Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert

Traditionsbrüche und Erinnerungsarbeit

von Sigrid Grün

Geschichts­schrei­bung ist nie­mals völ­lig neu­tral, son­dern stets ideo­lo­gisch und sub­jek­tiv gefärbt. Die Frau­en­ge­schichte, die sowohl Teil der Geschichts­wis­sen­schaft als auch der Geschlech­ter­for­schung ist, ent­wi­ckelte sich als Fach­ge­biet im Rah­men der Frau­en­be­we­gung der 1970er Jahre. Damals ver­stand sich die erstar­kende Frau­en­be­we­gung als etwas grund­le­gend Neues. Vor­läu­fer, die es bereits im 19. Jahr­hun­dert gege­ben hatte, wur­den weit­ge­hend igno­riert. Es zeigt sich also: Die Geschichte der Frau­en­be­we­gung ist eine Geschichte vol­ler Miss­ver­ständ­nisse. Der neue Band von Cam­pus: “Erin­nern, ver­ges­sen, umdeu­ten?” arbei­tet das Thema auf.

Vom Hexen-Narrativ bis zur Weimarer Republik

Erinnen vergessen umdeuten Frauenbewegungen - Cover Campus Verlag - Rezension Glarean MagazinDie Antho­lo­gie “Erin­nern, ver­ges­sen, umdeu­ten? – Euro­päi­sche Frau­en­be­we­gun­gen im 19. und 20. Jahr­hun­dert” geht auf eine Tagung im Früh­ling 2018 zurück. Die Teil­neh­me­rin­nen bear­bei­te­ten zahl­rei­che Fra­gen – die Ergeb­nisse lie­gen nun in gedruck­ter Form vor. In den 15 Bei­trä­gen geht es u.a. um Louise Otto Peters, eine der Mit­be­grün­de­rin­nen der bür­ger­li­chen deut­schen Frau­en­be­we­gung im 19. Jahr­hun­dert und um die Frau­en­recht­le­rin Lily Braun, die sich im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert mit dem Bild der Frau in der Antike, ins­be­son­dere mit grie­chi­schen Hetä­ren, aus­ein­an­der­setzte und den hohen Bil­dungs­stand der Pro­sti­tu­ier­ten des Alter­tums betonte. Es geht aber auch um die “Wirk­macht des Hexen-Nar­ra­tivs in den euro­päi­schen Frau­en­be­we­gun­gen”, um die “Frage nach (frag­men­ta­ri­schen) Tra­di­ti­ons­bil­dun­gen als Stra­te­gie der Mobi­li­sie­rung eines radi­ka­len Femi­nis­mus” (116) und um Erin­ne­rungs­kul­tur nach 1945 und Erin­ne­rungs­ar­beit im Kai­ser­reich und in der Wei­ma­rer Republik.

Gedächtnisformen und Medienlogiken

FAZIT: Die The­men Erin­ne­rungs­ar­beit, Tra­di­ti­ons­stif­tung und Tra­di­ti­ons­brü­che wer­den in dem Band “Euro­päi­sche Frau­en­be­we­gun­gen im 19. und 20. Jahr­hun­dert” des Her­aus­ge­ber-Trios Ange­lika Scha­ser, Syl­via Schraut und Petra Stey­mans-Kurz auf viel­fäl­tige Weise auf­ge­ar­bei­tet. Selbst His­to­ri­ke­rIn­nen wer­den hier sehr viel Neues und Inter­es­san­tes erfah­ren, denn die Geschichte der Frau­en­be­we­gun­gen ist immer noch ein stief­müt­ter­lich behan­del­ter Bereich. Der Tagungs­band wird defi­ni­tiv so gut wie aus­schliess­lich ein Fach­pu­bli­kum aus der Geschichts­wis­sen­schaft und Geschlech­ter­for­schung sowie der Kul­tur­wis­sen­schaft ansprechen.

Den Frau­en­recht­le­rin­nen Helene Lange und Getrud Bäu­mer ist ebenso ein Text gewid­met wie den kon­fes­sio­nel­len und regio­na­len Brü­chen in der Tra­di­ti­ons­stif­tung der deut­schen Frau­en­be­we­gung. Her­vor­zu­he­ben ist, dass sich in dem Band nicht nur Bei­träge zur Geschichte der Frau­en­be­we­gung in Deutsch­land fin­den, son­dern auch Gali­zien (pol­ni­sche, jüdi­sche und ukrai­ni­sche Autorin­nen), Ita­lien, Finn­land und Schwe­den betrach­tet wer­den. Sehr auf­schluss­reich ist Susanne Kin­ne­b­rocks Bei­trag “Warum Frau­en­be­we­gun­gen erin­nert wer­den oder auch nicht – Zum Zusam­men­spiel von Gedächt­nis­for­men und Medi­en­lo­gi­ken”, in dem es um die Gedächt­nisse (kom­mu­ni­ka­ti­ves, kul­tu­relle, kol­lek­ti­ves) von Gesell­schaf­ten geht.
Drei der 15 Bei­träge sind in eng­li­scher Spra­che verfasst.

Traditionsverluste durch Diktaturen

Beson­ders inter­es­sant an der Geschichte der Frau­en­be­we­gun­gen sind die zahl­rei­chen Brü­che. Die frühe, bür­ger­li­che Frau­en­be­we­gung, die in puncto Frau­en­rechte eine Menge bewegte, u.a. das Frau­en­wahl­recht erwirkte, lief spä­ter häu­fig Gefahr, ent­we­der völ­lig igno­riert oder gründ­lich miss­ver­stan­den zu werden.

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So bezeich­nete die Autorin Renate Wig­gers­haus die Frau­en­recht­le­rin Ger­trud Bäu­mer in einem ihrer Bücher etwa als “aktive Natio­nal­so­zia­lis­tin”, obwohl Bäu­mer 1933 von den Natio­nal­so­zia­lis­ten all ihrer poli­ti­schen Ämter ent­ho­ben wurde. Die Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts sind in erheb­li­chem Masse mit ver­ant­wort­lich für die Tra­di­ti­ons­ver­luste inner­halb der Frauenbewegung.
Es ist über­aus erhel­lend, etwas dar­über zu erfah­ren, wel­ches Bild sich eine Bewe­gung von der eige­nen Geschichte macht und wie sehr Vor­läu­fer in Ver­ges­sen­heit gera­ten oder sogar gänz­lich umge­deu­tet wer­den können. ♦

Ange­lika Scha­ser, Syl­via Schraut, Petra Stey­mans-Kurz (Hrsg.): Erin­nern, ver­ges­sen, umdeu­ten? – Euro­päi­sche Frau­en­be­we­gun­gen im 19. und 20. Jahr­hun­dert, 406 Sei­ten, Cam­pus Ver­lag, ISBN 9783593510330

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Frau­en­be­we­gung auch über das Hand­buch von Ann Wie­sen­tal: Anti­se­xis­ti­sche Awareness

… sowie über die Frauen-Bio­gra­phie von K. Decker: Lou Andreas-Salomé – Der bit­ter­süsse Funke Ich

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