Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé (Biographie)

Die Frau, die Nietzsche den Schlaf raubte

von Sigrid Grün

Lou An­dre­as-Sa­lo­mé war eine der un­ge­wöhn­lichs­ten Frau­en des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts. Nietz­sche, Ril­ke, We­de­kind und Freud la­gen ihr zu Füs­sen. Schliess­lich hei­ra­te­te die eman­zi­pier­te Lou aber den Ori­en­ta­lis­ten Fried­rich Carl An­dre­as, der sich für sei­ne An­ge­be­te­te so­gar ein Mes­ser in die Brust ge­rammt hat­te, um da­mit zum Aus­druck zu brin­gen, dass er es ernst mein­te. (Die Ehe mit An­dre­as wur­de al­ler­dings nur un­ter der Be­din­gung ak­zep­tiert, mit dem 15 Jah­re äl­te­ren Mann nie das Bett tei­len zu müs­sen… ) Nietz­sche und des­sen Freund Paul Rée ver­zehr­ten sich nach der jun­gen In­tel­lek­tu­el­len, die zahl­rei­che Bü­cher (u.a. über Ib­sen, Nietz­sche und Ril­ke) so­wie Es­says ver­fass­te und sich als Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin betätigte.

Wer war die­se Frau, die ex­akt am 12. Fe­bru­ar vor 150 Jah­ren in St. Pe­ters­burg das Licht der Welt er­blick­te? Die pro­mo­vier­te Phi­lo­so­phin Kers­tin De­cker, die zu­letzt eine Bio­gra­phie über Else-Las­ker Schü­ler ver­fasst hat, nä­hert sich in die­sem her­vor­ra­gend re­cher­chier­ten und sprach­mäch­ti­gen Buch der Aus­nah­me­erschei­nung und “Samm­le­rin sel­te­ner, kost­ba­rer Ichs”, Lou Andreas-Salomé.

Bereits als Kind gegen Zwänge aufbegehrt

Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé - Der bittersüsse Funke IchBe­reits als Kind be­gehr­te Lou ge­gen auf­er­leg­te Zwän­ge auf. Die Toch­ter des Ge­ne­rals Gus­tav von Sa­lo­mé, des Grün­ders der deutsch-re­for­mier­ten Kir­che in Russ­land, wei­ger­te sich, kon­fir­miert zu wer­den! Be­reits in jun­gen Jah­ren brach­te sie ihre El­tern mit ih­ren weit­aus äl­te­ren Ver­eh­rern in Ver­le­gen­heit, die sich bis zur Ver­zweif­lung stei­ger­te. Die­se Frau konn­te man of­fen­sicht­lich nicht bän­di­gen. Doch was ge­nau war es, das die männ­li­che In­tel­li­gen­zia der Jahr­hun­dert­wen­de vom Ho­cker riss? Wie kann man die un­glaub­li­che Fas­zi­na­ti­on, die die­se Frau schon als Ju­gend­li­che auf “den­ken­de” Män­ner aus­üb­te, erklären?

Kers­tin De­cker lässt Lou An­dre­as-Sa­lo­mé und die ihr Ver­fal­le­nen häu­fig selbst zu Wort kom­men. In Brie­fen, Ta­ge­buch­ein­tra­gun­gen und na­tür­lich in ih­ren Bü­chern. Und lang­sam wird eine Frau sicht­bar, die ih­rer Zeit weit vor­aus war, weil sie sich nicht um die bür­ger­li­chen Kon­ven­tio­nen küm­mer­te, die sie in Ket­ten hät­ten le­gen kön­nen. Die Toch­ter aus gu­tem Hau­se konn­te es sich schliess­lich auch leis­ten. Sie wuchs in ei­nem in­tel­lek­tu­ell an­re­gen­den Kli­ma auf, das es ihr spä­ter er­mög­lich­te, auch mit Geis­tes­grös­sen, die weit­aus äl­ter als sie wa­ren, sou­ve­rän um­zu­ge­hen. Stets war sie auf der Su­che nach geis­ti­gem Aus­tausch – im Al­ter von 18 Jah­ren war sie bei­spiels­wei­se von dem pro­tes­tan­ti­schen Pas­tor Hen­drik Gil­lot fas­zi­niert, mit dem sie die un­ter­schied­lichs­ten The­men be­sprach. Und wie soll­te es an­ders sein: Der 25 Jah­re äl­te­re Gil­lot ver­fiel sei­ner jun­gen Schü­le­rin und woll­te so­gar die Schei­dung von sei­ner lang­jäh­ri­gen Frau ein­rei­chen, um Lou zu hei­ra­ten. Der hol­län­di­sche Pas­tor reih­te sich da­mit als ers­ter in eine Rei­he von wil­li­gen Hei­rats­kan­di­da­ten ein, die die ge­bil­de­te jun­ge Frau ab­blit­zen liess.

Bekanntschaft mit prominenten Geistesgrössen

Die Philosophie vor den Wagen der Emanzipation gespannt: Lou Andreas-Salomé, Paul Reé, Friedrich Nietzsche
Die Phi­lo­so­phie vor den Wa­gen der Eman­zi­pa­ti­on ge­spannt: Lou An­dre­as-Sa­lo­mé, Paul Reé, Fried­rich Nietzsche

Als Lou 1882 nach Rom reis­te, um im war­men Kli­ma ein Lun­gen­lei­den zu ku­rie­ren, traf sie dort – aus­ge­rech­net im Pe­ters­dom! – auf Nietz­sche, der der Frau mit der ra­schen Auf­fas­sungs­ga­be so­fort ver­fiel. Ge­nau so wie schon vor­her sein Freund Paul Rée. Aus die­sem Jahr stammt auch eine Fo­to­gra­fie, die sich (ne­ben vie­len an­de­ren Auf­nah­men) im Buch be­fin­det: Die bei­den Phi­lo­so­phen Rée und Nietz­sche sind vor ei­nen Holz­wa­gen ge­spannt, auf dem die jun­ge Lou be­waff­net mit ei­ner Peit­sche sitzt. Die Idee für die­se in­sze­nier­te Auf­nah­me stamm­te üb­ri­gens von Nietzsche!
Auch die Ber­li­ner Jah­re in den 1880er Jah­ren brach­ten zahl­rei­che Freund­schaf­ten und Be­kannt­schaf­ten mit pro­mi­nen­ten Geis­tes­grös­sen mit sich. Ger­hart Haupt­mann, Frank We­de­kind und Ma­xi­mi­li­an Har­den sind nur we­ni­ge der­je­ni­gen Män­ner, mit de­nen sie in re­gem geis­ti­gem Aus­tausch stand. Und schliess­lich, “das Le­ben als Tri­vi­al­ro­man” – Lou lernt in ei­ner Pen­si­on den Ori­en­ta­lis­ten Fried­rich Carl An­dre­as ken­nen, der ihr – wie könn­te es an­ders sein – so­fort ver­fällt. Nach ei­nem spek­ta­ku­lä­ren Selbst­mord­ver­such vor den Au­gen der An­ge­be­te­ten wil­ligt sie in die Ehe ein. Die Ehe liess die jun­ge Frau zwar et­was zur Ruhe kom­men – in ih­rem Haus “Louf­ried” bau­te sie so­gar Ge­mü­se an und züch­te­te Hüh­ner –, doch die geis­ti­ge Be­tä­ti­gung blieb doch im Vor­der­grund. Kurz vor der Jahr­hun­dert­wen­de lern­te Lou in Mün­chen den jun­gen Ril­ke ken­nen und übte ei­nen star­ken Ein­fluss auf ihn aus – so stark, dass er sein Früh­werk in den Müll warf und der gross­ar­ti­ge Dich­ter wur­de, den wir heu­te schät­zen. Die Russ­land­rei­sen, die Ril­ke mit Lou un­ter­nahm, präg­ten ihn nach­hal­tig. Ein­fühl­sam be­schreibt De­cker, wie Lou vie­le Jah­re spä­ter den recht frü­hen Tod Ril­kes erlebte.

Bis ins hohe Alter als Psychoanalytikerin praktiziert

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Kers­tin De­cker zeich­net in die­ser Bio­gra­phie Lou An­dre­as-Sa­lo­més ein dif­fe­ren­zier­tes und nu­an­cier­tes Bild ei­ner be­ein­dru­cken­den Frau. Zahl­rei­che Zi­ta­te las­sen die Stim­mung der da­ma­li­gen Zeit le­ben­dig wer­den und wer­fen ein neu­es Licht auf das Werk zahl­rei­cher be­kann­ter Dich­ter und Den­ker, wie Ril­ke und Nietzsche.

Und dann, 1911, lern­te An­dre­as-Sa­lo­mé schliess­lich Freud ken­nen, der ihr in ih­ren letz­ten 25 Le­bens­jah­ren zur wich­ti­gen Be­zugs­per­son wur­de. Lou wur­de Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin und er­öff­ne­te 1915 in ih­rem “Louf­ried” die ers­te psy­cho­ana­ly­ti­sche Pra­xis Göt­tin­gens. Sie prak­ti­zier­te bis ins hohe Al­ter. 1930 ver­starb ihr Ehe­mann, sie­ben Jah­re spä­ter, An­fang Fe­bru­ar 1937 er­wacht sie nicht mehr. Die Welt hat­te eine aus­ser­ge­wöhn­lich Frau ver­lo­ren, die vie­le Den­ker des 19. und be­gin­nen­den 20. Jahr­hun­derts beeinflusste.
Kers­tin De­cker zeich­net in die­ser Bio­gra­phie Lou An­dre­as-Sa­lo­més ein dif­fe­ren­zier­tes und nu­an­cier­tes Bild ei­ner be­ein­dru­cken­den Frau. Zahl­rei­che Zi­ta­te las­sen die Stim­mung der da­ma­li­gen Zeit le­ben­dig wer­den und wer­fen ein neu­es Licht auf das Werk zahl­rei­cher be­kann­ter Dich­ter und Den­ker, wie Ril­ke und Nietz­sche. Eine ein­fühl­sa­me Bio­gra­phie, die sich der Aus­nah­me­erschei­nung Lou An­dre­as-Sa­lo­mé in re­spekt­vol­ler Wei­se annähert. ♦

Kers­tin De­cker: Lou An­dre­as-Sa­lo­mé – Der bit­ter­süs­se Fun­ke Ich, 360 Sei­ten, Pro­py­lä­en Ver­lag, ISBN 978-3549073841

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Eman­zi­pa­ti­on auch über Emma Gold­man: An­ar­chis­mus (Es­says)

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