Pädagogik-Studie: Musizieren fördert das mathematische Denken

Wissenschaftliches Plädoyer für eine ganzheitliche Schulbildung

Wie Musik das mathematische Denken beeinflusst

von Walter Eigenmann

Eine umfang­rei­che Meta-Stu­die des ame­ri­ka­ni­schen Musik­päd­ago­gen und -The­ra­peu­ten Prof. Dr. Mar­tin Ber­gee von der Uni­ver­si­tät Kan­sas weist erst­mals einen sta­tis­tisch signi­fi­kan­ten Zusam­men­hang zwi­schen musi­ka­li­schen und mathe­ma­ti­schen bzw. sprach­li­chen Leis­tun­gen bei Schü­lern nach. Nach Ber­gee ist erwie­sen: Musi­zie­ren för­dert das mathe­ma­ti­sche Denken.

Musik und Mathematik - Arithmetique et Musique - Glarean Magazin
Fran­çois Bon­ne­mer: Arith­me­tique et Musi­que (Paris 17. Jh.)

Pos­tu­liert wurde von diver­sen Dis­zi­pli­nen wie Musik-Neu­ro­psy­cho­lo­gie, Musik-Päd­ago­gik und Musik-Kul­tur­so­zio­lo­gie ja schon lange, dass ein direk­ter Zusam­men­hang zwi­schen Musik­aus­übung und kogni­ti­ver Leis­tung bestehe. Die­ser ange­nom­me­nen direk­ten Asso­zia­tion stand Stu­dien-Autor Ber­gee aller­dings zu Beginn sei­ner entspr. For­schun­gen eher skep­tisch gegenüber.
Ori­gi­nal­ton Ber­gee: “Es gibt seit lan­gem die Vor­stel­lung, “dass diese Berei­che nicht nur zusam­men­hän­gen, son­dern dass es eine Ursa­che-Wir­kung-Bezie­hung gibt – dass man, wenn man in einem Bereich bes­ser wird, per se auch in einem ande­ren Bereich bes­ser wird. Je mehr man sich mit Musik beschäf­tigt, desto bes­ser werde man in Mathe­ma­tik oder Lesen sein. Doch das war mir schon immer suspekt”.
Ber­gee wei­ter: “Ich habe viel­mehr geglaubt, dass die Bezie­hung kor­re­la­tiv und nicht kau­sal ist: Ich wollte zei­gen, dass es wahr­schein­lich eine Reihe von Hin­ter­grundvaria­blen gibt, die die Leis­tung in jedem aka­de­mi­schen Bereich beein­flus­sen – ins­be­son­dere Dinge wie das Bil­dungs­ni­veau der Fami­lie; wo der Schü­ler lebt; ob er weiß oder nicht weiß ist; etc”.

Überraschend starke Relation Musik-Mathematik

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Kurzum, Bergee’s Inten­tion war zu Anfang sei­ner Meta-Stu­die zu zei­gen, dass diese ange­nom­mene Rela­tion “wahr­schein­lich unecht” sei, weil sol­che “Hin­ter­grund­einflüsse die Haupt­trei­ber sol­cher Rela­tio­nen” seien. Ber­gee ging also ursprüng­lich davon aus, dass der angeb­li­che posi­tive Effekt des Musi­zie­rens auf die mathe­ma­ti­schen und sprach­li­chen Kom­pe­ten­zen weg­fällt, sobald von die­sen demo­gra­phi­schen u.a. Ein­flüs­sen abs­tra­hiert wird. Damit wäre ein Zusam­men­hang zwi­schen musi­ka­li­schen und mathe­ma­tisch-kogni­ti­ven Leis­tun­gen bei Schü­lern widerlegt.

Die spä­te­ren Ergeb­nisse von Bergee’s Meta-Stu­die Mul­ti­le­vel Models of the Rela­ti­onsip bet­ween Music Achie­ve­ment and Math Achie­ve­ment – publi­ziert Ende Novem­ber 2020 im renom­mier­ten “Jour­nal of Rese­arch in Music Edu­ca­tion” – zeig­ten nun aber sta­tis­tisch signi­fi­kante Asso­zia­tio­nen zwi­schen Musik- und mathe­ma­ti­schen Schul­leis­tun­gen. Ber­gee: “Zu mei­ner gro­ßen Über­ra­schung sind sie nicht nur nicht ver­schwun­den, son­dern die Bezie­hun­gen sind wirk­lich stark.”

Vielfältige Einflüsse der kognitiven Entwicklung

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Dabei sei das sei­nen Stu­dien zugrun­de­lie­gende Design keine ein­fa­che Sache gewe­sen, “weil es Ein­flüsse gibt, die auf ver­schie­de­nen Ebe­nen pas­sie­ren kön­nen. Es kann ein Ein­fluss auf der Ebene der ein­zel­nen Per­son sein, aber es gibt auch Ein­flüsse, die auf der Ebene des Klas­sen­zim­mers, der Schule und des Schul­be­zirks pas­sie­ren kön­nen, und diese sind hier­ar­chisch. Das beinhal­tet eine kom­pli­zierte Reihe von Analysen”.

Ber­gee kon­kre­ter: “Viel­leicht teilt die musi­ka­li­sche Unter­schei­dung auf einer eher mikro­sko­pi­schen Ebene – Ton­hö­hen, Inter­valle, Metren – eine kogni­tive Basis mit bestimm­ten Mus­tern der Unter­schei­dung in der Spra­che. In ähn­li­cher Weise tei­len sich viel­leicht die eher makro­sko­pi­schen Fähig­kei­ten der moda­len und tona­len Zen­trums­un­ter­schei­dung einen psy­cho­lo­gi­schen oder neu­ro­lo­gi­schen Raum mit Aspek­ten der mathe­ma­ti­schen Kogni­tion. Die Ergeb­nisse der vor­lie­gen­den Stu­die wei­sen zumin­dest auf diese Mög­lich­keit hin.”

Wider das modulare Erziehungsmodell

Musik und Gehirn: Wie genau wirken sich Musikhören und Musizieren auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen aus? - Glarean Magazin
Wie genau wir­ken sich Musik­hö­ren und Musi­zie­ren auf die kogni­ti­ven Fähig­kei­ten des Men­schen aus?

In einem kürz­li­chen Inter­view führte Ber­gee wei­ter aus: “Basie­rend auf den Ergeb­nis­sen ist der Punkt, den wir zu machen ver­such­ten, dass es wahr­schein­lich all­ge­meine Lern­pro­zesse gibt, die allen aka­de­mi­schen Leis­tun­gen zugrunde lie­gen, egal in wel­chem Bereich. Musi­ka­li­sche Leis­tun­gen, mathe­ma­ti­sche Leis­tun­gen, Lese­leis­tun­gen – es gibt wahr­schein­lich all­ge­mei­nere Pro­zesse des Geis­tes, die in jedem die­ser Berei­che zum Tra­gen kommen”.

Damit appel­liert Musik-For­scher Ber­gee an eine gesamt­heit­li­che För­de­rung der kogni­ti­ven Erzie­hung. Ber­gee: “Wenn es also Ihr Ziel ist, die Per­son zu erzie­hen – den Geist der Per­son zu ent­wi­ckeln -, dann müs­sen Sie die ganze Per­son erzie­hen. Mit ande­ren Wor­ten: Ler­nen ist viel­leicht nicht so modu­lar, wie man oft denkt.”

Nicht unterrichten, sondern entwickeln

Jugend und Musik - Musizieren und Entwicklung - Glarean Magazin
Ganz­heit­li­che Ent­wick­lung mit Hilfe der Musik

Das impli­ziere mehr, als Kin­der ein­fach in Fächer zu unter­rich­ten: “Man muss sie in die­sen Fächern ent­wi­ckeln“. Damit will Ber­gee nicht sagen, dass das Erler­nen von Musik not­wen­di­ger­weise die Mathe­ma­tik- oder Lese-Leis­tun­gen eines Kin­des ver­bes­sert. Aber soviel lasse sich behaup­ten: “Wenn Sie wol­len, dass sich der Ver­stand eines jun­gen Men­schen – oder eines jeden Men­schen – ent­wi­ckelt, dann müs­sen Sie ihn auf allen Wegen ent­wi­ckeln, auf denen er ent­wi­ckelt wer­den kann. Man kann nicht einige Arten des Ler­nens ande­ren Arten des Ler­nens opfern, aus wel­chen Grün­den auch immer, sei es finan­zi­ell oder gesellschaftlich.” ♦

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Musik und Schule auch über Lutz Jän­cke: Macht Musik schlau?

Aus­ser­dem zum Thema Musik­wis­sen­schaft: Die audi­tiv-sen­so­ri­sche Syn­chro­ni­sa­tion – Über die Fähig­keit des Takthaltens

… sowie zum Thema Musik­schule das Pam­phlet von Jürg Sei­berth: Die Musik braucht die Schule nicht!


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