Schmidt-Dengler: Bruchlinien (Literatur-Vorlesungen)

Das Spezifische österreichischer Literatur

von Sigrid Grün

Die Frage nach Beson­der­hei­ten der öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur wird in der Ger­ma­nis­tik gerne und oft dis­ku­tiert. Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Wen­de­lin Schmidt-Deng­ler spürt die­ser Frage in sei­ner Unter­su­chung “Bruch­li­nien” eben­falls nach, ver­zich­tet aber auf den ohne­hin ver­mes­se­nen Anspruch, sie pau­schal zu beantworten.
Eine öster­rei­chi­sche Lite­ra­tur schlecht­hin exis­tiert näm­lich nicht. Viel­mehr geht es Autor Schmidt-Deng­ler darum, die Beson­der­hei­ten ein­zel­ner Texte her­aus­zu­ar­bei­ten. Das Inter­es­sante an der Lite­ra­tur sind näm­lich nicht unbe­dingt die Gemein­sam­kei­ten, son­dern die Dif­fe­ren­zen, eben die “Bruch­li­nien”.

Lebendig und an der gesprochenen Sprache orientiert

Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien - Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990Bereits 1995 wurde “Bruch­li­nien” erst­mals ver­öf­fent­licht. Diese “Vor­le­sun­gen zur öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur 1945 bis 1990” sind nun in einer gering­fü­gig ergänz­ten Neu­aus­gabe erschie­nen. Und das Buch des 2008 ver­stor­be­nen öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers ent­hält genau das, was der Unter­ti­tel ver­spricht: Vor­trags­ma­nu­skripte zu Vor­le­sun­gen, die der ehe­ma­lige Vor­stand des Insti­tuts für Ger­ma­nis­tik der Uni­ver­si­tät Wien und Lei­ter des Lite­ra­tur­ar­chivs der Öster­rei­chi­schen Natio­nal­bi­blio­thek zwi­schen 1982 und 1994 an der Uni­ver­si­tät Wien gehal­ten hat. Die Texte zur zeit­ge­nös­si­schen öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur sind ent­spre­chend leben­dig und an der gespro­che­nen Spra­che ori­en­tiert. Diese Beson­der­heit macht das Buch zu einem unver­gleich­li­chen Ver­gnü­gen, denn immer wie­der blit­zen Schmidt-Deng­lers fei­ner Humor und seine Lei­den­schaft für Lite­ra­tur hervor.

Was unterscheidet die österreichische Nachkriegsliteratur von der deutschen?

Thomas Bernhard - Glarean Magazin
Setzte sich mit gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen aus­ein­an­der: Dich­ter Tho­mas Bern­hard beim Zeitungslesen

Zu Beginn führt der Autor in die Mate­rie ein. Er begrün­det, warum er sich aus­ge­rech­net dem Zeit­raum zwi­schen 1945 und 1990 wid­met. Der Beginn des Ana­ly­se­zeit­raums liegt nahe. Der Krieg erfor­derte eine Neu­ori­en­tie­rung. War das wirk­lich so? Und inwie­fern? Was unter­schied den Neu­an­fang von der Nach­kriegs­li­te­ra­tur in Deutsch­land? Diese und viele wei­tere Fra­gen ver­sucht der Autor zu beantworten.
In den “Bruch­li­nien” wird der gesamte Lite­ra­tur­be­trieb beleuch­tet. Neben ein­zel­nen Büchern, die Schmidt-Deng­ler beson­ders beach­tens­wert erschie­nen, geht er auch auf ein­zelne Ver­lage, Zeit­schrif­ten (z.B. “Der Plan”, “Stim­men der Gegen­wart” etc.) und natür­lich auf geschicht­li­che und poli­ti­sche Ent­wick­lun­gen ein. Denn die Lite­ra­ten leb­ten in den sel­tens­ten Fäl­len in einem Elfen­bein­turm und setz­ten sich gerade in Öster­reich mit aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen aus­ein­an­der. Oft kri­tisch – Tho­mas Bern­hard ist dafür wohl das pro­mi­nen­teste Bei­spiel. Und sein Tod im Jahre 1989 mar­kiert schliess­lich auch den Schluss­punkt von Schmidt-Deng­lers Aus­füh­run­gen. Denn mit Bern­hard ging eine Ära zu Ende.

Analyse prominenter Autoren von Artmann bis Winkler

Wendelin Schmidt-Dengler - Literaturkritiker - Glarean Magazin
Wen­de­lin Schmidt-Deng­ler (1942-2008)

Neben Tho­mas Bern­hard ana­ly­siert der pro­mi­nente Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler in sei­nen Vor­le­sun­gen auch viele wei­tere bekannte Autoren, bei­spiels­weise Elias Canetti (nicht “Die Blen­dung”, son­dern eine sei­ner auto­bio­gra­phi­schen Schrif­ten, näm­lich “Die geret­tete Zunge”), H.C. Art­mann, Ernst Jandl, Inge­borg Bach­mann, Hei­mito von Dode­rer, Mar­len Haus­ho­fer, Peter Handke, Josef Wink­ler u.v.m.
Doch auch unbe­kann­tere Autoren, die in sei­nen Augen zu wenig Beach­tung geschenkt bekom­men haben (z.B. Wer­ner Kof­ler) wer­den gewür­digt. Schmidt-Deng­ler geht dabei chro­no­lo­gisch vor. So las­sen sich Ent­wick­lun­gen auch sehr gut nach­voll­zie­hen. Inner­halb man­cher Zeit­ab­schnitte (1970-1980) wid­met er sich einem Buch pro Jahr. Die leben­dig gestal­te­ten Text­ana­ly­sen regen den Leser zur wei­te­ren Beschäf­ti­gung mit der Mate­rie an und bie­ten eine gute Dis­kus­si­ons­grund­lage. Ich per­sön­lich habe auf alle Fälle rich­tig Lust auf die Pri­mär­li­te­ra­tur bekommen.
Fazit: Wen­de­lin-Schmidt Deng­lers Vor­le­sun­gen sind eine wun­der­bare Ein­füh­rung in die öster­rei­chi­sche Nach­kriegs­li­te­ra­tur. Sie machen Lust auf Lite­ra­tur, da in jedem Satz die leben­dige Lei­den­schaft des Autors für die Mate­rie auf­scheint. Ein Buch, das sich auf wohl­tu­ende Weise vom ver­schnarch­ten Aka­de­mi­ker­ge­fa­sel abhebt, das die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft lei­der immer noch im Griff hat. ♦

Wen­de­lin Schmidt-Deng­ler, Bruch­li­nien, Vor­le­sun­gen zur öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur 1945 bis 1990, 560 Sei­ten, Resi­denz Ver­lag, ISBN 9783701731794


Sigrid GrünSig­rid Grün

Geb. 1980 in Rumä­nien, Schau­spiel­aus­bil­dung in Regens­burg, Stu­dium der Deut­sche Phi­lo­lo­gie, Phi­lo­so­phie und Ver­glei­chen­den Kul­tur­wis­sen­schaft in Regens­burg und Olden­burg, der­zeit Pro­mo­vie­rung in Ver­glei­chen­der Kul­tur­wis­sen­schaft, Sach­buch-Autorin und Betrei­be­rin eines ober­baye­ri­schen Kulturportals

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Öster­rei­chi­sche Lite­ra­tur” auch über Tho­mas Bern­hard: Der Wahr­heit auf der Spur

… sowie zum Thema Roman-Lite­ra­tur über Efrat Gal-Ed: Nie­mands­spra­che (Itzig Manger)

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