb3+ natürlich tabu ist. Schwarz steht auch hier wohl besser, muss aber noch sehr lange hart arbeiten. Nach dem Partiezug 31.Txd8? Kxd8 32.c3 Tc5 konnte Schwarz seinen Turm weiter aktivieren und stand auf Gewinn.
Aspekte des Abtausches
Im 2. Band stehen die verschiedenen Aspekte des Abtauschs (Wann soll man überhaupt tauschen? Welche Richtlinien gilt es zu beachten? Wie kann man durch Abtausch offene Linien oder schwache Felder ausnutzen? usw.) im Mittelpunkt. Jede DVD wird durch 20 Aufgaben zur eigenständigen Bearbeitung abgerundet.
Wie bei den Trainings-DVDs von ChessBase üblich präsentiert der Autor seine Themen in Form eines Videos. An geeigneten Stellen wird der Zuschauer aufgefordert, das Video anzuhalten und sich eigene Gedanken zu machen. Schneider-Zinner hat eine angenehme Art des Vortrags. Er versetzt sich in den „Gesprächspartner“ und bezieht ihn soweit möglich ein. Das Material ist gut ausgewählt und wird überzeugend präsentiert.
Engines – ja oder nein?
Inwieweit ein stärkeres Eingehen auf die Vorschläge der Engines notwendig gewesen wäre, ist eine schwierige Frage. In einer früheren Rezension verweist GM Prusikin darauf, „dass einige Beispiele der strengen Computerprüfung nicht standhalten – wobei es sich freilich darüber streiten lässt, ob bzw. inwiefern das von Bedeutung ist.“
Hierzu ein Beispiel:
Loek van Wely – Magnus Carlsen Wettkampf Schragen 2006, 3. Partie
Schneider-Zinner zeigt diese Partie unter der Fragestellung, wie viele Züge ein starker Spieler vorausrechnet. Seiner Meinung nach musste Carlsen in der folgenden Partiephase nur kurze Sequenzen kalkulieren, die er an die Spielweise seines Gegners anpasste. Prägnant formuliert Schneider-Zinner: „Schach spielt sich in Teilplänen ab“. Es folgte: 22…a5 23.La3 a4 24.Sb5 axb3 25.axb3 Sc5 26.Tb1 Se4 27.Td7 h5 28.Lc1 Td8 29.Txd8+ Txd8 30.Le3 Sd2 31.Lxd2 Txd2 32.h4 Kh7 33.Kf1 Kg6 34.Kg2 Le7 35.Sc3 Kf5
Carlsen hat seit dem letzten Diagramm offenkundig viele Fortschritte gemacht: Durch den Hebel …a7-a5–a4 wurde die weiße Struktur am Damenflügel geschwächt, Schwarz konnte seinen König und seinen Turm aktivieren und die verwundbaren weißen Bauern ins Visier nehmen. Dabei gelang es dem künftigen Weltmeister – damals noch ein Teenager – meisterlich, weißes Gegenspiel im Keim zu ersticken.
An dieser Stelle spielte van Wely mit 36.Sa4 einen Zug, der nach Meinung der Engines (verwendet wurden Fritz 15, Houdini 6.02 und Stockfish 14.1) nicht im Entferntesten die beste Fortsetzung darstellt. Sie favorisieren statt dessen 36.Te1, 36.b4 und 36.Kf1. Schneider-Zinner geht auf keinen dieser Züge ein, sondern legt lediglich dar, dass 36.Kf3?? natürlich an der Gabel 36…Td3+ scheitert und 36.Td1 ebenfalls nicht besonders attraktiv ist: 36.Td1 Txd1 37.Sxd1 Ke4 „und der viel aktivere König und der Läufer, der im Spiel an beiden Flügeln stärker ist als der Springer, entscheiden die Partie“ (Schneider-Zinner im Video). Die Partie ging weiter mit 36…Lf6 37.Sxb6 Ld4 38.Sc8 Kg4 39.Tf1 Lc5 40.b4 Lxb4 41.Sb6 Lc5 42.Sa4 Ld4 43.c5 Tc2 und Schwarz stand auf Gewinn.
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An diesem Partieverlauf wird deutlich, worin das Potential der Computervorschläge im 36. Zug liegt:
1) 36.Te1 mit der Idee Te1–e3 setzt den Turm zur Deckung des verwundbaren Bauern b3 ein und bringt die Möglichkeit Te3–f3+ ins Spiel.
2) 36.Kf1 ist ein „unmenschlicher“ Zug, der den eigenen König passiver stellt und dem gegnerischen Monarchen den Weg nach f3 freimacht. Aber er ermöglicht auch das Manöver Sc3–e2, das den Druck des schwarzen Turms auf den Bauern f2 abfedert.
3) Mit 36.b4 möchte Weiß seine Bauernmehrheit in Gang setzen. Die taktische Rechtfertigung ist, dass nach 36…Tc2 37.Sd1 der Bauer c4 wegen der Gabel auf e3 tabu ist.
Nach allen diesen Möglichkeiten steht Schwarz besser, aber nach keiner so gut wie in der Partie. Hätte man also im Detail auf sie eingehen müssen? Wenn eine umfassende Analyse der Partie vorgenommen werden soll, muss die Antwort natürlich „ja“ lauten. Doch darum geht es dem Autor nicht, er möchte ja gerade zeigen, dass in dieser Partie nicht die konkrete Variantenberechnung, sondern das Denken in (Teil-)Plänen im Vordergrund stand. Unter diesem Aspekt lenken vielleicht Computerzüge, die auf taktischen Details wie der Gabelmöglichkeit auf e3 basieren, vom Kern des Themas ab. Wie in vielen anderen Bereichen der Lehr- und Trainingstätigkeit steht hinter allem die Frage der didaktischen Reduzierung.
Etwas verwundert hat mich die hohe Zahl der Schreibfehler in den Analysen. Auch wenn sie den Wert des Trainingsmaterials nicht beeinträchtigen, wären sie doch mit geringem Aufwand zu vermeiden gewesen.
Grundlegende Themen der Schachstrategie
Die „Strategieschule“ hat mich überzeugt. Dem Zuschauer werden viele grundlegende Themen der Schachstrategie präsentiert, wobei die praktische Relevanz an vorderster Stelle steht. Als Zielgruppe sehe ich fortgeschrittene Spieler mit einer Spielstärke ab ca. 1500 DWZ. Zudem finden selbstverständlich Trainer eine Vielzahl von durchweg prägnanten Beispielen. Über die Notwendigkeit, in den Analysen noch weiter ins Detail zu gehen, kann man streiten – ohnehin ist jeder Benutzer natürlich angehalten, sich zu den Beispielen eigene Gedanken zu machen und diese durch Analyse mit dem Computer zu überprüfen. ♦
Das moderne Computerschach kennt mittlerweile hunderte von verschiedenen Engines unterschiedlichster Spielstärke – und die stärksten unter ihnen würden mit WM Magnus Carlsen und seinen genialen Profi-Kollegen wohl umspringen wie mit Lehrlingen. Dabei handelt es sich zumeist um Freeware, darunter mit Stockfish auch die aktuelle Nummer-Eins. Seit langem ist diesem Platzhirschen – neben dem drittstärksten Programm LeelaChess – aber eine kommerzielle Engine dicht auf den Fersen: Komodo Dragon. Dessen jüngste, dritte Version wird nun ebenfalls – exakt ein Jahr nach Dragon 2 – von der Hamburger Schachsoftware-Firma Chessbase unter deren hauseigenem Interface „Fritz“ vertrieben.
Dass die Komodo-Gründer bzw. -Programmierer Don Dailey (†), Larry Kaufman und Mark Lefler ihre erfolgreiche Engine nicht nur in Eigenregie verkaufen, sondern zusätzlich bei Chessbase unterkommen konnten, dürfte für beide Seiten eine Win-Win-Situation darstellen: Mit dem weltweit sehr erfolgreich vertriebenen „Fritz“-Interface (hier: die Version 18) kann der starke Motor unter eine professionelle Haube kriechen, während die Hamburger neben ihrer „klassischen“ Fritz-Engine noch ein zweites, extrem starkes Programm-Pferd im Stall haben.
Der Zukauf von kommerziellen Engines hat bei Chessbase jahrzehntelange Tradition: Von „ChessTiger“ und „Junior“ über „Hiarcs“, „Shredder“ und „Rybka“ bis hin zu jetzt „Komodo“ nahm CB immer wieder externe Programme bzw. Programmierer unter Vertrag – natürlich stets gleichzeitig mit seiner Hausmarke „Fritz“.
Neuer Wein in alten Schläuchen
Der Eröffnungsbildschirm des neuen Komodo Dragon 3 von Chessbase
Über das Graphical User Interface „Fritz“ in seiner aktuellsten Version haben wir bereits berichtet: Fritz 18. Die „Fritz“-Programmoberfläche ist seit Jahren – trotz eines gewissen Innovations-Staus, der bei den letzten Nummern zu beobachten war – der unangefochtene Leader unter allen kommerziellen GUI und bei den internationalen Schachprofis das meistverwendete Schachprogramm; beim Heer der Amateur- und Klubspieler ist „Fritz“ ohnehin seit Jahrzehnten fest etabliert als Analyse- und Datenbank-Werkzeug.
Die jüngste Komodo Version 3 von Chessbase übernimmt dieses Interface unverändert – „neuer Wein in alten Schläuchen“ also. Wenden wir uns dementsprechend der Engine selber zu.
Personalities für jeden Geschmack
Die neun Personalities des Komodo Dragon 3
Nach der Installation der neuen Komodo-Ausgabe von Chessbase hat der Anwender plötzlich neun weitere Engines in seinem Programme-Ordner. Denn wie schon bei der Vorgänger-Version 2.6 diversifiziert auch Komodo-Dragon 3 seine Default-Engine in sog. „Personalities“.
Damit knüpfen die Macher des Schach-Warans – wenngleich in sehr viel geringerem Ausmaß – an das legendäre Schach-Paket „Chessmaster“ (1991-2007) an, das seinerzeit viele Dutzende solcher vorprogrammierter „Spieler-Persönlichkeiten“ für ein möglichst abwechslungsreiches Spiel des Users gegen das Programm mitlieferte und damit einen der wichtigsten Kaufanreize für diese damals weitverbreitete Software darstellte. (Ein weiteres, kostenloses Schachprogramm, bei dem die Personality unterschiedlich gewählt werden kann, ist z.B. Pro Deo von Ed Schröder. Zu nennen ist außerdem das spielstarke Stockfish-Derivat ShashChess mit mehreren solcher Personalites).
Vom Anfänger bis zum Weltmeister
Unter dem Chessbase-GUI konnten schon immer all jene, die „Fritz“ nicht zum Analysieren, sondern zum Selberspielen nutzen, die Engine-Stärke drosseln. Bei Komodo-Dragon wählt der Anwender nun fix programmierte Varianten aus, die da heißen: Dragon 3 (Default), Dragon Active, Dragon Aggressive, Dragon Beginner, Dragon Defensive, Dragon Endgame, Dragon Human, Dragon MCTS, Dragon Positional.
Zitieren wir diesbezüglich hier kurz aus dem Beschrieb von Chessbase, wo die Programm-Macher festhalten, dass sich die Spielstärke bei Komodo Dragon 3 grundsätzlich „beliebig nach der gewünschten Elo-Stärke von 1 bis maximal 3500 einstellen“ lasse. „Die Elo-Werte beziehen sich dabei auf menschliches Spiel im Schnellschach und eignen sich z.B., um für ein ausgeglichenes Match zu sorgen. Denn bei reduzierter Spielstärke unterlaufen der Engine die Fehler, die von Menschen mit der eingestellten Wertungszahl zu erwarten sind.
Die Elo-Einstellungen von Komodo Dragon 3 sind gegen viele menschliche Spieler unterschiedlichster Spielstärke getestet und abgestimmt worden, insbesondere im GM-Bereich in zahlreichen Schnellschachpartien gegen GM Alex Lenderman, der zum Entwicklerteam von Komodo gehört.“
Exkurs: Die Personality „Endgame“
Welche der acht zusätzlichen Dragon-Personalities nun genau wie in welchem Schach-Segment spielt, müssten weitergehende Tests und Analysen zeigen. Der Autor hat sich bis jetzt mit zweien dieser Dragon-Derivate näher beschäftigen können, nämlich mit „Endgame“ und mit „Aggressive“.
Die „Endgame“-Einstellungen von Komodo-Dragon-3 unter Fritz-18, wie sie für das untenstehende Turnier benützt wurden
Performt die Personality Endgame tatsächlich besser als die Default-Einstellung? In einem Stellungstest mit 100 mittelschwierigen bis sehr schwierigen Endspiel-Aufgaben schnitt die „Endgame“-Option keineswegs besser ab – im Gegenteil. Das hat allerdings seinen Grund weniger in ihrer Endspiel-Performance als vielmehr in der Tatsache, dass bei Dragon nur „Default“ die starke NN-Bewertung nutzt, alle anderen Personalities nicht. Damit ist deren Spielstärke per se massiv gedrosselt. Näheres dazu findet sich in der offiziellen Readme-Datei von Komodo. (Das Problem bestand natürlich auch bei der Dragon-Einstellung „Aggressive“, welche im untenstehenden Turnier zum Einsatz kam und dort entsprechend schlecht abschnitt).
Trotzdem war es interessant, die Endspiel-Performance der entspr. Dragon-Personality zu untersuchen.
Das Ergebnis war allerdings ernüchternd: Zahlreiche Lösungen, die andere Spitzen-Engines innert 15 Sekunden entdeckten, schaffte diese Einstellung auch nach Minuten nicht. Umgekehrt kam es nur sehr selten vor, dass sie als einziges Programm eine Aufgabe löste.
Hier stellvertretend einige Stellungen, welche von den meisten Programmen in Sekunden gelöst werden, aber für „Endgame“ von Komodo-Dragon-3 eine Nummer zu hoch sind. (Der Autor testete auf einem AMD-Ryzen-7 / 16Threads & 5-men-Syzygy). Ein Mausklick auf irgend einen Partie-Zug öffnet das entspr. Analyse-Fenster inkl. Download-Option:
Die obigen vier Stellungen sind natürlich nicht repräsentativ, umfangreichere Tests könnten andere, positivere Ergebnisse zeitigen.
Exkurs: Die Personality „Aggressive“
Eine weitere hochinteressante Dragon-„Persönlichkeit“ ist die Einstellung „Aggressive“. Aktuell dürfte es kein Programm des modernen Engine-Zirkus‘ geben, das nur annähernd so einfallsreich, so opferfreudig und so angriffslustig spielt wie diese Komodo-Personality.
Dabei ist die Gesamt-Turnier-Performance von „Aggressive“ haarsträubend schlecht – aus dem oben bereits erwähnten Grunde, und wie auch die Turnier-Tabelle unten dokumentiert, wo „Aggressive“ ohne einen einzigen Partien-Gewinn die Schlusslaterne trägt. „Aggressive“ – das bedeutet Angriffsschach zuweilen mit der Brechstange, und gegen derart starke Konkurrenz mit ihrer gnadenlos präzisen Verteidigungsarbeit, wie sie die modernen NN-Programme an den Tag legen, hat es solch „romantisches“ Schach einen schweren Stand.
Weilt das legendäre Angriffs-Genie Michael Tal inkognito wieder unter uns – in Gestalt des Computerschach-Komodo-Warans „Dragon“?
Aber wer „Aggressive“-Partien näher untersucht, erlebt Thriller-Schach-Kino vom Feinsten! Es lohnt sich, wenigstens die entspr. Remis-Games nachzuspielen. Die Personality hat Material-Einstellungen und Stellungsbewertungen implentiert, die sie kompromisslos auf Angriff spielen lässt, wobei Bauern- und Figuren-Opfer quasi zur Pflicht gehören. Es ist, als wäre der legendäre Weltmeister Michael Tal wieder auferstanden – in der Form eines noch weitaus gefährlicheren Warans…
Hier einige Beispiele für diesen attraktiven Spiel-Stil – und zwar aus Partien, die trotz jeweiliger Materialdefizite unentschieden endeten (notabene gegen extrem starke NN-Engines):
„Aggressive“ kennt nur eine Richtung: Nach vorne. Dabei haben Raumgewinn, Linien- und Diagonalen-Öffnen inkl. Vorposten-Schaffung zwecks direktem Königsangriff absolut oberste Priorität, auch unter Bauern- und Figuren-Opfern.
In dem folgenden Bruderkrieg steckt Weiß gleich zwei Bauern ins Geschäft, nur um den Gegner am am freien Figurenspiel zu hindern bzw. den eigenen Raum-Radius zu vergrössern:
Die nächste Stellung entstand aus einem klassischen „Franzosen“. Auch hier benützt die Engine die erste beste Gelegenheit, von den ausgelatschten Eröffnungspfaden abzuweichen und den Gegner zu Erklärungen zu zwingen. Und auch diesmal gelingt es dem gegnerischen Programm nicht, diese Frechheiten mit einem Sieg zu bestrafen; die Partie endete später remis:
Die ganze Welt nimmt in der nachstehenden sizilianischen Standard-Stellung mit Weiß den Bauern auf d4 – für „Aggressive“ ist das viel zu langweilig. Erneut ist der Drang unübersehbar: Turbo-Entwicklung, um baldmöglichst gerüstet zu sein für den Angriff. In der Großmeister-Szene kommt 4. Ld3 natürlich nicht vor. Komodo-Dragon schreibt hier also Eröffnungs-Geschichte…
Download-Button im Analyse-Fenster
Der Mausklick auf einen Zug oder eine Variante in der Notation öffnet das entspr. Analyse-Fenster mit der Option des Downloadens als PGN-Datei.
„Aggressive“ ist in erster Linie eine begnadete Gambit-Engine. Hier ein viertes Beispiel dieses unbekümmerten Kampf-Stils in einer selteneren Variante des Nordischen Gambits. Diesmal ist der Gegner die Nummer 2/3 der Welt – doch auch hier endete der Kampf des David (Alpha-Beta-Bewertung) gegen Goliath (NN-Bewertung) mit einem Remis. Romantik-Schach des 19. Jahrhunderts – mitten im Maschinen-Zeitalter des 21. Jahrhunderts…
Leichter Zugewinn an Spielstärke
Seit Jahren der hartnäckigste Verfolger der Nummer Eins Stockfish: Der Komodo-Waran von komodo.chess
Natürlich interessiert primär mal die Default-Spielstärke der neuen Dragon-Engine. Komodo ist wie alle führenden modernen Schachmotoren eine sog. Neural-Network-Engine (NN), wobei sie ihr eigenes, natürlich programmiertechnisch speziell abgestimmtes Netzwerk „eingebettet“ mitbringt und dieses nicht wie die meisten anderen (z.B. Stockfish) extra downloaden muss; letzteres ist optional aber nach wie vor möglich.
Hinsichtlich Spielstärke hat Dragon 3 zugelegt – aber der Zugewinn ist überschaubar, wie die bisherigen Turnier-Resultate der einschlägigen Partien-Generatoren CCRL und CEGT ausweisen. (Auch das eigene Privat-Turnier des Autors – siehe unten – zeigt gegenüber Dragon 2.6 einen Zuwachs der Turnier-Performance in bescheidenstem Rahmen).
Unbestritten ist aber, dass der „Drachen“ der stärkste Konkurrent des „Fisches“ war und vorläufig auch bleiben wird, auch dies zeigen alle bisherigen Tests und Turniere mit dem jüngsten Komodo-Zuwachs:
Dem Leader dicht auf den Fersen: Dragon 3 gelistet bei CCRL in der Blitz-Rating-Liste vom 25. Mai 2022
Merklich hinter Stockfish, knapp vor FatFritz und LeelaChess: Dragon 3 gelistet bei CEGT in der 40/20-Rating-Liste vom 25. Mai 2022
Komodo Dragon 3 und die Analyse
Interessanter als Ranglisten-Vergleiche ist allerdings das Untersuchen der Binnenstrukturen von Partien des neuen Dragon, aber auch das Verhalten der Engine beim Analysieren.
Um das Zweite vorwegzunehmen: Gerade hier zeigen sich die neuen computerschachlichen Ansätze unmittelbar, wie schon ein paar erste, aber repräsentative Test-Stellungen demonstrieren. (Die folgenden Ergebnisse wurden auf einem AMD-Ryzen-7 mit 16Threads, 2Gb Hash und 5-men-Syzygy-TB’s unter dem Interface Komodo-Dragon-3 von Chessbase erzielt):
Karjakin vs Carlsen (Shamkir 2019) Schwarz am Zuge
FEN: r3k2r/1pq1bpp1/p2p2n1/3Ppb1p/1QP4P/2N1B1P1/PP2BP2/R3K2R b KQkq – 0 19
Im Gegensatz zu seinem direkten Vorgänger Dragon 2.6.1 (und den meisten anderen Spitzen-Engines) findet der neue Dragon 3 den positionellen, die Inititative sichernden Bauernvorstoss 19. – e4! des amtierenden Weltmeisters in nullkomma-fast-null Sekunden.
Solche blitzschnellen Lösungen lassen meist darauf schließen, dass die Engine den betr. Stellungstypus „kennt“ und adäquat behandeln kann.
Feco vs Jones (Corr. Game 2017) Schwarz am Zuge
FEN: 4Qnk1/1pq4p/2p3p1/p2p1p1P/P2P1P2/2PB2P1/1P3K2/8 b – – 0 29
So wie Dragon 2.6.1 möchten sich hier praktisch alle starken Programme mit 29. – Db6? am weißen Bauern b2 delektieren, was aber den sicheren Tod des Schwarzen bedeutete.
Der neue „Drachen“ riecht den Braten recht schnell und sucht stattdessen den Damentausch mit Dd7 oder Df7. Denn am Damenflügel kann Schwarz zwar seinem Materialismus frönen, doch auf der anderen Brettseite geht’s seinem König an den Kragen…
R. Becker (Studie 2015) Weiß am Zuge
FEN: 8/p2p4/r7/1k6/8/pK5Q/P7/b7 w – – 0 1
Nur wenige Spitzen-Programme lösen die obige Studien-Aufgabe innert Sekunden, indem sie sofort in die erforderliche Tiefe von mind. 30 Halbzügen (!) kommen. Komodo-Dragon 3 holt hier den Lösungszug 1. Dd3! unverzüglich auf den Bildschirm, seine Konkurrenten lassen sich demgegenüber teils über eine halbe Minute Zeit.
Die vier Stellungen und
Analysen lassen sich hier downloaden.
Cvak vs Kubicki (Corr.-Analyse) Weiß am Zuge
1rb1r3/5qk1/3b2p1/1pnPp1Pp/2P1Bp2/pP6/P2NQB1P/1KR3R1 w – – 0 31
In dieser komplexen Mittelspiel-Stellung steht Weiß mit dem Rücken zur Wand, denn er hat genau einen Rettungsanker, der die Partie knapp hält: 31. Lxc5!
Die meisten Engines würden hier mit 31.cxb5? sang- und klanglos untergehen – nicht so Dragon 3. Nach ca. 10 Sekunden „weiß“ der neue „Drachen“, dass nur der Figuren-Abtausch entlastet.
Überhaupt fällt beim Analysieren von Dragon-3-Partien auf, wie hartnäckig das Programm schlechte Stellungen zu verteidigen vermag. Insbesondere Fernschach-Spieler dürften diese Qualität des jüngsten Komodo besonders zu schätzen wissen…
Dragon 3 gegen den Rest der Engine-Welt
Das Analysieren von eigenen oder fremden Games gehört bei Schachspielern (gleich welcher Stärkeklasse) ohne Zweifel zum Hauptverwendungszweck von Schachprogrammen, sei es zum Aufspüren von Fehlern oder zum Trainieren des Eröffnungsrepertoire. Dieser Zielsetzung trägt Chessbase Rechnung, indem neben der neuen Engine und dem zugehörigen Interface auch eine Sammlung von über einer Million Partien mitgeliefert wird. Die „Database 2022“ enthält dabei auch tausende von Games, die professionell von Großmeistern kommentiert wurden. Die jüngste Partie der Datenbank datiert vom 20. Oktober 2021, die älteste ist eine Begegnung zwischen Bird und Anderssen aus dem Jahre 1851.
In spezifischen Computerschach-Kreisen ist eine weitere Spielwiese für Engines verbreitet (allerdings weniger aus schachlichen denn aus statistischen Gründen): Das automatisierte Ausspielen von Engine-Partien. Die so generierten Games zwischen Motoren untereinander sollen Aufschluss geben über die Gesamt-Performance eines Programmes, wobei meist mehr oder weniger ausgeklügelte „Opening-Books“ sowie 5-7-Steiner-Endgame-Tablebases zum Einsatz kommen. Die beiden wichtigsten dieser Partien-Ersteller CCRL und CEGT wurden oben bereits erwähnt, zahlreiche weitere private Engine-Turniere werden laufend von der weltweiten Anwenderschaft generiert.
Turnier mit 16 Top-Engines
Der Autor hat unter der Komodo-3-Grafikoberfläche von Chessbase ebenfalls ein solches kleines Engine-Turnier aufgesetzt für 16 der besten und häufigst verwendeten Schachmotoren, die aktuell den Engine-Zirkus bevölkern. Generiert wurden dabei insgesamt knapp 500 Partien mit der offiziellen Blitz-Bedenkzeit der FIDE von 3 Min. + 2 Sek. (= Hauptspielzeit plus Zeitbonus pro Zug).
Dies allerdings mit zwei eher selten angewendeten Optionen: Erstens wurde komplett verzichtet auf den Einsatz von Eröffnungsbüchern, um den Engines nicht vorzuschreiben, welche Eröffnungszüge sie spielen sollen. Und zweitens hatten die Programme keinerlei Endspiel-Datenbanken zur Verfügung, damit bei der späteren Partien-Analyse die eigentliche Performance einer Engine auch in dieser Spielphase objektiver untersucht werden kann. Drittens durften die Engines – via die Turnier-Option „Pondering“ – auch dann rechnen, wenn sie nicht am Zuge waren; dies ist das „natürlichste“ Verhalten beim Schachspielen…
Detailliert sah das Tournament Setting folgendermaßen aus:
Natürlich ist dieses Engine-Turnier mit seinen knapp 500 Partien statistisch nicht belastbar, trotzdem entspricht sein Ranking ziemlich genau jenen Ranglisten, die ein Vielfaches an Games pro Engine ausspielen lassen:
Das Turnier der 16 Top-Engines ohne Eröffnungsbücher und Endspiel-Datenbanken
Die Liste zeigt das nunmehr schon seit vielen Monaten bekannte Bild mit dem führenden Triumvirat Stockfish/LeelaChess/Komodo, wobei die Plätze Zwei und Drei immer mal wieder wechseln können zwischen LeelaChess und Dragon. Zieht man zum Vergleich die zahlreich existierenden, diversen Computerschach-Rankings im Internet hinzu, zeigt sich ziemlich deutlich, dass sich Komodo meist auf dem Silber-Podest einreiht.
Interessant ist, dass dieses Turnier keine einzige Partie-Doublette generierte, obwohl keinerlei Opening Books im Spiel waren, die das Eröffnungsverhalten der Motoren gespreizt hätten. Trotzdem verzeichnet die Eröffnungs-Palette einen überraschend weiten ECO-Range:
Trotz fehlenden Eröffnungsbüchern: Ein überraschend weiter Range der ECO-Codes, außerdem ohne Partien-Dubletten
Auch hinsichtlich Endspiel entsprechen die 480 Partien in etwa jenen Häufigkeiten, wie sie sich im Computer- wie im Human-Schach zeigen. Und auch hier machen die reinen Turm-Endspiele die größte und wichtigste Kategorie aus:
Alle Engines mussten ihre Endspiel-Performance ohne Endgame-Tablebases demonstrieren
Ein Schachpaket für alle Fälle
Ist Komodo-Dragon-3 aus dem Hause Chessbase ein Must-have für Schachspieler? Unbedingt – sofern man nicht zumindest schon das Fritz-18 oder -17-GUI hat und außerdem mal nicht immer bloß den gleichen Einheitsbrei von Stockfish & Co. aus dem Netz runterladen möchte.
Denn Dragon 3 hat ein deutlich anderes Spiel- und Analyse-Verhalten als alle anderen NN-Engines, beweist aber trotzdem immer wieder eine extrem starke Turnier-Performance. Damit ist dieser dritte „Drachen“ ein echtes Gegen-Programm zum üblichen Freeware-Kuchen mit seinen aberdutzenden von Derivaten und Klonen, die sich inzestiös oft nur in winzigsten Kleinigkeiten unterscheiden.
Chessbase rundet sein jüngstes Komodo-Paket außerdem ab mit einer großen Partien-Datenbank sowie einem 6-monatigen Premium-Account mit Zugang zu den bekannten CB-Online-Services.
Natürlich empfiehlt sich der Kauf weniger für jene, die F17 oder F18 bereits besitzen und somit die Dragon-3-Engine durchaus direkt bei den Komodo-Machern kaufen und dann einbinden können. Allerdings ist der Preis-Unterschied minim: Bei Amazon z.B. kostet die Chessbase-DVD 74 Euro, während die Programmierer auf ihrer Komodo-Webseite 75 Dollar, also ca. 70 Euro für die nackte Engine verlangen. Rechnet man bei CB noch ein paar Euro für den DVD-Versand hinzu, ist der pure Engine-Download günstiger – aber einbezogen werden sollten bei CB noch die kostenlosen Goodies Premium-Account & Database 2022.
Wie auch immer: Komodo-Dragon-3 zählt nicht nur zu den aktuell stärksten Schachprogrammen überhaupt, sondern setzt dem bunten Engine-Zirkus den vielleicht glänzendsten, weil schachlich und programmiertechnisch sehr alternativ auftrumpfenden Farbtupfer hinzu.
Der neue „Drachen“ 3.0 wird damit zum vielfältig einsetzbaren Analyse- und Sparring-Werkzeug – ein Schachpaket also für alle Fälle. ♦
Chessbase: Komodo Dragon 3 & Fritz 18 GUI – Schachsoftware by Chessbase Hamburg, DVD oder Download
Profi-Schachspieler, seien sie nun Turnierkämpfer oder Trainer, nutzen vielfach auch entspr. Profi-Datenbanken, um gezielt nach bestimmten Partien mit klar definierten Eigenschaften zu suchen. Solche professionellen und teuren Werkzeuge sind beispielsweise Chessbase oder (etwas kostengünstiger) Chess-Assistant. Auch das Freeware-Programm Scid hat recht vielfältige Such-Funktionen.
Doch für das millionenfache Heer der Hobby-, Laien- oder/und Vereinsspieler täte es meist auch eine schmaler konzipierte Gratis-Software, um in grösseren Datenbanken mit (-zig tausenden Partien), erfasst im sog. PGN-Datenformat, nach interessanten, „aggressiven“ Games zu fahnden. Der deutsche Computerschach-Experte Stefan Pohl hat nun genau dafür ein neues Programm geschrieben, das diesen Job blitzschnell erledigt. Hier stellt er seine „Aggressive Games Search Tools“ AGS erstmals der deutschsprachigen Schachwelt vor.
Da in der heutigen Zeit immer mehr Partien gespielt werden, sowohl von Menschen (entweder online oder dann in den zahllosen Turniersälen) als auch von Schach-Engines gegeneinander, habe ich zwei einfache Tools geschrieben, die automatisiert in beliebigen PGN-Datenbanken nach interessanten (Opfer-)Partien suchen.
Denn besonders Engine-Partien können oft langweilig sein: Sie werden zwar auf einem enorm hohen schachlichen Niveau gespielt, sind aber – auch deswegen – meist recht steril. Viele Partien gehen remis aus, und die Gewinnpartien werden oft erst nach zähem Ringen (letzlich mit minimalsten Vorteilen) im Endspiel entschieden.
Dennoch gibt es natürlich interessante, taktisch spannende Partien – doch diese sind oft tief „begraben“ in riesigen Datenbanken und müssen extra recherchiert werden. Denn nur nach kurzen Gewinnpartien zu suchen reicht hier keinesfalls aus; Oft ergibt sich zwar ein interessanter Verlauf des Mittelspiels, aber bis der Vorteil, den eine Seite erlangt hat, dann wirklich partieentscheidend verwertet werden kann, dauert es oft noch viele Züge. Außerdem: Werden Engine-Partien bis zum Matt (oder technischem Remis) ausgespielt, kann es sowieso lange dauern, bis ein im Mittelspiel errungener Vorteil wirklich zum Matt verwertet wird.
Daher habe ich meine Aggressive Games Search Tools (im folgenden kurz AGS) entwickelt, die dieses Problem lösen sollen.
Zunächst gibt es ein Tool, das in allen Gewinnpartien bis zu einer vom User bestimmten Maximal-Zuglänge nach vorgerückten Figuren (der Sieger-Seite) im gegnerischen Lager sucht.
Ein Beispiel: Gewinnt Weiß eine Partie, so sucht das Tool zwischen dem 15. und dem 60. Zug nach weißen Figuren (Dame, Turm, Läufer, Springer) im schwarzen Lager auf der 6./7./8. Reihe. Dies muß mindestens drei Mal der Fall sein, und die betr. Figur darf nicht sofort abgetauscht werden (ein simpler Damen-Tausch auf d8 beispielsweise wäre ja nicht besonders „aggressiv“). Zudem muss sich die Partie noch im Mittelspiel befinden. Letzteres wird über die Materialmenge entschieden: Es müssen noch mindestens Dame, beide Türme und eine Leichtfigur plus mind. vier Bauern pro Seite vorhanden sein – oder dann auch Dame, ein Turm und zwei Leichtfiguren plus mind. vier Bauern pro Seite. Zuvor sucht das Tool nach Opfern, also nach einem mindestens 5 Züge andauernden Materialvorteil im Mittelspiel für jene Seite, welche die Partie schlußendlich verliert (bei nur einem Bauern Vorteil sieben Züge).
Drei Optionen der Suche
Bei dieser Opfersuche kann der User aus drei Optionen wählen:
Startet man das Tool Aggressive_Games_Search_tool.bat, wird zunächst nach dem Namen der PGN-Datei gefragt; anschließend nach der Art der gewünschten Opfersuche:
1= alle Opfer suchen (der Partieverlierer hat für mindestens sieben aufeinanderfolgende Züge im Mittelspiel mindestens einen Bauern mehr)
2= Zwei-Bauern-Opfer suchen (der Partieverlierer hat für mindestens fünf aufeinanderfolgende Züge im Mittelspiel mindestens zwei Bauerneinheiten mehr)
3= wie Option 2, aber die zwei Bauerneinheiten mehr dürfen keine zwei Bauern sein (sondern z.B. der Qualitätsvorsprung Turm für Springer)
Konsolen- und Text-orientiert unter Windows, aber extrem schnell: Die Turbo-Variante des Tools AGS von Stefan Pohl
Es ist klar, dass mehr Partien gefunden werden, wenn man Option 1 nutzt. Die wenigsten Partien ergeben sich mit Option 3, diese sind dann dafür auch auch sehr spektakulär.
Abschließend fragt das Tool noch nach der maximalen Zuglänge der Gewinnpartien in der zu untersuchenden PGN-Datenbank, danach startet das Tool. Je höher die maximale Zuglänge, desto mehr Partien werden logischerweise untersucht und damit auch mehr Partien gefunden. Für Mensch-Partien reicht eine Zuglänge von 80 aus, bei Engine-Partien würde ich 100 empfehlen, v.a. wenn die Engines bis zum Matt spielen mußten; dann können auch höhere Partielängen sinnvoll sein. Für eine komplette Untersuchung aller Gewinnpartien gibt man 250 als Maximallänge ein.
Aggressive Games mit und ohne Opfer
Computerschach-Freund und AGS-Programmierer: Stefan Pohl
Ist das Tool mit seiner Suche fertig, ertönt eine kurze Tonfolge, und die gefundenen Partien werden in zwei zusätzlichen PGN-Dateien abgelegt, genannt: „aggressive_no_sacrifices.pgn“ sowie „aggressive_with_sacrifices.pgn“. Wobei in der ersten Datei die „Treffer“ der Suche nach ins gegnerische Feld vorgerückten Sieger-Figuren abgespeichert werden, und in der zweiten Datei dann die Opfer-Partien.
Dabei ist zu beachten, dass es keine sog. Doubletten (also identische Partien) geben kann, denn das AGS-Tool sucht immer zunächst nach Opfern in einer Partie. Nur, wenn keines gefunden wird, wird die Suche nach Figuren der Siegerfarbe vorgerückt im gegnerischen Lager, überhaupt gestartet.
AGS gegen Chessbase
Die Suche nach ins gegnerische Lager vorgerückten Figuren des Siegers ist sehr aufwändig und darum leider eher langsam. (Hier ist das Tool daher nicht schneller als z.B. die Opfersuche in „Chessbase“). Auf einem normalen PC kann man mit einer Ausbeute von ca. 3-5 Partien pro Sekunde bzw. ca. 200-300 pro Minute rechnen.
Aus diesem Grund habe ich eine weitere Version des Tools geschrieben, die auf eine Suche nach ins gegnerische Lager vorgerückten Figuren des Siegers verzichtet und nur nach Opfern sucht:“ AGS_Sacrifices_Only_Turbo.bat“. Dieses Tool sucht also ausschließlich nach Opfern, wobei die Eingaben des Users identisch zu denen des originalen AGS-Tools sind (s.o.).
Diese „reine“ Opfersuche ist um ein Vielfaches schneller und erlaubt daher auch das Durchsuchen von extrem großen Datenbanken in kürzester Zeit. Ich habe testweise eine Datenbank meiner SPCC-Rangliste mit 185000 Partien durchlaufen lassen; Das dauerte nur ca. drei Minuten, das Tool schaffte also ca. 1000 Partien pro Sekunde (!).
Das AGS-Turbo-Tool schreibt die gefundenen Opferpartien in die Datei „games_with_sacrifices.pgn“. Allerdings sind in dieser Datei zunächst alle Partien mit Weißsiegen abgelegt, danach alle Schwarzsiege. Dies war nötig, um die Geschwindkeit des Tools nicht zu beeinträchtigen.
Auch für alle, die auf die komfortable Opfersuche in ChessBase nicht verzichten wollen, bietet das schnelle AGS-TurboTool einen praktischen Nutzen, da man mit seiner Hilfe größere Datenbanken sehr schnell vorfiltern kann. Mit der Suchoption 1 und einer hohen Partiemaximallänge filtert das Tool sehr schnell ca. 5-8 Prozent potentiell interessante Partien aus. Mit dieser um 92%-95% geschrumpften Ergebnis-Datenbank kann man dann wiederum die sehr differenzierte ChessBase-Opfersuche starten.
Die Basis: Das Tool PGN-Extract
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Meine AGS-Tools nutzen für alle wesentlichen Funktionen das sehr mächtige Freeware-Tool pgn-extract des englischen Programmierers David J. Barnes. Dieses befindet sich, wie auch die Figurenverteilungsmuster zur Opfererkennung im bin-Ordner des Downloads. Dort werden auch temporäre Dateien während des Suchprozesses der Tools angelegt (und wieder gelöscht). Der bat-Ordner darf daher nicht wegbewegt oder sein Inhalt verändert oder schreibgeschützt werden. Auch ein mehrfaches Starten der Tools zu selben Zeit geht nur, wenn man den kompletten AGS-Ordner kopiert, so dass jedes der laufenden Tools einen eigenen bin-Ordner bekommt, ansonsten gibt es Datei-Kollisionen.
Wie bei allen Batch-Tools unter Windows gilt: In das schwarze Fenster, in dem sie laufen, darf man nicht mit der Maus hineinklicken, sonst friert das Programm ein. Dies ist ein Problem von Windows, es läßt sich nicht vermeiden…
Eine echte Innovation
Ich meine, dass insbesondere das AGS-Turbo-Tool, das nur nach Opfern sucht, eine echte Innovation darstellt. Denn es war bisher schlicht nicht möglich, Partiedatenbanken mit so hoher Geschwindigkeit nach Opfern zu durchsuchen. Die Opfersuche an sich war bisher v.a. unter ChessBase bekannt, dort ist sie aber sehr viel langsamer. Zwar lassen sich dort auch deutlich mehr spezielle Suchparameter und Stellungsmuster nutzen, aber leider nur mit geringer Suchgeschwindigkeit. Eine wirklich schnelle Opfersuche, um auch große Partiedatenbanken in annehmbarer Zeit zu durchsuchen, gab es bisher schlicht nicht.
Dieses neuartige AGS-Turbo-Tool hat zumindest für mich schon eine neue Erkenntnis erbracht, nämlich die, dass es im modernen Engine-Schach weit öfter Opferpartien, also Siege nach Materialnachteil gibt, als ich das vermutet hatte. Selbst wenn man eine Engine-Partiedatenbank mit dem Turbo-Tool und Option 3 durchsucht, also nur nach wirklich spektakulären Opfern, werden mehr Partien gefunden, als ich jemals gedacht hätte. Ein 7000 Partien Testrun von Stockfish für meine SPCC-Rangliste ergab selbst mit Suchoption 3 noch knapp 200 Partien.
Stockfish: Trotz Materialnachteile zum Sieg
Das finde ich wirklich sehr erstaunlich. Denn eigentlich nimmt man ja an, dass gerade die extrem starke Engine Stockfish gegen schwächere Gegner gewinnt, indem sie nach und nach Materalvorteil erringt und daraus dann in den Partiegewinn abwickelt. Dass aber Stockfish derart häufig sogar deutlichen Materialnachteil in einen Sieg verwandelt, hat mich völlig verblüfft. Engine-Schach der Spitzenklasse ist also doch interessanter und spektakulärer, als es seine zahllosen Remis-Ergebnisse in den entspr. Turnieren vermuten lassen. Vorausgesetzt eben, diese wirklich interessanten Partien werden aus einer riesigen Menge von Partien herausgefiltert. Dank des kostenlosen AGS Turbo-Tools ist das jetzt einfach und schnell für jeden Schachspieler möglich. ♦
Die Schach-Software Fritz der Hamburger Software-Firma Chessbase ist neu in ihrer 18. Version auf dem Markt. Inwiefern bzw. in welchem Ausmaß unterscheidet sich der jüngste Fritz vom Vorgänger? Lohnt es, Fritz 18 für sich oder als Geschenk unter den Weihnachtsbaum zu legen?
Wenn ein kommerzielles Schachprogramm über 30 Jahre hinweg mittlerweile 17 Updates hinter sich hat, wird es für die Entwickler immer schwieriger, wirklich innovativ zu bleiben. Zumal „Fritz“ in Amateur- und Profi-Kreisen längst zum Synonym von Schachsoftware überhaupt avanciert ist. Fritz ist weltweit quasi ein Selbstläufer in Sachen Schach-Oberfläche, bei zahllosen Schachspielern aller Leistungsklassen kommt er praktisch im „Abonnement“ auf die heimische Festplatte. Fritz „hat man einfach“…
Neue Analyse-Funktionen
Denn nach wie vor (und trotz mittlerweile interessanter Alternativen auch aus dem Freeware-Bereich) ist die Fülle der Optionen dieses Graphical User Interface (GUI) für das digitale Schach unerreicht. Von seiner umfassenden Anbindung in die Welt des Internets noch gar nicht geredet.
Werfen wir also einen genauen Blick darauf, ob Chessbase wieder ein paar echte Innovationen in ihr Aushängeschild gepackt hat, oder ob die Hamburger um die beiden Chef-Entwickler Mathias Feist und Matthias Wüllenweber einfach mehr oder weniger ihren hohen Besitzstand wahrten. Letzeres wäre nicht zum ersten Mal der Fall: Dem Druck der Käufer- und Anhängerschaft nach Novitäten waren die Hamburger in den vergangenen 30 Jahren auch schon mal nicht ganz gewachsen.
Visuelle Bewertung
Vergleicht man (neben den selbstverständlich unterschiedlichen Startbildschirmen der Versionen) – erstmal die Oberflächen von Fritz 17 und Fritz 18 , fällt sofort auf, dass – einem nichts auffällt. Denn Menüstruktur, Features-Angebot, Optionen – alles wie gehabt und im Handling praktisch identisch. Die ganz große 30-Jahr-Jubiläumsfreude kommt also bei dieser 18. Ausgabe nicht auf.
Bezüglich Menü-Struktur nichts Neues unter der GUI-Sonne: Fritz 17 & 18 sind identisch
Doch völlig auf Novitäten verzichten wollte man denn doch nicht, allerdings muss man der Software stark unter die Haube kriechen, um sie zu entdecken. Betrachten wir zuerst den Bereich „Analyse“.
Neu wartet Fritz nun mit einer differenzierteren Visualisierung der Stellungseinschätzung auf; hier sind drei Neuerungen erwähnenswert:
Fritz 18: Die Brettdarstellung und das Engine-Analysefenster erfuhren kleine Erweiterungen
A) Fritz 18 bewertet die Figurenstellung nun mittels Farbskala: Rote Kennzeichnung bedeutet „schlecht“, gelb ist „mäßig“, und grün meint „gut“. Die „Flammen“ im Bewertungsfenster visualisieren die Stellung insgesamt, z.B. als „normal“, „scharf“ oder „das Brett brennt“.
B) Der Engine-Output weist nun ergänzende Hinweise hinsichtlich z.B. Drohungen auf (rote Varianten-Zeilen).
C) Fährt die Maus über die Notation eines Zuges innerhalb der Analyse-Variante(n), wird der betr. Zug auf dem Brett visualisiert; ein m.E. besonders nützliches Feature.
Wären nur diese paar Analyse-Novitäten im neuen Fritz, könnte man die Version getrost als „Neuer Schlauch für alten Wein“, also als überflüssig ad acta legen. Doch Chessbase scheint sich in der Fokussierung seines Analyse-Flaggschiffes wieder auf den real praktizierenden Schachfreund besonnen zu haben unter dem Motto: Hin zu einem Fritz als Sparring-Partner des Vereinsspielers. Das Interface nimmt jetzt den selber spielenden Anwender bei der Hand und lässt ihn gegen und mit Fritz deutlich interessantere und lehrreichere Partien als vorher absolvieren.
Geführt – berührt
… nennt sich die wichtigste Neuerung von Fritz 18. Der User wählt ein ihm entsprechendes Niveau der Gegnerschaft aus, und Fritz spielt auf eben diesem Niveau mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz möglichst „menschliche“ Züge, die auch zweitklassig oder gar fehlerhaft sein können. Der Hersteller selber umschreibt euphorisch diese neue Funktion folgendermaßen:
Intelligentes Amateur-Verhalten mithilfe von Künstlicher Intelligenz: Fritz als Vereinsspieler
„Fritz 18 steuert sein Spielverhalten intelligent und führt Sie mit Hilfe subtiler Tipps durch die Partie. Sobald Fritz unter Druck gerät, bevorzugt er als Verteidiger Varianten, die für Sie als Angreifer gute Chancen auf Opfer oder andere Taktik bergen. Damit gelingen oft spektakuläre Angriffssiege. Gegen Fritz 18 werden Sie scharfe Gewinnpartien spielen, die es in 40 Jahren Schachprogrammierung so nicht gegeben hat. Entweder waren die Programme zu stark oder sie lassen keine Opfervarianten zu, sondern geben selbst Material, um Matt abzuwenden. […]
Generell spielt Fritz im Modus ‚Geführt – Berührt‘ auf Level ‚Clubspieler‘ zwar gebremst, doch durchaus stark. Die Partien sollen nicht zu einfach sein. Dennoch kann man sehr häufig gewinnen. Dazu gibt es die erheblich verbesserten subtilen Tipps. Den wesentlichen Anteil der Partie gestalten Sie selbst, doch bei Gegenwind holen Sie sich Hilfe.“
Diese „subtilen Tipps“ kommen dann in Form von Hinweisen daher wie: „Greife eine Leichtfigur an“, „Besetze ein starkes Feld“, „Drohe Matt“, „Gewinne Material“, „Biete einen Abtausch an“.
Fazit: Die dezidierte Hinwendung des neuen Fritz zum spielenden, nicht nur analysierenden Anwender ist grundsätzlich zu begrüßen. Es ist m.E. der einzige wirklich vielversprechende Weg eines neuen, modernen Schach-Interfaces. Die reinen (und durchaus bewährten) Analyse-Funktionen bleiben ja erhalten, und in Sachen Partien-Verwaltung gibt’s weitere spezialisierte Software (von Chessbase selber über die Freeware Scid bis hin zu anderen kommerziellen Angeboten wie z.B. Chess Assistant).
Einer der geistigen Väter von Fritz 18: Der Physiker, Programmierer und Chessbase-Gründer Matthias Wüllenweber (geb. 1961)
Die Frage, ob man als Schachspieler den neuen Fritz kaufen soll, hängt (wie immer und diesmal ganz besonders) von den Präferenzen des Users ab. Wer nicht selber (oder allenfalls online) mittels Software Schach spielen, sondern vorwiegend analysieren will, der braucht Fritz 18 nicht (sofern er bereits eine der Vorgänger-Versionen hat). Denn der Analyse-Sektor des Programms ist trotz der oben erwähnten grafischen Novitäten zuwenig innovativ, und diesbezüglich beschleicht einen allmählich der Eindruck, als wären Chessbase hier die Ideen ausgegangen. Kommt hinzu, dass auch die neue Fritz-Engine zwar neu programmiert wurde (diesmal von Frank Schneider), aber hinsichtlich Spielstärke keinen nennenswerten Fortschritt gegenüber Fritz17 erzielt. (Dass selbstverständlich auch die neue Fritz-Engine jeden der Top-Großmeister der Welt in einem Match in Grund und Boden spielte, braucht nicht näher ausgeführt zu werden). Wer eine absolute State-of-the-art-Engine in der Partien-Analyse einbinden will, greift zum Freeware-Programm Stockfish.
Anders sieht es aus für jene Anwender, die einen interessanten, informativen und lehrreichen Sparring-Partner fürs eigene Schachtraining suchen. Hier hat Fritz 18 seine wirklichen neuen Verdienste, und da lohnt sich durchaus ein Kauf. Für knapp 60 Euro kriegt der User ein Interface, das den „selbstständigen privaten Schachunterricht“ auf ein neues Niveau hebt. ♦
Wassili Wassiljewitsch Smyslow (bzw. Vasily Smyslov) war der siebte Weltmeister der Schachgeschichte – und eine der vielfältigsten Persönlichkeiten des internationalen Schachsports. Man attestierte dem Spiel dieses russischen Großmeisters (und studierten Bariton-Sängers) ein besonderes Streben nach harmonischen Figurenstellungen. Diese „Harmonie“ sorgte allerdings nicht dafür, dass sein Leben und Schaffen im breiten Schach-Feuilleton überdurchschnittliche Aufmerksamkeit zugestanden wurde. Eine neue DVD aus dem Hause Chessbase will da etwas nachbessern.
Ich muss gestehen, dass ich vor der Anfertigung dieser Rezension viel zu wenig über Wassili Wassiljewitsch Smyslow (1921-2010) wusste. Natürlich, er war Weltmeister von 1957 bis 1958, nachdem er in seinem ersten Anlauf 1954 Titelverteidiger Botwinnik bei einem Endstand von 12:12 denkbar knapp nicht entthronen konnte. Auf dem Weg zu seinen beiden Titelkämpfen gewann er zwei der wichtigsten Turniere der Schachgeschichte, die Kandidatenturniere von 1953 und 1956, denen in Form der Turnierbücher herausragende literarische Denkmäler gesetzt wurden.
Die „Master Class“ – Reihe von Chessbase
Denkt man an Smyslow, so schwingt sogleich das Wort „Harmonie“ mit – lag doch dem 7. Weltmeister, der auch ausgebildeter Baritonsänger war, ein besonderes Streben nach harmonischer Figurenstellung am Herzen, wie bereits der Titel seines 1979 erschienenen Werkes nahelegt: „Auf der Suche nach Harmonie“. Und doch sind das nicht eben viele Informationen über eine der herausragenden Gestalten der Schachgeschichte. Umso gespannter war ich auf die DVD, die vor wenigen Wochen im Hause ChessBase als 14. Band der Reihe „Master Class“ herausgegeben wurde. Damit fehlen in der illustren Reihe der besprochenen Schachgiganten von den Weltmeistern lediglich noch Wilhelm Steinitz und Max Euwe.
Schach-Weltmeister und Bariton-Sänger: Wassily Smyslow (1921-2010))
Nach einer Kurzbiographie wird Smyslows Schaffen in den Bereichen Eröffnung, Strategie, Taktik und Endspiel untersucht. Jedes Kapitel enthält mehrere Videos, sehr oft mit Trainingsfragen versehen. Im Kapitel über die Eröffnung stellt Yannick Pelletier Smyslows die These auf, dass die Auseinandersetzung mit Botwinnik, mit dem sich Smyslow in drei Weltmeisterschaften maß, großen Einfluss auf seine Eröffnungen, insbesondere sein Schwarzrepertoire, gehabt habe. Interessant und in gewisser Weise bezeichnend für Smyslows Stil ist das zweite Video, in dem das Konzept des Doppelfinanchettos behandelt wird, das von Smyslow mit großem Erfolg gewählt wurde, um theoretische Debatten zu vermeiden. Er versuchte mit Weiß von vorneherein nicht, aus der Eröffnung heraus deutlichen Vorteil zu erzielen, sondern spielbare Stellungen zu erhalten.
„Untheoretisches Vorgehen“ in der Eröffnung
Mit diesem Ansatz kommt Smyslow dem Vorgehen heutiger Spitzenspieler erstaunlich nahe. Dass dieses „untheoretische“ Vorgehen auch gegen sehr starke Gegner Früchte trug, zeigt eine Schlüsselpartie im Kandidatenturnier 1956 gegen einen seiner Hauptkonkurrenten, nämlich David Bronstein. Allerdings deckt diese Partie auch eine kleine Schwäche der DVD auf, nämlich die (meiner Ansicht nach) gelegentlich etwas zu pauschalen Bewertungen:
Enge Verbindung von Strategie und Taktik
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Smyslows Strategie im Mittelspiel nähert sich in sieben Videos Mihail Marin an. Er betont die enge Verbindung von Strategie und Taktik: Smyslow sei kein echter Positionsspieler, als welcher er oft gesehen wird, sondern ein kompletter Spieler, der seine Gegner erst positionell überspielte, um die Partie danach taktisch zu entscheiden. In dieser Hinsicht zieht Marin den überraschenden Vergleich zu Aljechin – sicher nicht der Spieler, an den man am ehesten denken würde, wenn man Smyslow vor Augen hat. Sehr interessant ist die Analyse dreier „Spätwerke“ – Partien, die Smyslow im Herbst seiner langen Karriere im Alter von 52, 62 und 72 Jahren gegen andere Weltklassespieler gewinnen konnte. Marin bezeichnet Smyslows Partien im Alter sogar als „schöner und reiner“ als diejenigen zu seiner Glanzzeit.
Smyslows Endspiel-Schaffen
Endspiel-Experte Dr. Karsten Müller
Mit Karsten Müller widmet sich ein ausgewiesener Endspielexperte dem Schaffen Smyslows in der letzten Partiephase. Auch in den gewählten 6 Beispielen (darunter drei Turmendspielen) wird das vielbeschworene Streben nach Harmonie bemüht. Die Beispiele sind durchgehend eindrucksvoll und werden von Müller gut erklärt, wenngleich man sie, wie auch Müller selbst betont, viel eingehender studieren sollte als lediglich in Form des Videos.
Neben dem Endspiel gehören die taktischen Fähigkeiten zu Smyslows herausragenden Eigenschaften. In 25 interaktiven Taktikaufgaben widmet sich Oliver Reeh diesem Bereich.
Fehlende Datenbank mit Smyslow-Studien
Als Bonus enthält die DVD alle 2856 von Smyslow gespielten Partien (teilweise mit Kommentaren versehen), weitere von Oliver Reeh aufbereitete Trainingsfragen sowie ein aus den Partien des Exweltmeisters generiertes Eröffnungsbuch.
Screenshot aus „Vasily Smyslov – Master Class Band 14“: Strategie-Analysen von M. Marin
Während sich mir der Nutzen dieser Eröffnungsbücher, die sich auch in anderen Publikationen finden, nicht recht erschließt, hätte ich die eine oder andere Zugabe nützlich gefunden. Eine Übersicht über Smyslows Erfolge mag vor allem aus Sicht eines an Schachhistorie Interessierten wünschenswert sein, doch sind es nicht gerade Fans der Schachgeschichte, die als Käufer solcher DVDs in Frage kommen? Ebenso hätte eine Datenbank mit den ca. 150 von Smyslow komponierten Studien die DVD abgerundet.
Interessante Gesamtschau
Wohlverstanden: Das ist Mäkeln auf hohem Niveau. Wenn man die DVD als das begreift, als was sie konzipiert wurde, erfüllt sie die Erwartungen vollkommen: Es wird eine interessante, kompetente Zusammenschau des Smyslow’schen Schaffens in den verschiedenen Partiephasen geboten und dem Zuschauer die Möglichkeit eröffnet, an Schlüsselstellen selbst den Entscheidungen des Meisters nachzuspüren. ♦
Über das Schachprogramm LeelaChessZero wurde auch im GLAREAN MAGAZIN schon mehrmals berichtet. Zu welchen „strategischen“ Höhenflügen diese NN-Software, die Ende Dezember 2017 ihren Siegeszug im Schlepptau des KI-Programmes AlphaZero antrat, in der Lage ist, zeigte sich wieder im sog. „Superfinale“ des Internet-Engine-Turnieres TCEC (2021).
In dieser „Top Chess Engine Championship“ werden – für Computerschach-Verhältnisse – überdurchschnittlich lange Bedenkzeiten angewendet. Das macht den Wettbewerb zwar noch anfälliger für Remis-Ergebnisse, zeitigt aber gleichzeitig eine Schachqualität von extrem hohem Niveau.
So kam es in dem TCEC-Superfinale 2021 zwischen den beiden Finalisten LeelaChessZero und Stockfish zu folgender Position:
LCZero (69626) – Stockfish (20210713) Weiß am Zuge
FEN: 2rq1rk1/1b1nbpp1/p3p2p/1p1pP2P/1P1B4/P2BQN2/5PP1/R4RK1 w
In dieser Stellung setzte LeelaChessZero als Weißer zu einem regelrechten Amoklauf des Springers an: Über vier Stationen und das ganze Brett hinweg landet die Figur schließlich auf der gegnerischen Grundreihe, wonach die Stellung des Schwarzen praktisch aufgabereif ist.
Es wundert nicht, dass solchen „strategischen Meisterleistungen“ das Attribut „menschlich“ zuerkannt wird. Wenn wir dann noch den Line-Output untersuchen, den Lc0 in der Ausgangsstellung produziert, ist sofort ersichtlich, dass die Engine und ihr NN-Netzwerk nicht zufällig auf diese Springerwanderung verfiel, sondern deren Stationen tatsächlich „vorausgedacht“ hat.
Ob die vom Menschen kreierte Umschreibung „strategisch“ im Zeitalter des Computers noch angebracht ist, wird schon lange unter den Schachtheoretikern kontrovers diskutiert. Denn zuweilen entpuppt sich in der Engine-Analyse die „Strategie“ als bloß „Tiefe Taktik“. Nur halt nicht für den beschränkten Berechnungshorizont des Menschen… ♦
Das erste, was dem Nutzer bei der 16. Version der Schach-Datenbank ChessBase ins Auge springt, ist ein roter Schlüssel. Dieser Schlüssel prangt auf dem Cover der DVD, der obere Teil bildet die Form eines Königs. Im Ankündigungsartikel auf der Homepage der Hamburger Hersteller-Firma wird die naheliegende Metapher aufgelöst: „ChessBase 16 ist da – Ihr Schlüssel zum Erfolg“.
In meiner Besprechung gehe ich auf zwei neue Funktionen ein, die für Turnierspieler und Trainer, also die hauptsächliche Käuferschaft eines Schachdatenbank-Programms wichtig sein dürften: Die automatische Erstellung einer Eröffnungsübersicht und die Suche nach Eröffnungsneuerungen.
Verbesserungen der Grafiken und des Server-Chats
Damit bleiben einige andere Neuheiten unberücksichtigt, die aber durchaus Detailverbesserungen darstellen. Hierzu zählen die Erweiterung der Funktion der Ray Tracing-Grafiken oder die Verbesserung des Chats auf dem hauseigenen Server schach.de. Besonders nützlich finde ich die neue Funktion „Faltung der Notation“. Mit einem Mausklick werden Varianten nach dem ersten Zug ausgeblendet, was eine umfangreiche Kommentierung sofort deutlich übersichtlicher werden lässt.
Doch sind diese Verbesserungen vermutlich für die meisten Interessenten kein Grund, sich ein neues Schachprogramm anzuschaffen. Kommen wir daher zu den aus meiner Sicht zentralen Neuerungen.
Durch die Funktion „Übersichten“ übernimmt das Programm die Aufgabe, einen Variantenbaum zu einer Eröffnung bzw. Variante zusammenzustellen. Dazu wählt der Anwender eine ihn interessierende Stellung aus und gibt an, von welcher Seite aus diese Position beleuchtet werden soll. Danach präsentiert ChessBase den seiner Meinung nach besten Zugvorschlag und bietet einen Überblick über die möglichen Antworten der Gegenseite.
Diesen Prozess kann man beeinflussen, indem man bestimmte Kriterien (z.B. „traditionell“ oder „modern“, „Klubspieler“- oder „Meisterniveau“) vorgibt. Grundlage des Variantenbaums ist entweder eine Übersicht, die bereits auf dem Server existiert, oder die eigene Referenzdatenbank, aus der die Übersicht neu generiert wird.
Zeitsparende Varianten-Recherche
Mit dieser Funktion spart der Anwender viel Zeit. War es zuvor notwendig, sich mit Hilfe verschiedener Datenbanken oder des „Livebuchs“ selbst über plausible Fortsetzungen zu informieren, erledigt dies nun der Computer. Allerdings ist es offenkundig, dass die Qualität neu erstellter Übersichten mit der Qualität der Referenzdatenbank steht und fällt. Zudem nimmt mit jedem gespielten Zug die Anzahl der existierenden Partien ab, das Programm hat also weniger Material für eine Eröffnungsübersicht zur Verfügung.
Das kann dazu führen, dass kein Ergebnis präsentiert wird. In meinem ersten Versuch ging ich von der folgenden Position aus dem Damenbauernspiel aus, die sich noch zu Damengambit oder Colle entwickeln könnte:
Als erstes forderte ich eine Übersicht zum zugegebenermaßen exotischen 5.Se5 an. In meiner Referenzdatenbank finden sich zu dem Springerzug 11 Partien, das war dem Programm offenkundig zu wenig für eine Übersicht. Und auch mein Wunsch, etwas zum Zug 5.b3 zu erfahren, wurde nicht erhört. Diesmal existierten immerhin schon 27 Vorgängerpartien. Bei sehr speziellen Positionen stößt die Funktion „Übersichten“ also schnell an ihre Grenzen.
Für den nächsten Versuch wählte ich eine Position, zu der viele tausend Partien vorliegen: Die Grundstellung der Königsindischen Verteidigung nach 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6. Zunächst ließ ich ChessBase nach traditionellen Fortsetzungen auf Turnierniveau suchen. Hier konnte das Programm eine Übersicht präsentieren, die bereits auf dem Server vorhanden war:
Der Zugvorschlag 5.Sf3 entspricht mit Sicherheit der „traditionellen Ausrichtung“ – was könnte klassischer sein als das Klassische System? Auch über schwarze Antworten wird ein umfangreicher Überblick gegeben, inklusive Hinweise auf Zugumstellungen und Partiezitate.
Verändert man die Präferenzen, ergeben sich andere Varianten. Hier die Übersicht aus der gleichen Stellung, diesmal aber auf Klubniveau und mit dem Schwerpunkt auf „Angriff“:
Die Begrenzung auf nur einen Zugvorschlag ist meines Erachtens Fluch und Segen zugleich. Möchte man als Angriffsspieler schnell eine brauchbare Variante gegen Königsindisch erhalten, so wird man mit 5.Le2 nebst baldigem Bauernvormarsch am Königsflügel gut bedient. Es werden aber natürlich viele andere Systeme verschwiegen, die einem Angriffsspieler ebenfalls liegen könnten: Die Sämisch-Variante, der Vierbauernangriff usw.
Auch ist mir nicht immer klar, nach welchen Kriterien das Programm einen bestimmten Zug vorschlägt. Bei den Vorgaben „Klubniveau“ und „Vereinfachen“ empfiehlt ChessBase gegen Königsindisch wenig überraschend die Abtauschvariante 5.Sf3 0-0 6.Le2 e5 7.dxe5. Doch was soll Weiß unternehmen, wenn Schwarz nicht 6…e5 spielt, sondern 6…c5? Hier spricht sich das Programm für 7.d5 aus, was ein völlig logischer Zug ist. Und dennoch: Wieso ausgerechnet 7.d5?
Ein Blick in die Online-Datenbank zeigt, dass 7.0-0 deutlich häufiger gespielt wurde und eine deutlich höhere Erfolgsstatistik aufweist als 7.d5. Dies kann also nicht der Grund für die Empfehlung sein. Und auch Engines bewerten den Bauernvorstoß nicht grundsätzlich besser als die Rochade. Zudem sind die Folgen der Zugauswahl an dieser Stelle durchaus weitreichend: 7.0-0 würde zu einer komplett anderen Stellung führen als 7.d5.
Auch hier gilt also, was schon an unzähligen anderen Stellen über Computervorschläge und -bewertungen geschrieben wurde: Man sollte sich nicht blind auf die Empfehlungen des Programms verlassen, sondern sie als das nehmen, was sie sind: sehr schnell verfügbare und sehr nützliche Hilfsmittel, die man aber jeweils kritisch durchdenken sollte.
Eine weitere spannende Funktion ist das Schürfen nach Neuerungen. Die Engine sucht in einer großen Anzahl von Varianten, einschließlich der Nebenvarianten, nach selten oder noch gar nicht gespielten Zügen, die eine überraschend gute Bewertung aufweisen. Der Nutzen leuchtet sofort ein: Man bekommt schnell Hinweise auf neue und ungewöhnliche Züge, auf die man bei einer herkömmlichen Analyse bzw. Datenbanksuche vielleicht überhaupt nicht oder jedenfalls erst nach längerer Zeit gestoßen wäre.
Ausgangspunkt meines Praxistests war eine Stellung aus dem holländischen Staunton-Gambit nach den Zügen 1.d4 f5 2.e4 fxe4 3.Sc3 Sf6 4.f3 d5. Hier ließ ich das Programm mit den oben zu sehenden Einstellungen nach Neuerungen suchen. Nach 27 Minuten kam es zu folgendem Ergebnis:
Die gefundene Neuerung soll also in der Variante 5.fxe4 dxe4 6.Lg5 c6 mit dem Zug 7.Sge2 (gegenüber dem häufiger gespielten 7.Lc4) zu finden sein. Verwirrend ist allerdings, dass sich zu dem Springerzug fünf frühere Partien finden, obwohl ich ChessBase nach Zügen hatte suchen lassen, die bislang maximal einmal vorkamen. Ich kann das Ergebnis nicht erklären, in anderen Teststellungen wurden tatsächlich nur neue Züge angeboten. Wohlgemerkt beeinträchtigt dieses Ergebnis nicht den Wert von 7.Sge2, denn auch bei 5 Vorgängerpartien ist dieser Zug ja eindeutig selten genug um Gegner zu überraschen.
Kaufen – ja oder nein?
Die Gretchenfrage einer jeden Rezension lautet, ob der Autor die Anschaffung des Produktes empfiehlt. Im Fall von ChessBase 16 fällt die Antwort zwiespältig aus. Seit ChessBase 1987 das Licht der Welt erblickte, hat es unzählige Verbesserungen erfahren, längst setzt es den Standard im Bereich des Schachtrainings, der Gegnervorbereitung, aber auch der Analyse und Veröffentlichung von Partien.
Wer keine neuere Version des Programms sein Eigen nennt und ambitioniert Schach spielt oder trainiert, kann bedenkenlos bei Version 16 zugreifen – es ist ohne Zweifel ein sehr gutes und ausgereiftes Programm.
Lautet die Frage aber, ob es einen solchen Fortschritt darstellt, dass man es auch erwerben muss, wenn man bereits die Vorgängerversion besitzt, so ist die Antwort weitaus weniger eindeutig. Die Innovationen sind interessant und durchaus nützlich, allerdings sind der Kaufpreis für das Startpaket in Höhe von 199,90 € und der Preis von 99,90 € für ein Update von Version 15 Summen, bei denen viele Schachfreunde genau überlegen werden, wie wichtig die neuen Funktionen für sie sind.
Nichts für Gelegenheitsspieler
Die Eröffnungsübersichten und die Suche nach Neuerungen, auf die ich mein Hauptaugenmerk gelegt habe, sprechen in erster Linie Spieler und Trainer an, die regelmäßig und tiefgründig im Bereich der Eröffnungen arbeiten. Für sie lohnt sich die Anschaffung von ChessBase 16, da die neuen Funktionen sehr viel Zeit und Arbeit sparen und wohl auch auf Züge hinweisen, die ansonsten unentdeckt geblieben wären.
Für den Gelegenheitsspieler oder auch Vereinsspieler einer mittleren Spielstärke halte ich den Einsatz dieser neuen Möglichkeiten für nicht unbedingt erforderlich. ♦
Vor drei Jahren hat der Autor in seinem Schach-Report „Die besten Engines der Welt“ ein Turnier mit 31 der häufigst verwendeten Programme besprochen. Seither hat das Computerschach eine gänzlich neue Entwicklung der Programmierung erlebt: Das KI-Programm Leela-Chess-Zero (Lc0) mit seinen ständig verbesserten Neuronalen Networks. Dieser gegenüber der traditionellen Alpha-Beta-Konzeption der herkömmlichen Engines gänzlich andere Strang der Schachprogrammierung mischt nun an der Spitze kräftig mit. Es war also an der Zeit, auf dem heimischen Ryzen-7 und seinen 16 Cores ein zweites grosses Turnier mit erneut 31 der momentan meistverwendeten Schachmotoren aufzusetzen: „Die besten Engines der Welt – Zwei“.
Bis anhin war ja, wenn’s um die absolute Spitze im Computerschach ging, nur von einem Programm die Rede: Stockfish. Über die Jahre gewachsen und von hunderten eifriger Tester und Anwender getragen, entwickelte sich diese Freeware-Engine zum einsamen Überflieger der Szene, gegen den nicht einmal die beiden kommerziellen Programme Komodo und Houdini eine Chance hatten. Doch dann überfiel im Dezember 2017 das AI-Projekt AlphaZero von DeepMind (by Google) die Schachwelt, und kein Stein blieb mehr auf dem anderen.
Bei Lc0 in die Schule gehen
Gelehrig in Sachen „Material vs Initiative“: Weltmeister Magnus Carlsen (Cover „New In Chess“ NIC – 2019)
Nicht nur das Computerschach geriet durch AlphaZero bzw. nun durch seinen würdigen (und v.a. kostenlosen) Nachfolger Lc0 in Aufruhr, auch die internationale Grossmeister-Szene bis hinauf zu WM Magnus Carlsen blickte gebannt auf diese Forschung, deren Produkte so ganz anders und zugleich höllisch stark Schach spielten. Und so nebenbei ein paar eröffnungstheoretische und mittelspielstrategische Glaubenssätze erfolgreich in Frage stellten.
Mittlerweile gibt sogar die oberste Etage der GM-Gilde unverhohlen zu, bei Lc0 in die Schule zu gehen. Beispielsweise Weltmeister Carlsen, über den es in der August-2019-Ausgabe der renommierten Zeitschrift „New in Chess“ heisst: „Magnus’ play is like that in the original ten AlphaZero games, with the initiative being a more important factor than the number of pawns“.
Das AI-Schach als „Game Changer“
Co-Autorin von „Game Changer“: Die Mathematikerin Natasha Regan
Feiert also die „romantische Ära“ des Opfer-Schachs von Paul Morphy bis Michael Tal ein Comeback infolge der Initialzündung Lc0? Einfach mit dem Unterschied, dass Leela’s taktischen, positionellen und strategischen Opfer immer korrekt sind?
Fest steht jedenfalls, dass das KI-Programm bzw. seine autodidaktisch generierten Netzwerke bereits einen schon jetzt spürbaren Einfluss auf das Welt-Schach der Top-50-Spieler ausübt. In ihrem Buch „Game Changer – AlphaZero’s Groundbreaking Chess Strategies and the Promise of AI“ erläutern Grossmeister Mathew Sadler und die Mathematikerin Natasha Regan ausführlich, welche Implikationen dieses neue AI-Schach für die moderne Spielweise im internationalen Turnierschach beinhaltet.
Und was setzen die „Traditionalisten“ dieser geballten neuronalen Wucht entgegen? Sie bessern Stockfish & Co. immer noch mehr nach, versuchen dessen Schwächen auszumerzen, ohne seine Stärken zu mindern, was in der Alpha-Beta-Welt eine Herausforderung darstellt. Im Moment scheint Stockfish zu stagnieren. Doch das diagnostizierte man schon in früheren Entwicklungsperioden, nur um dann wieder überrascht zu beobachten, dass der Fisch erneut 50 Comp-Elo zugelegt und die Konkurrenten im Teich einen nach dem anderen weggebissen hatte.
Neuerdings wird allerdings die Alleinherrschaft von Stockfish nicht nur von LeelaChessZero, sondern unmissverständlich von einem Mitglied des eigenen Clans in Frage gestellt. Das Stockfish-Derivat Eman des Programmierers Omar Khalid aus den Vereinigten Arabischen Emiraten trumpft nämlich gerade ganz gross auf im internationalen Engine-Zirkus.
Wer dieses Programm beim Spielen beobachtet, der stellt sofort fest: Die Engine hat einen enormen Speed am Leib. Sie geht so rasant in die Tiefe, dass sogar dem Allesrechner Stockfish der Atem stockt. Auf meinem Rechner hat es jedenfalls aktuell keinen Gegner, die taktische Power dieses Emporkömmlings ist fulminant. Untersuchen wir also diesen Eman aus Arabien etwas näher…
Exkurs: EMAN von Khalid Omar
Wer ist Khalid Omar?
Bastelte aus Stockfish die Turbo-Engine des Jahres: Eman-Programmierer Khalid Omar (geb. 1977)
Khalid Omar, der Programmierer der Schach-Engine Eman, die aus dem Open-Source-Programm Stockfish hervorgegangen ist, wurde 1977 in Kuweit geboren und schloss 2000 sein Studium als Elektro-Ingenieur an der Jordan University of Science & Technology ab. Seitdem arbeitet er in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Chief Technology Officer eines internationalen IT-Unternehmens. Khalid Omar ist verheiratet und Vater von vier Töchtern.
„Mein dominierendes Hobby ist das Schachspiel, und ich bin aktiv auf mehreren Online-Plattformen wie z.B. lichess.org oder chess.com unterwegs“, verriet der 42-jährige IT-Experte dem Glarean Magazin. Nur um gleich zu schmunzeln: „Meine Online-Schachwertung liegt irgendwo bei 1800 Elo, ich programmiere Schach also weit besser als ich es spiele…“
Nicht bei Null angefangen…
Mit der Generierung seiner Überflieger-Engine Eman begann er vor zweieinhalb Jahren, wobei er (wie die meisten heutigen Schachprogrammierer…) nicht mehr bei Null anfangen musste, sondern die Open-Source-Engine Stockfish hernahm und daran herumzuschrauben begann. Omar’s Herumschrauben erwies sich allerdings als sehr viel erfolgreicher als das anderer Stockfish-„Kloner“: Seit seinen 5.0-Versionen zählt Eman zu den Top-Drei neben Lc0 und Stockfish.
Das Konfigurations-Menü von Eman 5.6 offeriert dem Anwender eine Fülle von Einstellungen. Wer diese Defaults geschickt manipuliert, holt aus der Engine gut und gerne nochmals 20-30 Elo’s heraus…
Dass Eman aber nicht einfach nur ein überdurchschnittlich erfolgreicher Aufguss von SF ist, sondern mittlerweile als quasi eigenständiges Engine-Produkt be- und geachtet werden sollte, davon ist sein Schöpfer überzeugt: „Heute ist Eman nicht mehr zu vergleichen mit Stockfish“, meint Omar. „Meine vielen Änderungen beeinflussten fast jeden Aspekt des ursprünglichen Stockfish vom Zeitmanagement bis zur Thread-Synchronisation. Und das betrifft nicht nur den Alpha-Beta-Algorithmus, sondern ebenso den Bewertungsteil, der das Rückgrat jeder guten Schach-Engine ist“.
„Eman ist jetzt ein ganz anderes Programm“
Danach gefragt, was genau denn die vielen Features sind, die Eman als Mehrwert gegenüber Stockfish aufweist, beginnt Omar selbstbewusst aufzuzählen:
Full Analyse – Dank dieser Funktion behandelt Eman alle Züge bis zu einer bestimmten konfigurierbaren Tiefe als Hauptvariationszüge. Das erlaube es der Engine, eine umfassendere Suche in sehr grosse Tiefen durchzuführen, ohne viel Zeit zu verlieren.
Experience – Eman erinnert sich an die Züge, die es gemacht hat, und erinnert sich auch an die Züge des Gegners. All diese Daten werden in einer „Erfahrungsdatei“ gespeichert, um später verwendet zu werden, wenn die gleiche Stellung wieder angetroffen wird. Diese Erfahrungsdaten können optional als Buch verwendet werden, damit die Maschine ohne Nachdenken aus den Erfahrungsdaten spielen kann.
Coherence Evaluation – Vereinfacht formuliert versucht Eman mit dieser „Kohärenzbewertung“, zwischen Stellungen mit gleichem Score zu unterscheiden. Originalton Omar: „For instance, in Stockfish and other engines, the final score is the sum of all the individual evaluations such as Material, King Safety, Mobility, Passed Pawns, etc. With this logic, it is possible to have two equivalent scores with very different king safety values! Eman tries to compensate for this by looking at the evaluation parts individually and then calculating the Coherence value which indicates how healthy are the evaluation parts. The Coherence value is then added to the final evaluation seen by the Alpha-Beta algorithm“.
NUMA Awareness – Eman nützt die modernen High-End-NMUA-CPU’s bestmöglich aus, indem die Aware Systems implentiert wurden, welche dem Motor noch mehr Geschwindigkeit bei der Suche verleihen soll.
Search logic – Eman wurde eine verbesserte Suchlogik implentiert, wodurch das Programm aggressiver und dynamischer als Stockfish agiert.
Geheimnisvolle Qualität aus dem Orient…
Eman-Spezialität Freibauer: Mit den kraftvollen schwarzen Bauernvorstössen f6-f5-f4 und e4-e3 setzt Eman 5.5 den weissen (Komodo 13.3) unter Druck ( FEN-String: 1b2r3/1p3qk1/5pp1/1r1Pp2p/pNNnQ2P/P1R3P1/1P3PK1/3R4 b )
Programmierer Omar könnte, wie er gegenüber dem Glarean Magazin durchblicken lässt, noch mehr aus seiner Eman-Werkstatt berichten. Aber wie viele andere Schachprogrammierer, seien sie nun auf der Open-Source- oder der kommerziellen Schiene unterwegs, will er nicht alle seine Geheimnisse preisgeben. „Feind hört mit“, wie das in früheren Zeiten hiess…
Nun, solange diese Engine kostenlos – übrigens nur direkt/persönlich beim Autor abzuholen – erhältlich ist, wird die internationale Anwenderschaft solche Geschenke wie Eman dankend entgegen nehmen, ohne sich besonders lange bei irgend welchen Streitpunkten in Sachen GPU-Lizenzen aufzuhalten…
Bald die neue Nummer Eins?
Eines steht jedenfalls fest: In den letzten Wochen und Monaten häuften sich die Versionen des hochinteressanten Stockfish-Ablegers Eman – jeweils immer mit merkbarem Spielstärke-Zuwachs. Demgegenüber verzeichnet weder das Stockfish- noch das Lc0-Lager in letzter Zeit Fortschritte, über die zu reden sich lohnte…
Man darf also gespannt sein, ob sich dieser Freeware-Motor aus Arabien auch in Zukunft so rasant weiter entwickelt wie bisher. Sollte sich Eman noch länger so erfolgreich abnabeln vom grossen Übervater Stockfish, werden wir möglicherweise bald mit einer neuen Nummer Eins unsere Vereins- und Fernschach-Partien analysieren können… ♦
An der Spitze wird’s immer enger
Noch hauchdünn die Nummer Eins des Computerschachs, aber eng attackiert von LeelaChessZero und Eman: Die Freeware-Schach-Engine Stockfish
Das internationale Engine-Karrusell dreht sich aktuell etwas langsamer als auch schon. Was nicht verwundert: Die Programme – zumal jene auf der Alpha-Beta-Programmierschiene – machen einen irgendwie ausgereizten Eindruck, weil sie inzwischen auf einem extrem hohen Niveau Schach spielen, das fulminante Qualitätssprünge nicht mehr zulässt.
Beim Original-Stockfish werden die Intervalle, die deutliche Elo-Fortschritte zeigen, immer länger. Die SF-Derivate holen zwar auf, bleiben aber stets leicht hinter ihrem Ziehvater. Auch auf der KI-Schiene sind in letzter Zeit die euphorisch stimmenden Schübe der Neuronal Networks ausgeblieben.
Zwei Überraschungen: Fritz und Eman
Erfreulich ist immerhin, dass sich Chessbase-„Fritz“ (nach Jahren der Stagnation) in Form einer neuen NN-Engine namens Fat Fritz wieder eindrücklich zurückgemeldet hat in die Top-Five-Liga. Zwar ist Fat Fritz ein Lc0-Ableger, wie Eman ein Stockfish-Ableger ist, doch beide sind offenbar kräftig dabei sich schachlich zu emanzipieren. Die NN-Engine Fritz Fat liegt aktuell in der Version 1.1 vor und ist eine kostenlose Beigabe des jüngsten Chessbase-Gesamtpaketes Fritz 17.
Die nachstehende Rangliste wurde generiert von 31 alten und neuesten Engines nach 930 Partien, doppelrundig ausgespielt während Tagen auf einem AMD-Ryzen7 mit einer Bedenkzeit pro Engine von 2 Min + 2 Sec-Inkrement. Die NN-Programme liefen mit 1 Thread auf einer flotten RTX-2080-GPU, im Gegenzuge erhielten die Alpha-Beta’s alle verfügbaren 16 Threads.
20 Halbzüge in 2 Sekunden
Wen die scheinbar kurze Bedenkzeit von 2/2 irritiert: Mit modernen Prozessoren auf modernen Mainboards spielen moderne Programme inzwischen ein so unglaublich spektakuläres und gleichzeitig präzises Schach, dass man sich über die Qualität der Partien keinerlei Sorgen machen muss. Die selektivsten Programme rechnen teilweise in wenigen Sekunden fast 30 Halbzüge tief!
Ein Beweis dafür sind die untenstehenden TopShots, die alle aus diesem Blitz-Turnier stammen. Darunter finden sich Knacknüsse, die für Schachprogramme aus der zweiten Liga – dazu gehören z.B. einst so gefeierte Engines wie Rybka, Shredder, Fritz oder Critter – ein Buch mit sieben Siegeln sind… ♦
Three years ago in his chess report „The best engines in the world“ the author discussed a tournament with 31 of the most frequently used programs. Since then computer chess has experienced a completely new development in programming: the AI program Leela-Chess-Zero (Lc0) with its constantly improved neural networks. This completely different strand of chess programming compared to the traditional alpha-beta conception of the conventional engines is now at the top. So it was time to set up a second big tournament on the home Ryzen-7 and its 16 cores with again 31 of the currently most used chess engines: „The best engines in the world – two“.
Until now, when it came to the absolute top in computer chess, there was only one program: Stockfish. Grown over the years and supported by hundreds of eager testers and users this freeware engine developed into the lonely high-flyer of the scene against which not even the two commercial programs Komodo and Houdini had a chance. But then the AI project AlphaZero from DeepMind (by Google) invaded the chess world in December 2017, and no stone was left unturned.
Going to school with Lc0
Not only computer chess got into an uproar by AlphaZero and now by its worthy (and above all free) successor Lc0, but also the international grandmaster scene up to WM Magnus Carlsen looked spellbound at this research, whose products played chess in a completely different and at the same time hellishly strong way. And thus, by the way, successfully challenged a few opening theory and middlegame strategy beliefs.
Meanwhile even the highest level of the GM guild openly admits to go to school at Lc0. For example world champion Carlsen, about whom the August 2010 issue of the renowned magazine „New in Chess“ says: „Magnus‘ play is like that in the original ten AlphaZero games, with the initiative being a more important factor than the number of pawns“.
AI Chess as „Game Changer“
So does the „romantic era“ of victim chess from Paul Morphy to Michael Tal celebrate a comeback as a result of the initial ignition Lc0? Simply with the difference that Leela’s tactical, positional and strategic sacrifices are always correct?
In any case it is certain that the AI program or its autodidactically generated networks already have a noticeable influence on the world chess of the top 50 players. In their book „Game Changer – AlphaZero’s Groundbreaking Chess Strategies and the Promise of AI“ Grand Master Mathew Sadler and the mathematician Natasha Regan explain in detail which implications this new AI-chess has for the modern way of playing in international tournament chess.
A new star in the engine sky
And what do the „traditionalists“ counter this concentrated neuronal force? They keep improving Stockfish & Co., trying to eliminate its weaknesses without diminishing its strengths, which is a challenge in the Alpha-Beta world. At the moment Stockfish seems to stagnate. However, this was diagnosed in earlier developmental periods, only to find that the fish had once again gained 50 Comp-Elo and bit off the competitors in the pond one by one.
Recently, however, the sole rule of Stockfish has not only been questioned by LeelaChessZero, but unmistakably by a member of her own clan. The Stockfish-derivative Eman of the programmer Omar Khalid from the United Arab Emirates is currently making a big splash in the international engine circus.
Anyone who watches this program play will immediately notice that the engine has enormous speed. It goes so fast and deep that even the all-purpose computer Stockfish is breathless. On my computer there is currently no opponent, the tactical power of this upstart is brilliant. So let’s examine this eman from Arabia a little closer…
Excursus: EMAN by Khalid Omar
Who is Khalid Omar?
Khalid Omar, the programmer of the chess engine Eman, which emerged from the open source program Stockfish, was born in Kuwait in 1977 and graduated in 2000 as electrical engineer from Jordan University of Science & Technology. Since then he has been working in the United Arab Emirates as Chief Technology Officer of an international IT company. Khalid Omar is married and has four daughters.
„My dominant hobby is chess, and I am active on several online platforms such as lichess.org or chess.com,“ the 42-year-old IT expert told Glarean Magazin. Just to smile right away: „My online chess rating is somewhere around 1800 Elo, so I program chess much better than I play it…“
Not starting from scratch…
He started to generate his high-flyer engine Eman two and a half years ago, whereby he (like most of today’s chess programmers…) did not have to start from scratch, but took the open source engine Stockfish and started to tinker with it. However, Omar’s tinkering turned out to be much more successful than that of other Stockfish „cloners“: Since his 5.0 versions, Eman is among the top three besides Lc0 and Stockfish.
But his creator is convinced that Eman is not just an above-averagely successful infusion of SF, but should be considered and respected as a quasi independent engine product: „Today, Eman can no longer be compared to Stockfish,“ says Omar. „My many changes influenced almost every aspect of the original Stockfish from time management to thread synchronization. And that doesn’t just apply to the alpha-beta algorithm, but also to the evaluation part, which is the backbone of any good chess engine“.
„Eman is now a completely different program“
Asked what exactly are the many features that Eman has as added value compared to Stockfish, Omar confidently starts to enumerate them:
Full Analysis – Thanks to this feature Eman treats all moves up to a certain configurable depth as main variation moves. This allows the engine to perform a more comprehensive search in very large depths without wasting much time.
Experience – Eman remembers the moves it has made and also remembers the moves of the opponent. All this data is stored in an „experience file“ to be used later when the same position is encountered again. This experience data can optionally be used as a book, so that the machine can play without thinking from the experience data.
Coherence Evaluation – Put simply, with this „coherence evaluation“ Eman tries to distinguish between positions with the same score. Original sound Omar: „For instance, in Stockfish and other engines, the final score is the sum of all the individual evaluations such as Material, King Safety, Mobility, Passed Pawns, etc. With this logic, it is possible to have two equivalent scores with very different king safety values! Eman tries to compensate for this by looking at the evaluation parts individually and then calculating the Coherence value which indicates how healthy are the evaluation parts. The Coherence value is then added to the final evaluation seen by the Alpha-Beta algorithm“.
NUMA Awareness – Eman makes the best possible use of modern high-end NUMA CPUs by implementing Aware Systems, which are designed to give the engine even more search speed.
Search logic – Eman has implemented an improved search logic, making the program more aggressive and dynamic than Stockfish.
Mysterious quality from the Orient…
Programmer Omar could tell us even more about his Eman workshop, as he lets us know from the Glarean MagazinE. But like many other chess programmers, be they on the open source or commercial track, he does not want to reveal all his secrets. „Enemy is listening“ as it was called in former times…
Well, as long as this engine is available free of charge – by the way only to be picked up directly/personally from the author – the international user community will gratefully accept such gifts as Eman without spending a lot of time on any controversial issues concerning GPU licenses…
Soon the new number one?
One thing is for sure: In the last weeks and months, the versions of the highly interesting Stockfish spin-off Eman have been accumulating – always with a noticeable increase in playing strength. On the other hand, neither the Stockfish nor the Lc0 camp has made any progress lately that is worth talking about…
So you can be curious whether this freeware engine from Arabia will continue to develop as rapidly as it has done so far. If Eman should cut the cord of the great over-father Stockfish for a longer period of time, we might soon be able to analyze our club and correspondence chess games with a new number one… ♦
Engine Tournaments: It’s getting tighter at the top
The international engine carousel is currently spinning a bit slower than it already is. Which is not surprising: The programs – especially those on the alpha-beta programming rail – make a somewhat exhausted impression, because they play chess at an extremely high level that no longer allows for brilliant quality leaps.
With the original Stockfish, the intervals, which show clear Elo progress, become longer and longer. The SF derivatives are catching up, but always stay slightly behind their foster-father. On the AI track, too, the euphoric thrusts of the Neuronal Networks have recently failed to materialize.
Two surprises: Fritz and Eman
At least it is pleasing that Chessbase-„Fritz“ (after years of stagnation) has made an impressive return to the top five league in the form of a new NN engine called Fat Fritz. Although Fat Fritz is a Lc0 offshoot, like Eman is a Stockfish offshoot, both are obviously strongly in the process of emancipating themselves chess-wise. The NN-engine Fritz Fat is currently available in version 1.1 and is a free addition to the latest Chessbase-package Fritz 17.
Top performances despite short time for consideration
The ranking above was generated by 31 old and newest engines after 930 games, played double round during days on an AMD Ryzen7 with a time per engine of 2 min + 2 sec increment. The NN programs ran with 1 thread on a fast RTX-2080-GPU, in return the alpha-beta’s got all 16 available threads.
20 half moves in 2 seconds
Who is irritated by the apparently short time for consideration of 2/2: With modern processors on modern mainboards, modern programs now play such an incredibly spectacular and at the same time precise chess that you don’t have to worry about the quality of the games. The most selective programs sometimes calculate almost 30 half moves in a few seconds!
Proof of this are the 10 TopShots above, which all originate from this Blitz tournament. Among them there are cracking nuts which are a book with seven seals for chess programs from the second league – this includes e.g. once so celebrated engines like Rybka, Shredder, Fritz or Critter… ♦
Der Hauptzweck der modernen Schachprogrammierung für die Anwender ist die Analyse von (eigenen oder fremden) Partien. Demgegenüber sind Turnier-Statistiken oder KI-Forschung nur „Abfallprodukte“. Aber von Zeit zu Zeit ist es aufschlussreich, die aktuellen Engines nicht nur zum Analysieren einzusetzen, sondern sie auch mal unter- bzw. gegeneinander zu testen. Haben sich die vielgerühmten neuen NN-Engines mittlerweile vor der AB-Programmierung an die Spitze setzen können? Ein neues Engine-Turnier, ausgetragen auf einem heimischen AMD-Ryzen7-2700X zeigt eine nach wie vor unscharfe Momentaufnahme. Das Fazit gleich vorweggenommen: NN- und AB-Programme sind noch gleichauf.
Modernen Engines beim Spielen zuzusehen erinnert zuweilen an die eigenen Anfänger-Zeiten, als Taktik und Strategie noch ein (Schach-)Buch mit (mindestens) sieben Siegeln waren. Schnell, präzis, komplex, tödlich – die Programme knallen in Millisekunden so ausgefeilte Züge auf das virtuelle Brett, die noch vor 15 Jahren jedem Profi-Kommentator ein Heer von Doppelten Ausrufezeichen entlockt hätten. Wenn er sie denn überhaupt in ihrer ganzen Tiefe kapierte…
30 Halbzüge in einigen Sekunden
Denn man vergegenwärtige sich, dass bereits bei einer Bedenkzeit für die ganze Partie von nur vier Minuten diese Silikon-Monster auf flotten PC’s im Durchschnitt bis zu 30 Halbzüge weit (!) pro Zug vorausrechnen können. Und dies mit so raffinierten Algorithmen der Evaluierung und Bewertung, dass sie taktisch sogar bei diesem rasanten Spiel-Tempo kaum je Fehler machen. Zumindest keine, die ein Mensch ohne analytische Zuhilfenahme von eben diesen Programmen erkennen könnte…
Wen wundert’s also, dass heutzutage das häufigste Resultat zwischen Schach-Engines das Remis ist – ungeachtet irgendwelcher ausgeklügelter Opening-Books, welche diese mittlerweile extrem hohe Remis-Rate im Engine-Turnierbetrieb etwas senken sollen, aber nicht massgeblich können. (Vergl. hierzu auch eigene Turnier-Tests zum Thema Eröffnungsbücher).
Kopf-an-Kopf-Rennen
Die nachfolgende Rangliste wurde generiert von 17 der aktuell stärksten Programme in einem doppelrundigen Turnier. Und die Tabelle zeigt ein Bild, wie es momentan bei vielen Engine-Turnieren in der Computerschach-Szene anzutreffen ist: Die KI-Engine LeelaChess-Zero mit ihren Networks und die Alpha-Beta-Programme (hier vertreten durch SugarR & Brainfish) mit ihren ausgeklügelten Schachalgorithmen liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei zahllosen Unentschieden:
Das NN-Programm Lc0 25.0 mit dem Neuronalen Netz „t60-3010“ erwies sich in dieser Ausmarchung als unschlagbar: Es verlor keine einzige seiner 32 Partien und gewann immerhin deren 10 – eine beeindruckende Leistung, wenn man das extrem starke Gegnerfeld sieht. Mit 12 Siegen als das aggressivste Network erwies sich hier das „t40-1541“ mit Lc0 23.2. Überraschend weiters die noch vor dem einstigen Weltmeister Komodo rangierende neue Chessbase-NN-Engine Fat Fritz.
Insgesamt kann bei den Top-Ten dieses Rankings allerdings nicht von einem Sieger geredet werden, ein Punkt mehr oder weniger entschied über mehrere Ränge vor oder zurück, und zwischen dem erst- und dem zehntplatzierten Programm liegen gerade mal 4 Punkte. (Dass das Turnier keinerlei statistische Aussagekraft beansprucht, muss nicht extra betont werden. En masse „Partien auf Halde“ zu Statistik-Zwecken werden auf Engine-Portalen wie z.B. CCRL produziert.)
Wer die knapp 300 Partien analytisch untersucht im Hinblick auf NN-spezifisches Schachverhalten, der wird in verschiedener Hinsicht fündig. Insbesondere fallen diverse positionelle Aspekte der KI-Spielführung ins Auge; einige grundsätzliche Überlegungen zu LeelaChessZero finden sich hier: Künstliche Schach-Intelligenz – Als Autodidakt zur Weltspitze.
Bezüglich des hier fraglichen Engine-Turnieres sei exemplarisch ein spezifisch „strategisches Motiv“ herausgegriffen: Die Umgruppierung. Bereits Nimzowitsch hatte ja – in seinem bahnbrechenden Strategie-Buch „Mein System“ – das Figuren-Umgruppieren als zentralen Bestandteil seines neu eingeführten Schach-Begriff des Lavierens definiert, und mit LeelaChess scheint dieses Stratagem fröhliche Urständ zu feiern. Wohlgemerkt ohne menschliches Zutun…
Virtuose Handhabung des Springers
Der Springer und das PC-Mainboard: Symbiose in Gestalt von Leela Chess Zero
Die Engine Lc0 (bzw. ihre Neuronalen Netze) ist eine grandiose Meisterin im dynamischen Umdisponieren von unvorteilhaft platzierten Figuren hin zur aktiveren Positionierung. In weit höherem Masse als ihre Alpha-Beta-Kolleginnen trachtet Leela nach permanenter Optimierung ihrer Figurenstellungen. Besonders virtuos geht das NN-Programm mit seinen Springern um.
Nachfolgend vier Beispiele dafür, wie geschickt und effizient die Springer-Überführungen auf stärkere Felder vorgenommen werden – sogar noch dann, wenn die taktischen Komplikationen auf dem Brett eigentlich keineswegs eine traditionelle „Ruhesuche“ erlauben:
FEN-String: r2q1rk1/1b2bppp/4pn2/1p1p4/p1pP1B2/PnP1PN1P/1PBNQPP1/3RR1K1 w
FEN-String: r1b1q1k1/1p1p1ppp/1bpPn1n1/p3rB2/7P/PPN3P1/1BPQN3/R3KR2 w Q
FEN-String: 3qkb1r/1r3pp1/1nn1p2p/p2pP2P/1ppP4/1PP2NR1/P2BNPP1/1R1Q2K1 w k
FEN-String: 1b1r3k/ppnqn1p1/4br1p/3p1p2/3Pp3/BPN1PPPB/P1RNQ2P/5RK1 b
Ich unterstütze das ehrenamtliche Kultur-Projekt Glarean Magazin mit einer Spende:
English Translation (NN vs AB)
Clear superiority not in sight
by Walter Eigenmann
The main purpose of modern chess programming for the users is the analysis of (own or foreign) games. In contrast, tournament statistics or AI research are only „waste products“. But from time to time it is instructive not only to use the current engines for analysis, but also to test them among or against each other. Have the much-praised new NN engines meanwhile been able to take the lead before AB programming? A new engine tournament, held on a domestic AMD Ryzen7-2700X, still shows a blurred snapshot. The conclusion immediately anticipated: NN and AB programs are still equally strong.
Watching modern engines at play sometimes reminds one of one’s own beginner times, when tactics and strategy were still a (chess) book with (at least) seven seals. Fast, precise, complex, deadly – in milliseconds the programs slam such sophisticated moves onto the virtual board that 15 years ago any professional commentator would have been able to elicit an army of double exclamation marks. If he even understood them in all their depth…
30 half moves in a few seconds
Just think, if you consider that the whole game takes only four minutes, these silicon monsters can calculate up to 30 half moves per move on average on fast PCs. And this with such sophisticated algorithms of evaluation and scoring that they hardly ever make mistakes tactically, even at this rapid game tempo. At least none that a human being could recognize without the analytical help of these programs…
So it’s not surprising that nowadays the most common result between chess engines is a draw – regardless of any sophisticated opening books which are supposed to reduce the meanwhile extremely high draw rate in engine tournament mode a bit, but cannot do so significantly. (Cf. also own tournament tests on the subject of opening books).
Neck-and-neck race
The following ranking was generated by 17 of the currently strongest programs in a double round tournament. And the table shows a picture as it is currently to be found in many engine tournaments in the computer chess scene: The AI-Engine LeelaChess-Zero with its networks and the Alpha-Beta-Programs (here represented by SugarR & Brainfish) with their sophisticated chess algorithms are fighting a neck-and-neck race in countless draws:
The NN program Lc0 25.0 with the neural network „t60-3010“ proved to be unbeatable in this selection: It didn’t lose a single one of its 32 games and won 10 of them – an impressive performance considering the extremely strong opponent field. With 12 wins, the most aggressive network proved to be the „t40-1541“ with Lc0 23.2, and surprisingly, the new Chessbase-NN engine Fat Fritz, which is still ahead of the former World Champion Komodo.
All in all, however, there can be no talk of a winner in the top ten of this ranking, one point more or less decided several ranks forward or backward, and there are only 4 points between the first and tenth-placed program. (The fact that the tournament does not claim any statistical significance need not be emphasized. En masse „games on stockpile“ for statistical purposes are produced on engine portals such as CCRL)
Lavieren like Nimzowitsch
Whoever analytically examines the almost 300 games with regard to NN-specific chess behaviour will find something in various respects. Especially various positional aspects of AI chess play catch the eye.
Regarding the engine tournament in question here a specific „strategic motive“ is taken as an example: The regrouping. Nimzowitsch had already defined – in his groundbreaking strategy book „My System“ – the regrouping of pieces as a central component of his newly introduced chess concept of manoeuvring, and with LeelaChess this stratagem seems to celebrate its joyful beginnings. Mind you, without any human intervention…
Virtuoso handling of the knight
The engine Lc0 (or rather its neural networks) is a grandiose master in dynamically repositioning unfavorably placed figures towards more active positioning. To a far greater extent than her alpha-beta colleagues, Leela strives for permanent optimization of her figure positions. The NN program is particularly virtuoso with its knights.
Below are four examples of how skilfully and efficiently the knights are transferred to stronger squares – even when the tactical complications on the board do not allow for a traditional „Quiescence search„: —> (See the games above)
Seit vielen Monaten und je länger desto stärker beherrscht in der Computerschach-Szene ein Duell die Diskussion: Stockfish gegen Leela. Zwei Schachprogramme, deren Herkunft und Konzeption nicht unterschiedlicher sein könnten, und die sich heute ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern um den ersten Platz unter den modernen Engines. Dem Anwender kann das nur recht sein: Das Duell der Engine-Giganten sorgt für stetig bessere Schachmotoren…
Konträre Programmieransätze
Innovativer Kopf und massgeblich beteiligt sowohl bei Stockfish als auch bei Leela Chess: Der kanadische Computer-Wissenschaftler und Spiele-Programmierer Gary Linscott
Auf der einen Seite haben wir also mit dem Open-Source-Programm Stockfish den zurzeit in allen Computerschach-Rankings zuvorderst rangierten Vertreter der sog. Alpha-Beta-Richtung. Die Engine, ursprünglich als Glaurung von Tord Romstod im Jahre 2008 entwickelt, zählt als Freeware mittlerweile auf eine weltweite Entwicklergemeinde, deren wöchentlicher Input – koordiniert von den Programmierern M. Costalba, J. Kiiski und G. Linscott – aus diesem ehemals mittelmässigen UCI-Programm nach und nach ein extrem schnelles und extrem tief rechnendes CPU-Monster geschaffen hat, welches z.B. den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen – wahrscheinlich das grösste Genie der Schachgeschichte – in einem Match über mehrere Turnierpartien mit grosser Wahrscheinlichkeit in Grund und Boden spielen würde.
Goethe sprach vom Schach noch als von einem „Prüfstein des Gehirns“ – die jüngste Entwicklung der Künstlichen Intelligenz holt das Gehirn in den Computer…
Auf der anderen Seite sorgte in der Szene innerhalb der letzten zwanzig Monate ein ganz anderer Entwicklungsstrang der Programmierung für Furore: Das (ebenfalls frei downloadbare) KI-Schach-Leela-Projekt „Lc0“ mit seiner ausschliesslich Netzwerk-basierten Spielweise ohne jedes „menschliche Knowhow“. (Näheres zu diesem bahnbrechend neuen Ansatz findet sich u.a. hier: Künstliche Schach-Intelligenz Leela Chess Zero – Als Autodidakt zur Weltspitze).
Auch Leela’s atemberaubende Progression wäre nicht möglich gewesen ohne den Einsatz der internationalen Community, die nonstop „selfplayed games“ beisteuert(e) und so das „Wissen“ des KI-Programmes in Form von ständig neuen „Networks“ sukzessive vermehrt. (Mittlerweile dürfte die Grenze von 1,5 Milliarden Traningspartien überschritten sein…)
Turnier mit diversen Derivaten und Netzen
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Wer diese beiden unterschiedlichen Konzepte, ihre deutlich voneinander abweichenden Spielweisen konkret studieren will, kann das anhand spezifisch ausgewählter Aufgaben-Stellungen tun – z.B. mit der ERET-Testsammlung. Oder aber er lässt sie in eigens konzipierten Turnieren gegeneinander antreten – mit unterschiedlichen Bedenkzeiten und unterschiedlichen Konfigurationen hinsichtlich CPU und Datenbanken.
Solch ein grösseres Turnier mit über tausend Partien und 33 teilnehmenden Engines habe ich kürzlich auf meinem AMD-Ryzen7-Rechner ausspielen lassen. Um möglichst ein breites Feld von Stockfish- und Leela-Zweigen vergleichen zu können, wurden neben den Default-Programmen auch diverse Derivate bzw. Network-Entwicklungen der Leela-Chess-Community integriert.
Läutet das KI-Schachprogramm Leela Chess Zero bald definitiv das Ende der Herrschaft von Stockfish ein?
Das Resultat dieser Matches – welche selbstverständlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder statistische Relevanz erheben wollen – zeigt jenes Bild, das aufgrund zahlreicher anderer Computerschach-Turniere zu erwarten war: Auch im Spätsommer 2019 kann noch immer nicht eindeutig ausgemacht werden, wer nun genau aufs Siegespodest gehievt werden kann. Stockfish und Leela sind, was ihre Turnier-Performance anbelangt, momentan gleich stark, wiewohl ihr Schachstil sehr unterschiedlich daherkommt.
Was hingegen als ziemlich sicher gelten darf, ist der Befund, dass die beiden engsten Verfolger, nämlich die zwei kommerziell vermarkteten Programme Komodo und Houdini mittlerweile distanziert sind. Bis vor ca. einem halben spielten diese beiden Engines noch auf Augenhöhe mit dem Sieger-Duo.
Exkurs: Der „menschlich“ spielende Computer
Der AI-Engine Leela wird ein quasi „menschliches Schachverständnis“ nachgesagt; ihr Schach erinnere an „planvolles“ und „kreatives“ Spiel, wie man es bei Grossmeistern kennt und liebt. (Allerdings müssten die Begriffe „Plan“ und „Strategie“ heutzutage überholt bzw. neu definiert werden; das enorm tiefe, weil ausgeklügelt selektive Berechnen auch der aktuellen konservativen Alpha-Beta-Programme zeigt ein taktisch fast fehlerloses, aber durch keinerlei schöpferisches Planen charakterisiertes Schachspielen; ihre Zugfolgen basieren rein auf raffinierten Bewertungsalgorithmen und selektiven Cut-Techniken. Was früher der Mensch „Strategie“ nannte, entpuppt sich mit Computern oft als blosse „Taktik“…)
Woher kommt also der „humanoide“ Nimbus der neuen KI-Programme wie Alpha-Zero, Leela-Zero oder Allie u.a? Gilt womöglich das Paradoxon, dass Lc0 darum so „menschlich“ spielt, weil der Mensch bei seiner Entwicklung jar gar nicht involviert war?! (Am Anfang der Schach-AI-Forschung standen nur die nackten Spielregeln, ansonsten keinerlei implentiertes Schachwissen.)
Das folgende Partien-Beispiel – generiert auf meinem AMD-Ryzen7-Rechner in einem Match Leela vs Komodo (mit PermantBrain on) – mag veranschaulichen, dass das Etikett „Menschliches Spiel“ bei modernen AI-Schachprogrammen so völlig nicht aus der Luft gegriffen ist.
Nach den Zügen…
Die Position ist im leichten materiellen Ungleichgewicht, aber zugleich so festgefahren, dass keine Partei vorwärtskommt. Friedliche Gemüter würden hier durchaus nicht zu Unrecht an ein Remis denken.
Doch weiss hat einen langfristigen Plan in petto: Der König wird nach a2 überführt. Dort blockiert er einerseits den schwarzen Freibauern und löst gleichzeitig die Wache des Turmes ab, der dadurch für Angriffszwecke mobil wird. Hinzu kommt, dass Springer in solch fixierten Bauernstellungen den Läufern und sogar Türmen überlegen sein können – trotz Minus-Bauerneinheit ist also die Partiestellung für weiss „strategisch“ gewonnen.
Es folgte eine Lehrbuch-mässige Verwertung durch das AI-Programm Leela:
34. Kg3 Kd8 35. Kf2 Ke7 36. Ke2 Rd8 37. Kd3 Ra5 38. Kc2 Bd7 39. Ne4 Ra6 40. Kb1 Kf8 41. Ka2 und Schwarz ist chancenlos gegen den Turm-unterstützten Bauernhebel c4-c5 (oder wie in der Partie gegen z.B. Läufertausch inkl. g-Linie-Öffnen mit Attacke gegen den Rückständigen g7) 1-0 (Hier lässt sich die Original-Partie downloaden / CBH-Format -ZIP-Datei)
Die Frage ist nun, ob diese Königswanderung auf dem Leela-Mist alleine gewachsen ist, oder ob der gleiche „Plan“ auch bei konventionellen Engines im Output des „Denkprozesses“ auftaucht. Hierzu habe ich mal einige der besten Programme exakt 5 Sekunden lang auf die Stellung angesetzt (mit je 16 Threads) und ihre Hauptvarianten verglichen (unter „Fritz-16“ auf einem AMD-Ryzen-7):
Wie ersichtlich haben die Engines zwar die ersten paar Stationen der Königswanderung durchaus auf ihrem Radar, weil ihre Programmierer ihnen eingebleut haben, dass der König im Endspiel vom Rande ins Zentrum geführt werden sollte. Aber die zwei finalen Ziel-Züge des Königs (Kb1 und Ka2) tauchen bei keinem dieser starken Alpha-Beta-Programme im Output auf.
Kommt hinzu, dass (deswegen) ihre Stellungsbewertung nicht über ein „weiss steht besser“ hinauskommt, ja sogar Remis-Einschätzungen werden ausgegeben. (Hier findet sich eine Analyse der Partie-Fortsetzung nach 34.Se4).
Ganz anders Leela Chess Zero, der Urheber der Stellung. Ich habe einige aktuelle Lc0-Networks darauf angesetzt – den schönsten, quasi „lupenreinen“ Output habe ich beim NW „T40B.2-106“ gefunden:
Der wesentliche Unterschied zu den konventionellen Progammen ist, dass Leela diese Line nicht eigentlich berechnen muss (wie die geringe Ply-Tiefe von 8/20 und die minimale Knotenzahl zeigen), sondern diesen „Plan“ nach nur 5 Sekunden „weiss“ und sofort eine Gewinn-Bewertung auswirft. (Es ist umgekehrt nicht auszuschliessen, dass nach langem Rechnen auch andere herkömmliche Engines genug Tiefe erreichen und einen vergleichbaren Output liefern).
Auch wenn gerade bei Leela Chess Zero die Interface-Angaben bezüglich Rechentiefe und Stellungsbewertung stets mit Vorsicht zu geniessen sind: Ein solcher Mainline-Output in dieser Stellung ist beeindruckend. Ich persönlich kann nachvollziehen, wenn derartigem Schach von Menschen das Etikett „menschlich“ verpasst wird – also eben nicht „taktisch“, sondern „strategisch“…
Leela der Königsbezwinger
Um ganz vorne mitmischen zu können, muss allerdings Leela nicht nur „positionell“, sondern auch angriffstechnisch auf der Höhe sein, damit nicht nur halbe Remis-Punkte, sondern ganze Punkte eingefahren werden können. Und in der Tat: Leela Chess Zero ist – mit seinen jüngeren Networks – einer der stärksten Königsangreifer im aktuellen Engine-Zirkus. Aus dem Nichts ist dieses Programm imstande, tödliche Attacken zu reiten – wie weiland der „Magier aus Riga“, Ex-Weltmeister Michael Tal (wenn auch nicht so spekulativ wie dieser…).
Ein paar Partien-Zitate illustrieren Leelas Durchschlagskraft im Angriff:
FEN-String: r2q1rk1/5p2/p1np1npp/bpp1p3/4P1PB/2PP1NNP/bPB1QP2/2KR3R w – – 0 18
FEN-String: r2q1rk1/1b1nbppp/pn1p4/1ppPp3/4P3/2P1BN1P/PPBN1PP1/R2Q1RK1 w – – 0 13
FEN-String: r1b2r2/pp1qnpkp/2np2p1/2p1p1P1/2P5/2NP1N2/PP2PPBP/R1Q2RK1 b – – 0 14
FEN-String: 1rb1r1k1/1pqn1pb1/p2p1npp/2pP4/P3P2B/2N5/1P1NBPPP/1R1Q1RK1 w – – 0 16
Alpha-Beta- und NN-Schach gleich stark
Die nachstehende Turnier-Rangliste ist das Ergebnis der folgenden Hardware-/Software-Turnierspezifikationen:
– Partie-Dubletten: keine – Zeitüberschreitungen: fünf (Raubfish)
(Raubfish spielte mit einem experimentellen Setting:
„Analysis ICC“ & „Deep Analysis ICC“ ON)
Schachprogramme: Das Duell der Engine-Giganten – Stockfish oder Leela? (Computer-Turnier August 2019)
Abschliessend hier aus diesem Turnier noch ein halbes Dutzend schachlicher Top Shots, die nicht nur besonders ästhetisch sind, sondern auch demonstrieren, zu welchen Glanzzügen moderne Schachprogramme in der Lage sind, auch wenn sie – wenngleich auf flotter Hardware – nur einige Sekunden pro Zug verfügbar haben. Mit durchschnittlichen Rechentiefen von 25-30 Halbzügen spielen heutzutage die Engines auch in Blitzpartien auf einem Niveau, das früher von ihren Vorgängern erst nach stundenlangen Partien (und auch nur annähernd…) erreicht wurde.
Der knappe Turniersieger Brainfish spielte übrigens quasi ausser Konkurrenz mit (war aber als eine Art Referenz gedacht): Im Gegensatz zu allen anderen, die ausser der Vorgabe von 5 Eröffnungszügen keinerlei eigene Opening Books benutzen durften, erhielt Brainfish gleich zwei Default-Bücher, nämlich sein integrales „Cerebellum“ sowie ein spezifisches NN-Book namens „Cerebellum Leela Net„. Dieses Duo erwies sich dann als unwiderstehlich…
Seit längerer Zeit wird die Computerschach-Welt von einem Thema in Atem gehalten: Das KI-Projekt Leela Chess Zero (LC0). Hier findet sich ein guter Überblick auf den aktuellsten Stand der KI-Dinge: Chess Programming Wiki. Der „neuronal“ orientierten Schachprogrammierung liegt die sogenannte Monte-Carlo-Technik zugrunde, deren schachspezifische Anwendung hier ganz gut erklärt wird: Monte Carlo statt Alpha-Beta.
In wenigen Monaten von 0 auf 98
Die unglaublichen Fortschritte der Netzwerk-gestützten Engine „Leela-Chess-Zero“ (LC0) lassen erahnen, dass es mit der Dominanz des bisherigen Alpha-Beta-Ansatzes in der Schachprogrammierung – momentan am erfolgreichsten manifestiert im weltweit führenden Programm Stockfish – schon bald vorbei sein könnte. Denn innert wenigen Monaten hat sich dieses Open-Source-Projekt, zu Beginn nur gerade mal mit den Schachregeln vertraut gemacht, mithilfe seiner Algorithmen bzw. selbsterlernter Networks (sprich aufgrund von Millionen Partien gegen sich selbst) vom lächerlichen Anfänger zum Super-Grossmeister entwickelt, der nicht nur die gesamte Schach-Weltelite bei den Menschen, sondern auch alle seine digitalen „Artgenossen“ schlagen kann. Als reiner Autodidakt ohne alle Wissens-Implentierung durch den Menschen zur absoluten Weltspitze: Das ist einzigartig in der ca. 30-jährigen Geschichte der Schachprogrammierung.
Menschliches Computerschach
Sind wegen Leela Chess die Tage des berühmtesten Fisches der Schachgeschichte bald gezählt?
Für Schachspieler liegt der besondere Reiz von Leela’s Spiel-Stil in der beinahe „menschlich“ zu nennenden Partie-Anlage dieser KI-Software. Wo die herkömmlichen Taktik-Programme wie Stockfish, Houdini oder Kommodo (um nur die drei aktuell stärksten Alpha-Beta-Engines zu nennen) möglichst breit und möglichst tief rechnen (raffinierte Cut-und Bewertungs-Techniken inklusive), spielt ein Neuronal-Netz-Programm wie Leela „auf Position“: Aktivität, Mobilität, Aggressivität und damit verbunden eben Originalität sind die Stichworte, die einem bei der Analyse von NN-Partien spontan einfallen.
Die konservativen Materialwerte (aufgrund der Bauer-Grundeinheit), wie sie bei AB-Engines bedeutungsvoll sind für die Stellungseinschätzung und Zuggenierung, scheinen beim NN-Schach eine nur geringe Rolle zu spielen, denn hier zählt vielmehr das „Potential“ der Bauern- und Figurenkonstellationen. Dementsprechend findet man in Leela-Partien kaum je „totes Material“; hier ist alles „im Fluss“, permanent sind Umgruppierungen im Gange, Randspringer und- bauern sind an der Tagesordnung, das Zentrum hat seine „zentrale“ Bedeutung eingebüsst, Doppelbauern kommen zuhauf vor, das Qualitäts- als positionelles Opfer ist häufig, und oberste Priorität hat jeweils mit maximalem Druck das eigentliche Spiel-Ziel des Schachs: Der Königsangriff.
Leela = Michael Tal des Computerschachs?
Natürlich ist solch ein Schach hochattraktiv im Vergleich zum traditionellen Computerschach, dessen staubtrockenes bzw. Remis-trächtiges Sicherheitsspiel – wenngleich auf extrem hohem technischem Niveau – allenfalls noch für perfektionistische Fernschach-Freunde theoretisch-analytische Hilfestellung bietet, ansonsten wegen seiner überirdischen Genauigkeit das „breite Schachvolk“ längst nicht mehr erreicht.
Ist Leela Chess eine digitale Reinkarnation des berühmten Schachmagiers Michael Tal?
Ist also Leela die Reinkarnation der „Kreativität“ im Computerschach? Eine Art Michael Tal unter den Schachengines? Der legendäre lettisch-russische Schachweltmeister (1936-1992) spielte bekanntlich das bislang wohl spekulativste wie spektakulärste Menschen-Schach der Geschichte, seine Materialopfer „aus dem Nichts heraus“ waren berüchtigt, und je wissenschaftlicher und analytischer ein Tal-Gegner spielte, umso sicherer wurde er eine Beute des „Magiers aus Riga“.
Romantikern unter den Schachspielern sei diese interessante Parallele also durchaus gestattet – aber ein gravierender Unterschied besteht: Leela’s Opfer sind immer korrekt. Ein Computer hypnotisiert nicht, er rechnet…
Das Angriffsspiel „aus dem Nichts heraus“ ist aber definitiv ein Markenzeichen auch des NN-Programmes. Die folgende Stellung wurde generiert in einer TCEC-Partie gegen Houdini, der aktuellen Nummer Zwei der konservativen Engine-Ranglisten hinter der Schach-Freeware Stockfish. Setzt man diese Position den herkömmlichen Programmen zur Bewertung vor, stufen sie die schwarze Stellung als völlig ausgeglichen ein, schwächere Engines sehen gar Schwarz im Vorteil:
FEN r1r5/1b1n3k/1n1q1ppp/3Pp3/ppP1P2P/5QR1/1BBN1PP1/2R3K1 w
Strategische Weitsicht im Königsangriff dank Neuronalem Netzwerk: Das KI-Schachprogramm Leela Chess Zero (LC0)
Ganz anders sieht das Leela, dessen Algorithmen & Statistikauswertung nicht das taktische, sondern das positionell-strategische Potential der weissen Stellung sieht und eine für weiss positive Bewertung auswirft:
Leela Chess Zero 21.1 (41800): 27.h5 g5 28.Df5+ Kh8 29.f4 a3 30.La1 De7 31.Ld1 exf4 32.Tb3 weiss steht deutlich besser: +/- (1.41) Tiefe: 15/45 00:00:31 375kN
Der Partieverlauf gab Leela’s NN-Analyse recht, Houdini’s furchterregende Freibauernwalze auf dem Damenflügel verblasst angesichts der weissen Schläge gegen den schwarzen König:
Aktuell dürfte Leela der bei weitem erfolgreichste Königsangreifer des ganzen modernen Engine-Zirkus‘ sein. Kein Wunder: Seine entspr. Angriffstechniken sind statistisch millionenfach abgesichert…
Wer der Freeware-NN-Engine Leela – das kommerzielle Programm Komodo mit seiner „Monte-Carlo-Tree-Search“ (MCTS) verfolgt den ähnlichen Ansatz, und beide fahren sie im Kielwasser des KI-Google-Projektes Alpha-Zero – bei der Arbeit zusehen will, hat entweder die Möglichkeit, sich die neuesten Partien der inoffiziellen Computerschach-Weltmeisterschaft Top Chess Engine Championship (TCEC) runterzuladen, oder aber er organisiert sich seine Engine-Turniere gleich selber auf dem heimischen Desktop oder Notebook.
Letzteres setzt allerdings – diese Warnung ist zwingend – eine überdurchschnittliche Hardware voraus; insbesondere die Grafik-Karte sollte mindestens von der Qualität einer RTX 2060 sein, andernfalls ist die Verwendung von Leela reine Zeitverschwendung. Denn die Hauptberechnungen absolviert die NN-Engine nicht auf der Platinen-CPU, sondern auf der Grafik-GPU.
Die folgenden Stellungen bzw. „Lösungszüge“ generierte Leela gegen unterschiedliche Engine-Gegner auf meinem heimischen AMD-Ryzen-7 2700x mit einer GeForce-RTX-2080-Karte bei Blitz-Bedenkzeiten von 5-20 Minuten/Engine (mit „Permanent-Brain-On“ und einem 5-Züge-Eröffnungsbuch).
Diese sieben Lösungszüge haben eines gemeinsam: Sie werden von Leela allesamt je im 1-Sekunden-Bereich gefunden. Eine Leistung, die meinen Recherchen zufolge von keinem anderen (AB-)Programm erreicht wird.
Noch ist die Entwicklung in vollem Gange. Auf die weitere Progression des neuronalen Schach-Projektes Leela Chess Zero blickt die gesamte Schachwelt. ♦
FEN rbbq1r2/1p3pk1/1P1p2pp/p2Pp3/P3Rn2/2P2NNP/5PP1/1R1Q1BK1 w
weiss am Zuge
FEN 5r2/2r1q2k/1p1pb1p1/b2B4/P1P1pP1p/4Q1RP/4N1P1/5R1K w
weiss am Zuge
FEN 3r1rk1/1p1nq1bp/p2ppnp1/2p5/2P5/2N1P2P/PP2BPP1/1RBQ1RK1 w
weiss am Zuge
FEN 6r1/4nr1k/p2R4/P7/1PP1N3/4b1p1/1B4PN/7K b
Schwarz am Zuge
FEN 1rr1b1k1/2q2pp1/2nppb1p/p7/Pp2PP1P/1N3BP1/RPPRQ3/3N3K b
Schwarz am Zuge
FEN 3rrbk1/1pq2pp1/p1b5/2np2Pp/P2B1P1P/1PN4B/2P2Q2/R2R2K1 b
Schwarz am Zuge
FEN 3rr1k1/1pqn1pp1/2pbpn1p/p2p4/P4P1N/1P1PP1P1/1BPNQ2P/R4R1K w
Schmackhaftes Endspiel-Potpourri aus der Weltmeister-Küche
von Ralf Binnewirtz
Das Endspiel als letzte Phase der Partie mag Anfängern als weniger wichtig oder gar langweilig erscheinen im Vergleich zu Eröffnung und Mittelspiel. In Wirklichkeit sind beide Attribute unzutreffend. Denn ungezählte Partien wurden erst im Endspiel aufgrund profunder Kenntnisse dieses Partiestadiums entschieden. Die grossen Meister der Vergangenheit und Gegenwart waren bzw. sind fast ausnahmslos herausragende Könner im Endspiel. Ihrem Können auf diesem Gebiet spürt der deutsche GM Karsten Müller in seinem neuen DVD-Kurs „Endspiele der Weltmeister“ nach.
Ein Schwächeln im Endspiel hat zuweilen den Werdegang von Schachgrössen schicksalhaft beeinflusst: So hat David Bronstein 3 seiner 5 Verluste im WM-Kampf gegen Botwinnik 1951 einer schwachen Endspielführung zu verdanken. Er hat diese „Niederlage“ (d.h. kein Titel für den Herausforderer bei Gleichstand am Matchende) für den Rest seines Lebens nicht mehr verwunden. Ein eindringlicher Apell, das Studium des Endspiels nicht zu vernachlässigen!
Anerkannter Endspiel-Experte: Karsten Müller
Karsten Müller – Endspiele der Weltmeister – Rezension Glarean Magazin
Grossmeister Karsten Müller aus Hamburg, ein weltweit anerkannter Endspiel-Experte und promovierter Mathematiker, ist bereits vielfach und erfolgreich als Schachautor hervorgetreten: Im konventionellen Printbereich, in Online-Kolumnen (wie im US-amerikanischen ChessCafe und bei ChessBase) sowie auf Trainings-DVDs, erwähnt sei hier seine komplette Endspielschule, die auf 14 DVDs einzeln oder im Gesamt-Bundle bei ChessBase erschienen ist.
Mit seiner neuesten DVD widmet sich Müller den Endspielkünsten der sechs letzten Weltmeister ‒ ohne Berücksichtigung der FIDE-Weltmeister 1993-2005. Auch so ist die DVD reichhaltig bestückt mit Videosequenzen (Gesamtspielzeit 9 Std. 37 Min) und Partiedatenbanken. In bewährter Manier ist ein interaktives Training mit Video-Feedback integriert, das dem passiven Zuhörer eine aktive Mitarbeit nahelegt.
Die besagten sechs Weltmeister werden auf der DVD in chronologischer Abfolge in separaten Kapiteln präsentiert, die Oberfläche ist übersichtlich gestaltet und intuitiv bedienbar, und zu jedem Video ist die zugehörige (kommentierte) Partie (oder das Partiefragment) aus einer Datenbank zum nochmaligen Nachspielen aufrufbar.
Videoclips zu Endspielen von sechs Weltmeistern
Zur Einstimmung ist den Weltmeister-Kapiteln ein Einführungsvideo vorangestellt, in dem Karsten Müller einen kurzen Überblick gibt zu dem, was den Nutzer auf der DVD erwartet.
Bobby Fischer
Schach-Genie und Endspiel-Virtuose mit Turm&Läufer gegen Turm&Springer: Robert James „Bobby“ Fischer (1943-2008)
Die Videos zu Fischers Endspielen sind unterteilt in 4 (Unter-)Kapitel: 1) Theoretische Endspiele (5 Videoclips), 2) Turmendspiele (9 Clips), 3) Das Fischer-Endspiel (6 Clips), 4) Berühmte Partien, Rätsel, Mysterien (5 Clips). Bobby Fischer gilt als universeller Spieler, dessen Stil von Pragmatismus, einem unablässigen Drang zur Initiative und einem unbedingten Siegeswillen geprägt war, Charakteristika, die sich natürlich auch in seinen Endspielen wiederfanden. Er besass eine Vorliebe für das Läuferpaar, und die Konstellation Turm + Läufer gegen Turm + Springer gehörte zu seinen Spezialitäten. Zahlreiche Endspiele mit dieser Materialverteilung, von Karsten Müller als „Fischer-Endspiele“ hervorgehoben, hat er mit der Läuferseite zum Sieg geführt. Insbesondere in den Kandidatenkämpfen mit Mark Taimanow (Vancouver 1971) und auch Tigran Petrosjan (Buenos Aires 1971) hat er seine Gegner damit an den Rand der Verzweiflung gebracht. Diesen Endspielen ist auf der DVD ein besonderes Kapitel (Nr. 3) gewidmet. Bei den berühmten/mysteriösen Partien (Kap. 4) dürften die erste Matchpartie gegen Boris Spasski (Reykjavik 1972) mit Fischers riskantem Bauernraub auf h2 und die 13. Matchpartie auf besonderes Interesse stossen; letztere mit einem faszinierenden Endspiel (Türme + ungleichfarbige Läufer), in dem Spasski schliesslich unter dem zunehmenden Druck kollabierte.
Aufgeräumte DVD-Oberfläche im bekannten Chessbase-Standard-Look: Brett mit Partie-Notation und Video-Fenster
Anatoli Karpow
Mit 12 Videoclips und 2 interaktiven Tests.
Nicht nur wegen seiner grandiosen Endspielbehandlung hat Anatoli Karpow schon zu Lebzeiten Legendenstatus erreicht. Über zwei Jahrzehnte gehörte er zur absoluten Weltspitze, seine WM-Kämpfe gegen Viktor Kortschnoi und Garri Kasparow sind Teil des kollektiven Schachgedächtnisses geworden, seine zahllosen Turniersiege haben Rekordmarken gesetzt. Seine Endspieltechnik war phantastisch, häufig gelang es ihm, mikroskopische Stellungsvorteile zum Sieg zu verdichten. Er verstand es wie kaum ein Zweiter, seine Figuren auf die wirkungsvollsten Felder zu setzen, gleichzeitig die Figuren des Gegners maximal einzuschränken und so das Spiel völlig zu dominieren. Sein Gespür für Harmonie und Koordination der Figuren war unübertrefflich. Exemplarisch genannt sei das phantastische Springer-Läufer-Endspiel gegen Kasparow (WM-Match Moskau 1984, 9. Partie) mit einer scheinbar einfachen Stellung, die aber ungeahnte Tiefen aufweist und mit der sich etliche Grossmeister analytisch befasst haben ‒ sogar Karsten Müller musste eine erste Beurteilung revidieren. Kasparow verliert die Partie, weil er versteckte Ressourcen zum Remis nicht nutzen kann, während Karpow mit teilweise genialen Manövern aufwartet.
Garri Kasparow
Legende schon zu Lebzeiten und faszinierender Endspiel-Könner: Ex-Schach-Weltmeister Garri Kasparow (Geb. 1963)
Mit 12 Videoclips und 1 interaktiven Test.
Garri Kasparow ist fraglos zu den stärksten Schachspielern aller Zeiten zu zählen, auch wenn die Expertenmeinungen über den absoluten Spitzenplatz subjektiv divergieren mögen. Er ist wohl den meisten in Erinnerung für seinen aggressiv-dynamischen Stil in Eröffnung und Mittelspiel und seine akribische Vorbereitung auf Wettkämpfe ‒ seine 5 WM-Matches mit Karpow sind legendär und füllen immer wieder stattliche Bände. [Aktuell ist eine neue Chronik dieser Wettkämpfe von Jan Timman angekündigt.] Zudem gilt er als der erste, der den Computer professionell für die Vorbereitung zu nutzen wusste. Auch im Bereich der Endspiele hat er faszinierende Leistungen gezeigt, von denen natürlich nur die Spitze des Eisbergs für die DVD aufbereitet werden konnte. Als Beispiele will ich die beiden klassischen Turmendspiele nennen, die er gegen Kortschnoi (Barcelona 1989 und London 1983) gewann, sowie seine Doppelturmendspiele, die er gegen Topalow (Las Palmas 1996 und Linares 1999) nach dramatischem Verlauf für sich entscheiden konnte.
Wladimir Kramnik
Unterteilt in 4 (Unter-)Kapitel: 1) Kramniks Technik (2 Videoclips), 2) Endspiele mit Turm und Springer gegen Turm und Läufer (2 Clips), 3) Strategische Initiative (7 Clips), 4) Kramnik vs. Kasparow (2 Clips); dazu 2 interaktive Tests. Wladimir Kramnik startete seine steile und spektakuläre Schachkarriere als solider Positionsspieler, einerseits geprägt vom Stil Karpows, andererseits von Kasparows Methoden der theoretischen Vorbereitung. Auch Kramnik ist bekannt dafür, mit grosser Zähigkeit aus kleinsten Vorteilen einen Gewinn herauszukitzeln, sein Spielstil ist vornehmlich auf strategische Initiative gerichtet. Für seine Fähigkeiten im Endspiel ist er berühmt. Bereits im Kindesalter hat er sich für Endspiele begeistert, daher konnte er in Botwinniks Schachschule früh seine diesbezüglichen Fähigkeiten demonstrieren. Die DVD kann lediglich anhand einer kleinen Auswahl zeigen, wie später zahllose Grossmeister der höchsten Kategorie seinem Endspielkönnen Tribut zahlen mussten.
Kramniks Name wird für immer mit der schachhistorischen Leistung verknüpft sein, einen Kasparow entthront zu haben, ohne seinem grossen Gegner einen einzigen Sieg zu gestatten! Zwei Endspiel-Leckerbissen aus der WM London 2000 werden von Karsten Müller vorgestellt.
Viswanathan Anand
Der „Tiger von Madras“ als genialer Endspiel-Künstler: Ex-WM Viswanathan Anand (Geb. 1969)
Mit 8 Videoclips und 1 interaktiven Test.
Der Inder Viswanathan Anand konnte in seiner frühen schachlichen Entwicklung zwar nicht auf die sowjetrussische Schachschule zurückgreifen, dafür auf ein aussergewöhnliches Naturtalent, das ihm eine phänomenale Intuition bescherte. Von Kramnik wird ihm ausserdem eine singuläre Eigenschaft unter sämtlichen Schachspielern bescheinigt: die magisch anmutende Fähigkeit, ein Gegenspiel unmittelbar, praktisch aus dem Nichts zu kreieren. (Carsten Hensel: Wladimir Kramnik, Göttingen 2018, S. 244f.) Die Endspieltechnik gehörte anfangs nicht zu seinen ausgesprochenen Stärken, aber dieses Defizit hat er durch kontinuierliche Verbesserung ausgeräumt, so dass sein Stil, der als dynamisch-universell einzustufen ist, keine ersichtlichen Schwächen aufweist. Im Mittelspiel überrascht der „Tiger von Madras“ häufig mit genialen taktischen Geistesblitzen, und auch der Zeitpunkt für eine günstige Abwicklung ins Endspiel pflegt ihm nicht zu entgehen. Im Endspiel zeigt er eine gewisse Vorliebe für den Springer, den er virtuos zu handhaben versteht. Weitere Beispiele auf der DVD belegen, dass ihm auch mit Läufern und Schwerfiguren beeindruckende Endspielleistungen gelungen sind.
Magnus Carlsen
Vom Wunderkind zum aktuell weltbesten Schachspieler mit Endspiel-Klasse: Weltmeister Magnus Carlsen (Geb. 1990)
Mit 10 Videoclips und 2 interaktiven Tests.
Anders als bei seinem Vorgänger Vishy Anand räumt Magnus Carlsen der computergestützten eröffnungstheoretischen Vorbereitung keinen Vorrang ein. Ihm genügt es, eine spielbare Stellung zu erhalten, die er im Mittel- und Endspiel dank seines überlegenen intuitiven Schachverständnisses erfolgreich behandeln kann. Vorzugsweise inszeniert er ein lang anhaltendes positionelles Druckspiel, um gegnerische Fehler zu provozieren, zugleich ist er (wie Karpow) in der Lage, seine Figuren höchst harmonisch zu koordinieren. Ein starker Kampfgeist, Zähigkeit und körperliche Fitness tragen dazu bei, langwierige Endspiele scheinbar ermüdungsfrei am Brett durchzustehen ‒ die sich irgendwann einstellenden Fehler des Gegners weiss er dann gnadenlos zu bestrafen. Im Endspiel (2)T + L vs. (2)T + L bei gleichfarbigen Läufern treten Carlsens Stärken besonders hervor, Karsten Müller hat für diesen Typ die Bezeichnung „Carlsen-Endspiele“ vorgeschlagen und kommentiert auf der DVD einige musterhafte Beispiele. Dass zwei vorentscheidende Siege Carlsens in seinem ersten WM-Kampf gegen Anand (Chennai 2013, 5. u. 6. WM-Partie auf der DVD) aus Endspielfehlern seines Gegners resultierten, unterstreicht nochmals die Bedeutung der letzten Partiephase.
Rückschau auf 50 Jahre Endspielgeschichte
FAZIT: Karsten Müller hat für die DVD „Endspiele der Weltmeister“ eine lehr- und abwechslungsreiche Auswahl von Endspielen kommentiert, die die letzten sechs klassischen Weltmeister in ihren Spielstilen und mit ihren Fähigkeiten in der Führung des Endspiels charakterisieren. Damit wird dem Nutzer eine Praxis der Endspiele auf höchstem Niveau präsentiert und zugleich die historische Entwicklung des Endspiels über ein halbes Jahrhundert nachvollzogen, die zahlreiche Highlights aufweist. Ein interaktives Training mit Video-Feedback verstärkt und festigt den Lerneffekt. Die durchweg didaktisch gelungene Darstellung des Materials im zweckdienlichen audiovisuellen Format verdient eine nachdrückliche Empfehlung.
Wie aus der vorstehenden Beschreibung hervorgeht, präsentiert die DVD eine attraktive Auswahl von Endspielen, die die „klassischen“ Weltmeister der letzten rund 50 Jahre in Turnieren und Wettkämpfen gespielt haben. Die Endspiele werden von Karsten Müller didaktisch ansprechend erläutert bzw. in angemessener Tiefe analysiert. Eine systematische Darstellung von Endspielen ist hierbei natürlich nicht zu erwarten. Müllers Anliegen besteht eben darin, die Kunst des Endspiels, wie sie von den herausragenden Vertretern unseres Spiels praktiziert und häufig in Perfektion vorgetragen wurde, anhand von Beispielen zu vermitteln und dabei im Verein mit interaktiven Trainingseinheiten einen nachhaltigen Lerneffekt zu erzielen. Der Nutzer sollte fundamentale Endspielkenntnisse mitbringen, wenn er die Inhalte der DVD mit Gewinn verarbeiten will.
Es ist klar, dass sich die Spielweisen und Stärken der Weltmeister im Endspiel mehr oder weniger unterscheiden, aber gelegentlich bestehen auch deutliche Parallelen (wie bei Carlsen und Karpow). Weiterhin haben historische Entwicklungen (zunehmende Computer-Nutzung, Wegfall des Partieabbruchs und der Analyse von Hängepartien, Endspiel-Datenbanken) das Spiel in der Praxis tiefgreifend verändert und die Notwendigkeit erhöht, sich ein ausgefeiltes Endspielwissen zu erarbeiten bzw. das vorhandene Wissen auszubauen. Karsten Müller scheint mit dieser DVD thematisch Neuland betreten zu haben, ein ähnliches Werk, das weltmeisterliche Endspiele über einen längeren Zeitraum vergleichend beleuchtet, ist mir nicht bekannt. ♦
Multimediales Schachtraining mit weltmeisterlichem Flair
von Ralf Binnewirtz
„Lerne von den Klassikern!“ ‒ diesem beachtenswerten Ratschlag hat sich das Hamburger Unternehmen ChessBase in seiner DVD-Reihe Master Class im Multimedia-Format angenommen. Soll es doch tatsächlich noch etliche Spieler selbst auf Meisterniveau geben, die zwar Magnus Carlsen kennen, aber mit seinen Vorläufern bis hin zu Steinitz oder Morphy kaum etwas anfangen können. Die besagte Serie verspricht Abhilfe, indem sie die führenden Schachmeister der Vergangenheit und Gegenwart in Videos porträtiert und dabei deren Strategien, Gewinntechniken und die verschiedenen Phasen ihrer Partien in der Analyse hochrangiger Experten erhellt. Zugleich wird mit regelmässig eingestreuten Testfragen der Leser zur Mitarbeit animiert, so dass dieser nicht nur die legendären Schachgrössen mit ihren spezifischen Stärken (und wenigen Schwächen) kennenlernt, sondern auch für die eigene Partieführung von einem Training nach weltmeisterlichen Vorbildern profitiert.
Schachlegende Botwinnik
Die aktuelle Ausgabe ist dem 6. Weltmeister und Patriarchen der sowjetischen Schachschule, Michail Botwinnik, gewidmet. [Ich verwende in meinem Text die deutsche (aussprachenahe) Transkription russischer Eigennamen, auch wenn auf der DVD durchgängig die englische Transkription gepflegt wird.] Michail Botwinnik (1911-1995), dessen Kurzbiografie von Johannes Fischer beigesteuert wird (übernommen aus der Schachzeitschrift KARL 3/2005), war Weltmeister über einen Zeitraum von 15 Jahren (mit kurzen Unterbrechungen 1957/58 und 1960/61) und über 30 Jahre der Vorkämpfer der Sowjetunion. Manchen Schachfreunden mag er als Persönlichkeit langweilig oder ‒ als Erzkommunist aus Überzeugung ‒ alles andere als sympathisch erscheinen. Seine Bedeutung für das Schach dürfte indes unbestritten sein, zumal er auch als Autor, Theoretiker und Schachlehrer Aussergewöhnliches geleistet hat. Die von ihm nach beendeter Schachkarriere etablierte Botwinnik-Schachschule haben viele künftige Grossmeister und einige spätere Weltmeister (Karpow, Kasparow, Kramnik) durchlaufen.
Eine der charismatischsten Persönlichkeiten der Schachgeschichte: Weltmeister Michael Botwinnik (1911-1995)
Michael Botwinnik hat als Erster die individuelle Vorbereitung auf seine Gegner zur Perfektion getrieben und seine gesamte Lebensweise mit regelmässiger sportlicher Ertüchtigung und einer nahezu spartanischen Ernährung den eigenen Fitness-Ansprüchen unterworfen. Seine Analysen nach Partieabbruch oder -ende waren äusserst akribisch und schonungslos objektiv hinsichtlich eigener Fehler, seine Endspieltechnik war überragend. Ein grosser Teil seines Erfolgs resultierte fraglos aus einer nie erlahmenden Bereitschaft zu harter Arbeit. Wer mehr biografische Details über Botwinnik erfahren möchte als diese DVD zu bieten vermag, ist mit dem ausgezeichneten Werk von Andrew Soltis Mikhail Botvinnik. The Life and Games of a World Chess Champion (McFarland, 2014) gut bedient. Gegenüber dem Buch hat die DVD bekanntlich unschlagbare Vorteile, sobald es um interaktive Trainingsmöglichkeiten oder um ein schnelles Nachspielen von Partien und Analysen am Bildschirm geht.
Videoclips in 4 Gruppen
Befassen wir uns mit dem Herzstück der DVD, den Videoclips, die thematisch in 4 Gruppen gegliedert sind, für die jeweils verschiedene Experten verantwortlich zeichnen. Die gesamte Videospielzeit der deutschen Version beträgt beachtliche 8 Std. 8 Min. (Verlagsangabe).
1. Eröffnungen (8 Clips)
Diesen Teil bestreitet der in Paris lebende Schweizer GM Yannick Pelletier. Er behandelt in 6 Videos die von Botwinnik besonders häufig gespielten Eröffnungen sowie spezielle Strukturen, eingerahmt von einem Einführungsvideo und einer abschliessenden Zusammenfassung. Die 6 Clips thematisieren nacheinander: Holländisch; Halbslawisch; Grünfeld-Indisch; Mit Schwarz gegen 1.e4 [Französisch; Caro-Kann]; Karlsbader Struktur; Vorposten.
Dass Botwinnik zur Eröffnungstheorie zahlreiche eminente Beiträge geliefert hat, ist hinlänglich bekannt. Beispielhaft erinnert sei nur an die komplexe, seinen Namen tragende Botwinnik-Variante in Halbslawisch (5…dxc4), die zu den schärfsten Eröffnungssystemen zählt und bis heute wagemutige Spielernaturen fasziniert und inspiriert. Aber Botwinnik hat nicht nur durch konkrete Ideen und Varianten die Theorie bereichert. Sein Bestreben war vor allem darauf gerichtet, langfristige Strategien zu entwickeln, um aus der Eröffnung typische Situationen und Strukturen im Mittelspiel zu erreichen, die er dann aufgrund seiner profunden Vorarbeit mit Leichtigkeit zu behandeln wusste. Seine tiefen strategischen Pläne reichten zuweilen bis ins Endspiel. Auf dem Feld der vorbereitenden (aber auch nachträglichen) Analyse konnte Botwinnik seine systematisch-wissenschaftliche Arbeitsweise zur Geltung bringen, die sich als wegweisend und vorbildhaft für nachfolgende Generationen erweisen sollte. – Als Zugabe enthält die DVD das Eröffnungsrepertoire von Botwinnik als Variantenbaum („Botvinnik-Powerbooks“).
2. Strategie (7 Clips)
Der Strategie-Part wurde von dem rumänischen GM Mihail Marin aufbereitet, der längst zu den weltbesten Schachautoren zählt. Nach einem einleitenden Video, das einen Überblick über den positionellen aber keineswegs zurückhaltenden Stil Botwinniks gibt, folgen 6 Videos, die einzelne Partien aus Botwinniks Laufbahn präsentieren bzw. nach positionellen Gesichtspunkten sezieren.
Am Anfang steht die legendäre Partie gegen Capablanca (AVRO 1938) mit der unvergesslichen „Links-Rechts-Kombination“, die in zahllosen Partiesammlungen verewigt wurde. Botwinniks tiefe strategische Konzeption triumphiert hier über die kürzeren Teilpläne des Kubaners. Auch taktisch ist der Stratege Botwinnik gemeinhin auf der Höhe, aber er startet seine Kombinationen erst, wenn die positionellen Grundlagen hierzu geschaffen wurden. Nur ausnahmsweise schreckt er vor der eigenen Courage zurück, wenn er aussichtsreiche Opfer zugunsten positioneller Lösungen meidet, die ebenfalls zum Gewinn reichen ‒ so geschehen in der Partie gegen Larsen 1967.
Die Videopräsentationen dieses Teils sind mit interaktiven Trainingsfragen angereichert. Bei der Eingabe von falschen Antwortzügen erfolgt ein kurzes Feedback, wonach der Löser einen neuen Versuch unternehmen kann. Alternativ kann er sich auch die Lösung anzeigen lassen. Daher kann die DVD von Spielern beliebiger Spielstärke genutzt werden, auch der Verlag gibt diesbezüglich keine Einschränkungen an. – Die Partien sind ausserdem in einer separaten Datenbank „Botvinnik_strategy“ zu finden, die Kommentierung liegt hier nonverbal anhand von zahlreichen Varianten vor.
Vielfältige Inhalte und umfangreiches Trainingsmaterial von einem legendären Vorkämpfer des „Sowjet-Schachs“: Screenshot der Chessbase-DVD „Mikhail Botvinnik“
3. Taktik (20 Clips)
Den Taktik-Teil hat der Hamburger IM Oliver Reeh übernommen, der zwanzig Botwinnik-Partien bzw. Partie-Fragmente aus dem Zeitraum 1926 bis 1968 ausgewählt hat, die für ein interaktives Taktik-Training prädestiniert erscheinen. Neben der bereits erwähnten Partie gegen Capablanca 1938 sind hier zwei weitere klassische Perlen Botwinnikscher Spielkunst zu finden, die mit ihren Opfer-Reigen an frühere romantische Zeiten erinnern: die Partie gegen Tschechower 1935 und eine weitere „Unvergängliche“ gegen Portisch 1968. Die vollständigen Partien zum Nachspielen sind wieder in einer Datenbank „Botvinnik_tactics“ verfügbar, hier sind auch kurze Textkommentare (in Deutsch und Englisch) eingestreut.
4. Endspiele (14 Clips)
Der letzte Video-Teil wird von dem renommierten Hamburger Endspielexperten GM Karsten Müller präsentiert. Er beginnt mit zwei interaktiven Tests aus Botwinniks Endspielen (zuerst ein grossartiger „Mauerbrecher“, anschliessend sehen wir einen zum Remis verteidigenden Botwinnik). Es folgen 12 Clips, in denen Müller die grossartigen Fähigkeiten Botwinniks in dieser Partiephase kommentiert (ohne interaktive Tests). Das berühmteste der hier gebrachten Beispiele ist sicherlich das Endspiel Botwinnik ‒ Bobby Fischer von der Olympiade Varna 1962, das nach nächtlicher Analyse der Hängepartie durch das russische Team und für Fischer schockierend mit Remis endete. Auch hier gibt es wieder eine separate Datenbank „Botvinnik_endgames“ mit den 14 kommentierten Endspielen.
Als weiteres Zusatzmaterial auf der DVD sind zu nennen: Eine Datenbank mit 1235 Botwinnik-Partien (teilweise und unterschiedlich ausführlich kommentiert mit Varianten/Text), die Tabellen von den Turnieren mit Botwinniks Beteiligung aus dem Zeitraum 1931 bis 1969, sowie eine Datenbank mit 410 Trainingsfragen aus 103 Botwinnik-Partien, hier kann der ambitionierte Löser maximal 883 Punkte erzielen. Zum Arbeiten mit den Datenbanken ist der ChessBase Reader 2017 von der DVD oder bei Chessbase zu installieren (sofern nicht ohnehin bereits auf dem PC des Lesers vorliegend).
Exkurs: Botwinnik vs Fischer
W.E./Im Jahre 1962 kam es anlässlich der 15. Schach-Olympiade im bulgarischen Varna bei der Begegnung Sowjetunion vs USA zu einem legendären Duell zweier Titanen der Schachgeschichte (ein Youtube-Video hält das Partie-Ende der beiden fest): Am 1. Brett traf der Vorkämpfer des kommunistischen Russland Michael Botwinnik auf das amerikanische Schachgenie Robert „Bobby“ James Fischer. Der amtierende Weltmeister Botwinnik war damals mit seinen 51 Jahren bereits nicht mehr ganz auf der Höhe seiner Meisterschaft (und wurde ein Jahr später von T. Petrosjan auf dem Thron endgültig abgelöst), doch die beiden unterschiedlichen Spieler lieferten sich einen erbitterten (und in der Folge vielfach kommentierten) Kampf, der legendär in die Schachgeschichte einging.
Zwei Giganten des Schachs an der Olympiade 1962 im Endspiel ihrer Partie, die remis endete: Botvinnik vs Fischer
Der Spielstil der zwei Genies spiegelte sich unmittelbar in ihren Partieanlagen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und unterbreitete diese Partie der beiden Ex-Weltmeister dem inoffiziellen Weltmeister des aktuellen Computerschachs, nämlich dem Freeware-Schach-Programm Stockfish (Assembler-Version). Das Equipment bzw. Setting dieser sog. Taktischen Analyse mit der Datenbank Chessbase 14 war: AMD-FX8350-8Cores-4Ghz-64bit (Engine AsmFish-20180723 / 20sec / 4G Hash).
Diese Partie wurde (wie gesagt) oft und teils sehr unterschiedlich analysiert von zahlreichen Grossmeistern in Büchern und im Internet; deren Kommentare zu vergleichen mit dem Output einer Schach-Engine, gegen die in einem Match zu reüssieren weder ein Botwinnik noch ein Fischer auch nur den Hauch einer Chancen hätte, ist nicht ohne Interesse und Reiz… Ich gebe hier die Computer-Analyse unverändert 1:1 wieder, der Leser mag sie all den anderen Kommentaren gegenüberstellen und ihre Bewertungen vergleichen mit jenen der humanoiden Beurteilungen. Man beachte übrigens die Einschätzung des Programmes, was die Zug-„Genauigkeit“ der zwei Gegner anbelangt: Botwinnik erreichte hier 62%, Fischer „nur“ 55%…
FAZIT: Das auf der DVD „Fritz-Trainer 10: Mikhail Botvinnik“ versammelte Material umfasst alle Turnier- und Matchpartien von Botwinnik und sogar einige Simultanpartien, somit einen Grossteil seines schachlichen Erbes. Die personelle Besetzung in den Videoclips mit vier prominenten und bewährten Experten verbürgt hohe fachliche Kompetenz, die sprachliche Präsentation ist generell eingängig und angenehm im Tempo. Ergänzt durch hochwertige Zugaben (Biografie, Taktiktraining etc.), bietet sich die DVD an, einen der erfolgreichsten Weltmeister der Schachgeschichte kennenzulernen, seine Partien zu studieren und durch die interaktive Teilnahme an den Tests und Trainingsaufgaben das Niveau der eigenen Partieführung zu verbessern.
Die Ursachen der Überlegenheit Botwinniks über Grossmeister vergleichbaren Talents sind schon weitgehend aus dem vorstehend Gesagten ableitbar. Auch wenn er sich selbst nur als „primus inter pares“ gesehen hat, besass Botwinnik doch entscheidende Vorteile durch seine mit wissenschaftlicher Methodik erarbeiteten Vorbereitungen auf Partie und Gegner, durch die präparierten langfristigen Pläne bis weit ins Mittelspiel, wo seine weniger gut vorbereiteten Gegner nur noch orientierungslos (re)agieren konnten. Seine tiefschürfenden Arbeiten verhalfen ihm wohl auch zu der wertvollen Fähigkeit, Stellungsanalogien in verwandten, scheinbar anders gearteten Stellungen direkt am Brett zu erfassen und zu nutzen (siehe dazu auch A. Jussupow: „Botwinniks Spiel“, in KARL 3/2005). Botwinniks Erfolge basierten zudem auf einem enormen Fleiss, einer unbeirrbaren Zielstrebigkeit und einer eisernen Selbstdisziplin. Sein Spielstil war universell, wenn auch vorwiegend positionell ausgerichtet, und er zeigte keine nennenswerten Schwächen. Lediglich seine berufliche Tätigkeit als Elektroingenieur hinderte ihn daran, eine konstant gute Form aufrechtzuerhalten. Als eine neue Generation von Schachspielern seine Methoden der Vorbereitung adaptierte, büsste er seinen Vorsprung allmählich ein, letztlich musste er auch seinem zunehmenden Alter Tribut zollen. Jedenfalls dürfte die jahrzehntelange sowjetische Hegemonie im Weltschach nach dem 2. Weltkrieg zu einem wesentlichen Teil auf die Pionierarbeit Botwinniks zurückzuführen sein. ♦
Seit den ersten erhältlichen Schachcomputern Ende der 1970er Jahre hat die Schachwelt nun ein über drei Dezennien dauerndes, progressives Programmieren gesehen, und dieses hat (im Verbund mit stetig verbesserter Hardware) inzwischen ein Niveau erreicht, das die Engines – also die rechnenden „Motoren“ – zu absoluten Überfliegern macht. Es dürfte heutzutage keinen einzigen Menschen mehr geben – den amtierenden Schach-WM Magnus Carlsen eingeschlossen -, der ein reguläres Match über 20 Partien unter FIDE-Bedingungen gegen eine der 10 besten Engines der Welt auch nur ausgeglichen gestalten könnte.
Extrem weit und extrem genau berechnen heute die Programme bereits auf handelsüblichen PC’s ihre Züge, und auch wenn nach wie vor schachliche Defizite bei den Engines auszumachen sind – siehe hierzu auch im Glarean Magazin: Die Test-Suite „Nightmare 2“ für Schachprogramme -, so ist in einer „normalen“ Partie die bestenfalls kreative, aber in ihrer Kapazität und Unbeständigkeit hoffnungslos defizitäre humanoide Denkweise absolut chancenlos. (Man vergleiche dazu auch das Aufsehen erregende (Vorgabe-)Match des Programmes „Komodo“ gegen den amerikanischen Super-Grossmeister Hikaru Nakamura im Januar 2016, als das Taktik-Genie Nakamura trotz massiver Benachteiligung seines elektronischen Gegners eine Niederlage nicht vermeiden konnte).