Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? (Hirnforschung)

Das Gehirn und die Musik

von Walter Eigenmann

Im An­fang war Mo­zart. Ge­nau­er: Der sog. “Mo­zart-Ef­fekt”. Denn im Jah­re 1993 sorg­te ein Ar­ti­kel in der re­nom­mier­ten wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift “Na­tu­re” für welt­wei­te Fu­ro­re, wo­nach durch das pas­si­ve Hö­ren klas­si­scher Mu­sik, ins­be­son­de­re der Wer­ke des be­rühm­ten Salz­bur­ger Ge­nies, sich das räum­li­che Vor­stel­lungs­ver­mö­gen si­gni­fi­kant ver­bes­sern soll. Aus­gangs­punkt der ent­spre­chen­den Stu­di­en war ein Ex­pe­ri­ment des US-ame­ri­ka­ni­schen Phy­si­kers Gor­don Shaw und der Psy­cho­lo­gin Fran­ces Rauscher, wel­ches mit 36 Pro­ban­den durch­ge­führt wur­de, die nach dem An­hö­ren ver­schie­de­ner Mu­sik­stü­cke Auf­ga­ben aus IQ-Tests lö­sen muss­ten. Da­bei er­ziel­te die Grup­pe, die Mo­zarts Kla­vier­so­na­te in D-Dur / KV 448 ge­hört hat­te, ein si­gni­fi­kant bes­se­res Er­geb­nis. In der Fol­ge er­hitz­te sich die Pro-Kon­tra-Dis­kus­si­on ob die­sem be­rühmt-be­rüch­tig­ten “Mo­zart-Ef­fekt” weit über die Na­tur- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten hin­aus bis tief in die Schul­päd­ago­gik, ja gar Bil­dungs­po­li­tik hin­ein  – ein My­thos war geboren.

Doch was ist wirk­lich dran an der (wohl­fei­len, ei­gent­lich doch wie­der re­vo­lu­tio­nä­ren) Hoff­nung, Mu­sik ver­hel­fe dem Men­schen zu mehr in­tel­lek­tu­el­ler Kom­pe­tenz? Wel­che Aus­wir­kun­gen  ha­ben über­haupt Mu­sik­ma­chen und Mu­sik­hö­ren auf den Men­schen, sei­ne Ko­gni­ti­on, sei­ne Psy­che? Und: Lernt man schneller/besser mit Mu­sik-Un­ter­stüt­zung? Oder: Wie wir­ken Töne the­ra­peu­tisch auf De­menz­er­krank­te? Grund­sätz­lich: Wie geht das mensch­li­che Ge­hirn mit dem kom­ple­xen Phä­no­men “Mu­sik” ei­gent­lich um?

Neuester Stand der neuropsychologischen Musikforschung

Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaftn und der kognitiven Psychologie - Huber VerlagDie­sen und ei­ner Rei­he wei­te­rer Fra­gen geht nun um­fang­reich die jüngs­te Pu­bli­ka­ti­on ei­nes der re­nom­mier­tes­ten deutsch­spra­chi­gen Neu­ro­phy­sio­lo­gen nach, des Zür­cher Ge­hirn­for­schers Prof. Dr. Lutz Jän­cke. In sei­nem Buch “Macht Mu­sik schlau? – Neue Er­kennt­nis­se aus den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten und der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie” brei­tet er in 13 Ka­pi­teln den ak­tu­el­len Stand der neu­ro­psy­cho­lo­gi­schen und -phy­sio­lo­gi­schen Dis­kus­si­on aus. Da­bei för­dert der ge­bür­ti­ge Bo­chu­mer Or­di­na­ri­us an der Uni­ver­si­tät Zü­rich eine gan­ze Rei­he von in­ter­es­san­ten, ja spek­ta­ku­lä­ren Be­fun­den und Er­kennt­nis­sen aus sei­nem Fach zu­ta­ge – auf­se­hen­er­re­gend kei­nes­wegs nur für den Lai­en: Jän­ckes For­schungs­er­geb­nis­se ge­ra­de auf dem Ge­bie­te der Mu­sik-Neu­ro­wis­sen­schaf­ten stos­sen mitt­ler­wei­le in den an­ge­se­hends­ten Peer-Re­view­ed-Zeit­schrif­ten auf gros­ses In­ter­es­se und be­ein­flus­sen da­mit prä­gend die ak­tu­el­le Diskussion.

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Lutz Jäncke - Glarean Magazin
Neu­ro-Wis­sen­schaft­ler Lutz Jäncke

Hier­zu trägt si­cher nicht nur die wis­sen­schaft­li­che bzw. me­tho­di­sche Kom­pe­tenz des Au­tors bei, son­dern auch sei­ne Fä­hig­keit, kom­ple­xe For­schungs­in­hal­te mit ge­ra­de­zu “leich­ter” Sprach­sti­lis­tik, zu­wei­len gar mit un­ver­hoh­len-hu­mor­vol­ler Fa­bu­lier­lust zu ser­vie­ren. Sein “Macht Mu­sik schlau?” liest sich, wie­wohl mit na­tur­wis­sen­schaft­li­chen, sta­tis­ti­schen, me­tho­di­schen und ana­ly­ti­schen De­tails ge­ra­de­zu voll­ge­stopft, über­ra­schend un­kom­pli­ziert, ja er­fri­schend span­nend – Po­pu­lär­wis­sen­schaft im al­ler­bes­ten Sin­ne. Sein Vor­wort-Ver­fas­ser, der Han­no­ve­ra­ner Be­rufs­kol­le­ge Eck­art Al­ten­mül­ler at­tes­tiert ihm denn auch zu­recht, er er­zie­he “den Le­ser zur kri­ti­schen Ana­ly­se der Fak­ten, ohne als Ober­leh­rer aufzutreten”.

Nach­fol­gend sei­en die we­sent­lichs­ten wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­se von “Macht Mu­sik schlau?” re­pli­ziert – teils zi­tie­rend, teils zu­sam­men­fas­send, Jän­ckes ei­ge­nem Auf­bau der Buch-Ab­schnit­te fol­gend. Selbst­ver­ständ­lich kann es sich da­bei al­len­falls um eine sträf­li­che Ver­knap­pung der um­fang­rei­chen und viel­fäl­ti­gen In­hal­te han­deln, um ei­nen gro­ben Über­blick auf eine Ver­öf­fent­li­chung, wel­che mit Si­cher­heit den wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs auf die­sem Ge­biet für eine län­ge­re nächs­te Zeit we­sent­lich mit­be­stim­men dürf­te. (Co­py­right al­ler wis­sen­schaft­li­chen Abbildungen&Tabellen: L.Jäncke & Hu­ber-Ver­lag Bern).

1. Der Mozart-Effekt

Zwar schliesst Jän­cke nicht aus, dass sich bei Ver­suchs­per­so­nen nach dem Hö­ren von Mo­zart-Mu­sik “ein Hirn­ak­ti­vie­rungs­mus­ter ein­stellt”, wel­ches eine “op­ti­ma­le Grund­la­ge für die spä­ter zu be­ar­bei­ten­den räum­li­chen Auf­ga­ben bie­tet”. Ein spe­zi­fi­scher Ef­fekt des kurz­zei­ti­gen Hö­rens von Mo­zart-Mu­sik auf räum­li­che Fer­tig­kei­ten kön­ne hin­ge­gen “nicht zwei­fels­frei nach­ge­wie­sen” wer­den: “So­fern Ef­fek­te vor­lie­gen, tre­ten sie im­mer in Be­zug zu Ruhe- und Ent­span­nungs­be­din­gun­gen auf”.

2. Einfluss des Musikunterrichts auf schulische Leistungen

Wunderkind Mozart:
Wun­der­kind Mo­zart: “War Mo­zart ein Ge­nie? Wie sind sei­ne mu­si­ka­li­schen Leis­tun­gen wirk­lich ent­stan­den? Gibt es über­haupt Ge­nies?” (Lutz Jäncke)

Jän­cke hat zahl­rei­che sog. “Längs­schnitt-Un­ter­su­chun­gen” in­ter­na­tio­na­ler For­scher­grup­pen her­an­ge­zo­gen und ana­ly­siert bzw. kri­tisch ge­wür­digt – be­son­ders po­pu­lär hier­zu­lan­de: die deutsch­spra­chi­ge “Bas­ti­an-Stu­die”, die laut Jän­cke al­ler­dings aus me­tho­di­schen Grün­den “un­brauch­bar” sei -, wo­bei grund­sätz­lich alle die­se For­schun­gen the­ma­ti­sier­ten, “dass zu­sätz­li­cher Mu­sik­un­ter­richt ei­nen güns­ti­gen Ein­fluss auf schu­li­sche Leis­tun­gen, ver­schie­de­ne ko­gni­ti­ve Funk­tio­nen (ins­be­son­de­re das sprach­li­che Ge­dächt­nis) oder auf ver­schie­de­ne In­tel­li­genz­mas­se” ha­ben könne.
Trotz­dem bleibt der Buch-Au­tor skep­tisch: Die meis­ten die­ser Stu­di­en wie­sen “me­tho­di­sche Män­gel auf, die es nicht er­lau­ben, die spe­zi­fi­sche Wir­kung des Mu­sik­un­ter­richts zu be­le­gen”. Gleich­zei­tig blen­det aber Jän­cke nicht aus, dass chi­ne­si­sche Un­ter­su­chun­gen über­zeu­gend zeig­ten: Kin­der mit Mu­sik­un­ter­richt er­brin­gen be­reits nach ei­nem Jahr “bes­se­re ver­ba­le Ge­dächt­nis­leis­tun­gen”. Jän­ckes Theo­rie hier­zu: “Der Grund ist, dass die chi­ne­si­sche Spra­che als to­na­le Spra­che im Hin­blick auf die au­di­to­ri­schen Ver­ar­bei­tungs­grund­la­gen vie­le Ähn­lich­kei­ten mit der au­di­to­ri­schen Ver­ar­bei­tung der Mu­sik aufweist.”
Ins­ge­samt be­dau­ert der Au­tor, dass “kaum eine Stu­die der­zeit die Dau­er­haf­tig­keit mög­li­cher güns­ti­ger Ef­fek­te des Mu­sik­un­ter­richts” the­ma­ti­sie­re. Und kri­tisch fragt er schliess­lich, wel­chen Zweck Mu­sik­trai­ning oder Mu­sik­erzie­hung ei­gent­lich ha­ben sol­len: “Ist es eher zur Stei­ge­rung der ko­gni­ti­ven Leis­tungs­fä­hig­keit ge­eig­net, oder ist es viel­mehr eine wun­der­schö­ne Kul­tur­tä­tig­keit, die Freu­de und Be­frie­di­gung un­ab­hän­gig von schu­li­schen Leis­tungs­aspek­ten schen­ken kann?”

3. Musiker kontra Nicht-Musiker

Auf­grund “gut kon­trol­lier­ter Quer­schnitt-Un­ter­su­chun­gen” zei­gen sich ge­mäss Au­tor “kon­sis­tent bes­se­re ver­ba­le Ge­dächt­nis­leis­tun­gen bei Mu­si­kern” ge­gen­über Nicht-Mu­si­kern. Aus­ser­dem gebe es Hin­wei­se, dass bei Mu­si­kern auch das vi­su­el­le Ge­dächt­nis bes­ser sei.

Statistisch signifikante Unterschiede der Gedächntisleistungen von Musikern und Nicht-Musikern
Sta­tis­tisch si­gni­fi­kan­te Un­ter­schie­de der Ge­dächn­tis­leis­tun­gen von Mu­si­kern und Nicht-Mu­si­kern (aus Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau?”)

Be­legt sei wei­ters, dass Mu­si­ker bzw. Per­so­nen mit Mu­sik­erfah­rung bes­se­re Leis­tun­gen in vi­su­ell-räum­li­chen Tests auf­wei­sen. Dies hän­ge wahr­schein­lich da­mit zu­sam­men, dass “ver­schie­de­ne Aspek­te der Mu­sik in un­se­rem Ge­hirn räum­lich re­prä­sen­tiert sind. Durch das Mu­si­zie­ren wer­den die­se vi­su­ell-räum­li­chen Funk­tio­nen of­fen­bar häu­fig tra­ni­ert.” In­so­fern sei es durch­aus plau­si­bel, dass die­se Funk­tio­nen auch für an­de­re, nicht­mu­si­ka­li­sche Leis­tun­gen ge­nutzt wer­den können.
Da das Rech­nen, der Um­gang mit Zah­len stark von die­sen an­ge­spro­che­nen “vi­su­ell-räum­li­chen Fer­tig­kei­ten ab­hängt, be­stehe aus­ser­dem ein deut­li­cher Zu­sam­men­hang zwi­schen dem Mu­si­zie­ren und ver­schie­de­nen Re­chen­leis­tun­gen. Jän­cke: “Ei­ni­ge Un­ter­su­chun­gen un­ter­stüt­zen die Hy­po­the­se, dass Mu­si­zie­ren und Mu­sik­be­ga­bung die Re­chen­leis­tung fördern”.

4. Musikhören und Lernen

Die Fra­ge, ob (und wenn ja: wel­che) Mu­sik beim Ler­nen hilf­reich sei, wur­de und wird stets um­strit­ten dis­ku­tiert. Dies­be­züg­lich ana­ly­siert Jän­cke ei­ni­ge mehr oder we­ni­ger an­er­kann­te The­sen bzw. Ver­fah­ren wie z.B. die Sug­gesto­pä­die und ver­wand­te Rich­tun­gen, wel­che eine po­si­ti­ve Wir­kung des pas­si­ven Hin­ter­grund­mu­sik-Hö­rens pro­pa­gie­ren. Wie­der­um schliesst For­scher Jän­cke eine “Evo­zie­rung be­stimm­ter Hirn­ak­ti­vie­rungs­mus­ter”, die für das Ler­nen be­son­ders güns­tig sind, auch hier nicht aus. Die ar­beits­psy­cho­lo­gi­schen Un­ter­su­chun­gen bzw. Ex­pe­ri­men­te ha­ben in­des so­wohl “po­si­ti­ve wie ne­ga­ti­ve Ein­flüs­se von HIn­ter­grund­mu­sik auf ver­schie­de­ne Leis­tungs­mas­se” be­legt, so dass auf die­sem Ge­biet wei­te­re For­schun­gen not­wen­dig seien.

5. Musik und Emotionen

Die Er­fah­rung ist all­täg­lich: Wenn man an­ge­neh­me Mu­sik hört, wird die psy­chi­sche Leis­tungs­fä­hig­keit ge­stei­gert. Mehr noch: “Wir ler­nen, be­stimm­te Mu­sik­stü­cke zu mö­gen oder nicht zu mö­gen. In­so­fern sind auch an der Ent­wick­lung von Mu­sik­prä­fe­ren­zen Lern­pro­zes­se be­tei­ligt” (Jän­cke). Der Au­tor geht hier Pro­blem­fel­dern nach wie: Was sind die Ur­sa­chen da­für, dass wir be­stimm­te Mu­sik zu mö­gen schei­nen und an­de­re Mu­sik ab­leh­nen? Gibt es so et­was wie eine uni­ver­sell be­vor­zug­te Mu­sik? Wann hö­ren wir wel­che Mu­sik? Wie hö­ren wir die­se Mu­sik, und vor al­lem: Wer hört wel­che Musik?

Stärkere Durchblutung der Hirngebiete beim Hören "sehr angenehmer Musik"
Stär­ke­re Durch­blu­tung der Hirn­ge­bie­te beim Hö­ren “sehr an­ge­neh­mer Mu­sik” (aus Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau?”)

Bei sol­chen Fra­ge­stel­lun­gen wer­den die Be­fun­de Jän­ckes be­son­ders in­ter­es­sant, rei­chen sie doch wo­mög­lich an das mu­sik­kul­tu­rel­le Selbst­ver­ständ­nis gan­zer Ge­sell­schaf­ten her­an, bzw. müs­sen mu­sik­so­zio­lo­gi­sche und mu­sik­äs­the­ti­sche Re­vi­sio­nen vor­ge­nom­men wer­den im Zu­sam­men­hang mit der hör­psy­cho­lo­gi­schen Kon­so­nanz-Dis­so­nanz-Pro­ble­ma­tik. So hin­ter­fragt Neu­ro­phy­sio­lo­ge Jän­cke ei­ner­seits, ob die “Kon­so­nanz-Dis­so­nanz-Un­ter­schei­dung wirk­lich mit an­ge­bo­re­nen emo­tio­na­len Prä­fe­ren­zen ver­bun­den” ist, oder ob nicht jene Mu­sik­wis­sen­schaft­ler recht ha­ben, wel­che ar­gu­men­tie­ren, dass “die Prä­fe­renz für kon­so­nan­te Mu­sik, Klän­ge und In­ter­val­le eher durch häu­fi­ges Hö­ren die­ser Art von Mu­sik und Klän­gen be­stimmt wird.”
Fest steht ge­mäss ver­schie­de­nen Stu­di­en, dass schon bei vier Mo­na­te al­ten Ba­bys Prä­fe­ren­zen für kon­so­nan­te Klän­ge und In­ter­val­le vor­lie­gen – ge­mäss Lutz Jän­cke aber nicht das schla­gen­de Ar­gu­ment da­für, dass da­bei “aus­schliess­lich ge­ne­tisch be­stimm­te Me­cha­nis­men” zum Tra­gen kom­men: “Es be­steht durch­aus die Mög­lich­keit, dass die Ba­bys schon häu­fig kon­so­nan­te Mu­sik ge­hört und be­reits un­be­wusst eine Vor­lie­be für die­se Art der Mu­sik ent­wi­ckelt ha­ben”. Denn grund­sätz­lich, so die Er­kennt­nis des Neu­ro­phy­sio­lo­gen: “Wir mö­gen, was wir häu­fig hö­ren”. Und wei­ter: “Ob­wohl ins­be­son­de­re in der west­li­chen Kul­tur kon­so­nan­te Mu­sik­ele­men­te eher an­ge­neh­me Re­ak­tio­nen her­vor­ru­fen, darf nicht aus­ser Acht ge­las­sen wer­den, dass ge­ra­de die mensch­li­che Lern­fä­hig­keit es er­mög­licht, auch Dis­so­nanz als an­ge­nehm zu er­le­ben.” Schliess­lich: “Emo­tio­na­le Mu­sik sti­mu­liert das lim­bi­sche Sys­tem. An­ge­neh­me Mu­sik kann ein ‘Gä­sen­haut­ge­fühl’ her­vor­ru­fen, dem ein Ak­ti­vie­rungs­mus­ter des Ge­hirns zu­grun­de liegt, das auch bei Ver­stär­kun­gen, bei der Be­frie­di­gung von Süch­ten und beim Ler­nen zu mes­sen ist. […] Ins­be­son­de­re die Ent­wick­lung von mu­si­ka­li­schen Vor­lie­ben wird wahr­schein­lich über das Be­loh­nungs­sys­tem vermittelt.”

6. Wie verarbeitet das Gehirn Musik?

Wich­ti­ge Er­kennt­nis­se ge­wann Jän­cke durch die ra­san­te ap­pa­ra­te­tech­ni­sche bzw. com­pu­ter­ge­steu­er­te Ent­wick­lung z.B. auf den Ge­bie­ten der Elek­tro- und der Ma­gne­ten­ze­pha­logra­phie, wel­che neu­ro­psy­cho­lo­gisch eine “prä­zi­se zeit­li­che Cha­rak­te­ri­sie­rung” auch der mensch­li­chen Ton- bzw. Mu­sik­wahr­neh­mung er­laubt. Hier ver­weist der Wis­sen­schaft­ler zu­sam­men­fas­send auf den wich­ti­gen Be­fund, dass wäh­rend des Mu­sik­hö­rens “wei­te Tei­le des Ge­hirns im Sin­ne ei­nes Netz­wer­kes ak­ti­viert wer­den. Es be­steht also die Mög­lich­keit, dass man mit mu­si­ka­li­schen Rei­zen eine räum­lich aus­ge­dehn­te Hirn­ak­ti­vie­rung er­rei­chen kann.” In­so­fern ist im Ge­hirn – ganz im Ge­gen­satz zu Spe­ku­la­tio­nen in frü­he­ren Jahr­hun­der­ten – kein ty­pi­sches “Mu­sik­wahr­neh­mungs­are­al” zu iden­ti­fi­zie­ren – ein­fach des­we­gen, weil bei Mu­sik schlicht be­son­ders zahl­rei­che Hirn­re­gio­nen in­vol­viert sind, wor­aus di­ver­se po­si­ti­ve “Trans­fer-Ef­fek­te” resultieren.

7. Die Musik und die zwei Hirnhemisphären

Das menschliche Gehirn - Schnitt durch die beiden Hemissphären
Das mensch­li­che Ge­hirn – Schnitt durch die bei­den Hemis­sphä­ren (aus Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau?”)

Jän­cke: “Bei Mu­si­kern kann häu­fig fest­ge­stellt wer­den, dass sie Mu­sik auch in je­nen Hirn­ge­bie­ten ver­ar­bei­ten, die ei­gent­lich mit der Sprach­ver­ar­bei­tung be­traut sind”. Dem­entspre­chend kön­nen bei Mu­si­kern sog. Amu­si­en – hier ‘Mo­to­ri­sche Amu­sie’: Stö­run­gen in der Pro­duk­ti­on von Mu­sik­stü­cken; oder ‘Sen­so­ri­sche Au­mu­sie’: Stö­run­gen in der Wahr­neh­mung von Mu­sik­stü­cken – auch auf­tre­ten, wenn Hirn­ge­bie­te ge­schä­digt sind, die bei Nicht­mu­si­kern nicht an der Kon­trol­le von Mu­sik­ver­ar­bei­tun­gen be­tei­ligt sind.

8. Wie produziert das Gehirn Musik?

Wenn man Mu­sik­stü­cke spielt, sind ge­mäss Jän­ckes Un­ter­su­chun­gen viel­fäl­ti­ge Ge­dächt­nis­in­for­ma­tio­nen nö­tig: “Die­se In­for­ma­tio­nen rei­chen von Tö­nen, Rhyth­men und Me­lo­dien bis hin zu Er­in­ne­run­gen an Epi­so­den, Per­so­nen und Emo­tio­nen, die mit dem zu spie­len­den Mu­sik­stück as­so­zi­iert sind.” In die­sem Zu­sam­men­hang geht der Au­tor auch auf die Tat­sa­che ein, dass zahl­rei­che Mu­si­ker un­ter “er­heb­li­chen Ängs­ten und Sor­gen hin­sicht­lich ih­rer Spiel­leis­tung” lei­den: “Sie sind teil­wei­se der­art ge­hemmt, dass sie nicht oder nur sel­ten frei und lo­cker ih­ren Spiel­fluss fin­den.” Kern­spin­to­mo­gra­phi­sche oder EEG-Mes­sun­gen sol­cher Per­so­nen im La­bor hät­ten er­ge­ben, dass bei der­ar­ti­gen Blo­cka­den ins­be­son­de­re eine star­ke Ak­ti­vie­rung “fron­ta­ler Hirn­struk­tu­ren” fest­stell­bar sei, was dar­auf hin­wei­se, dass die­se Hirn­ge­bie­te “viel zu star­ke hem­men­de Ein­flüs­se auf die an­de­ren für die Mu­sik­pro­duk­ti­on eben­falls wich­ti­gen Hirn­ge­bie­te aus­üben”. Auf­grund die­ser Er­kennt­nis ar­bei­te nun die Wis­sen­schaft wei­ter an spe­zi­fi­schen Hirn­trai­nings­me­tho­den für ver­bes­ser­te Mu­sik­leis­tun­gen (Stich­wor­te: “Neu­rofeed­back”, “Brain-Com­pu­ter-In­ter­face-Tech­nik” u.a.)

9. Verändert Musizieren das Gehirn?

Grösserer sensomotorischer Hirn-Kortex bei Musikern
Grös­se­rer sen­so­mo­to­ri­scher Hirn-Kor­tex bei Mu­si­kern (aus Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau?”)

Die­ser Fra­ge wid­met Lutz Jän­cke ei­nen be­son­ders in­ter­es­san­ten Ab­schnitt sei­nes Bu­ches. Er do­ku­men­tiert die über­ra­schen­de Fä­hig­keit des mensch­li­chen Ge­hirns zur ana­to­mi­schen An­pas­sung bzw. zu ei­ner Zu­nah­me der “Dich­te der grau­en Sub­stanz” (= u.a. Sitz der wich­ti­gen “Syn­ap­sen”). Jän­cke: “In­ten­si­ves mu­si­ka­li­sches Trai­ning ist mit er­heb­li­chen ma­kro­sko­pi­schen Ver­än­de­run­gen in Hirn­be­rei­chen ge­kop­pelt, die be­son­ders stark an der Kon­trol­le des Mu­si­zie­rens be­tei­ligt sind. Die­se ana­to­mi­schen Ver­än­de­run­gen hän­gen of­fen­bar von der In­ten­si­tät und Häu­fig­keit des Mu­si­zie­rens ab. Je häu­fi­ger trai­niert wird, des­to aus­ge­präg­ter sind die Veränderungen”.

10. Musik und Sprache

Grössere Dichte der grauen Substanz (Zellen) bei Musikern
Grös­se­re Dich­te der grau­en Sub­stanz (Zel­len) bei Mu­si­kern (aus Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau?”)

Die neue­re Er­for­schung des kom­ple­xen Be­zie­hungs­fel­des “Mu­sik-Spra­che” hat nach Jän­cke bis­he­ri­ge Auf­fas­sun­gen stark re­vi­diert. So kön­ne z.B. die strik­te funk­tio­na­le und ana­to­mi­sche Tren­nung zwi­schen Spra­che und Mu­sik nicht mehr auf­recht er­hal­ten wer­den: “Die Wahr­neh­mung der Spra­che und Mu­sik wird von stark über­lap­pen­den Ner­ven­zell­netz­wer­ken be­werk­stel­ligt. Wich­tig da­bei ist auch, dass an der Ana­ly­se von Spra­che und Mu­sik bei­de Hirn­hälf­ten be­tei­ligt sind.” Wei­ter: “Mu­sik ist nach ei­nem be­stimm­ten Re­gel­sys­tem auf­ge­baut. Die­ses Re­gel­sys­tem hat be­mer­kens­wer­te Ähn­lich­kei­ten mit dem Re­gel­sys­tem der Spra­che. Teil­wei­se wer­den für die Ana­ly­se des Mu­sik­re­gel­sys­tems glei­che Hirn­struk­tu­ren ein­ge­setzt.” Eine der Kon­se­quen­zen sol­cher For­schungs­er­geb­nis­se sind me­di­zi­ni­sche An­sät­ze: “Mu­si­ka­li­sche In­ter­ven­tio­nen wer­den er­folg­reich für die The­ra­pie von Sprach­stö­run­gen eingesetzt”.

11. Musik und Alter

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Zum Ab­schluss sei­nes “Par­force­rit­tes durch die Welt der Mu­sik, des Ler­nens und des Ge­hirns” (Jän­cke) kommt der Zür­cher Wis­sen­schaft­ler auf das je län­ger, des­to in­ten­si­ver the­ma­ti­sier­te Pro­blem­feld “Musik&Alter” zu spre­chen. Und auch Jän­ckes For­schun­gen bre­chen hier eine Lan­ze fürs Mu­si­zie­ren, ge­mäss dem be­kann­ten Apo­dik­tum “Use it or lose it”, in­dem er die gros­se Be­deu­tung von be­son­ders drei Hirn-in­ten­si­ven Be­tä­ti­gun­gen kon­sta­tiert: “Längs­schnitt-Stu­di­en ha­ben er­ge­ben, dass äl­te­re Men­schen, die bis ins hohe Al­ter Mu­si­zie­ren, Tan­zen und Brett­spie­le spie­len, sel­ten im fort­ge­schrit­te­nen Al­ter an De­men­zen lei­den. Hier­bei zeig­te sich, dass ein Be­tä­ti­gungs­um­fang in die­sen drei Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten von ca. ein­mal pro Wo­che das Ri­si­ko, spä­ter eine De­menz zu ent­wi­ckeln, um ca. 7 % senk­te. Die in­ten­si­ve Aus­übung die­ser Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten scheint die ‘ko­gni­ti­ve Re­ser­ve’ im Al­ter zu stei­gern.” Zu­sam­men­ge­fasst: “Men­schen, die bis ins hohe Al­ter mu­si­zie­ren, ver­fü­gen über ei­nen ge­rin­ge­ren oder kei­nen Ab­bau des Hirn­ge­we­bes im Stirn­hirn im Ver­gleich zu Per­so­nen, die nicht Musizieren.” ♦

Lutz Jän­cke, Macht Mu­sik schlau? – Neue Er­kennt­nis­se aus den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten und der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie, 452 Sei­ten, Ver­lag Hans Huber/Hochgrefe, ISBN 978-3456845753

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma “Mu­sik als De­menz-Prä­ven­ti­on” auch über Theo Har­togh: Mu­si­zie­ren im Alter

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Leseprobe 1 aus Lutz Jäncke: "Macht Musik schlau"? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie - Huber Verlag
Le­se­pro­be 1 aus Lutz Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau”? – Neue Er­kennt­nis­se aus den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten und der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie – Hu­ber Verlag
Leseprobe 2 aus Lutz Jäncke: "Macht Musik schlau"? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie - Huber Verlag
Le­se­pro­be 2 aus Lutz Jän­cke: “Macht Mu­sik schlau”? – Neue Er­kennt­nis­se aus den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten und der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie – Hu­ber Verlag

Buch-Inhalt

Vorwort (Eckart Altenmüller)                                     9
1. Einleitung                                                   11
Von Kognitionen, psychischen Funktionen und Genen               13
Transfer                                                        14
Wunderwelt der Neuroanatomie und Bildgebung                     16
Von Zeitschriften und Büchern                                   18
Die Geschichte dieses Buches                                    20
Abschliessende Bemerkungen                                       21
2. Der Mozart-Effekt - Beginn eines Mythos                      23
2.1  Der Beginn                                                 24
2.2  Die Folgen                                                 33
2.3  Replikationsversuche                                       35
2.4  Weiterführende Experimente                                 45
2.5  Der Einfluss der Stimmung und der Musikpräferenz           50
2.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                    57
3. Längsschnittstudien                                          59
3.1  Allgemeines                                                59
3.2  Internationale Längsschnittuntersuchungen                  61
3.3  Deutschsprachige Längsschnittstudien                       74
3.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung                    90
4. Querschnittuntersuchungen                                    95
4.1  Musik und Gedächtnis                                       96
4.2  Musikgedächtnis                                           105
4.3  Visuell-räumliche Leistungen                              113
4.4  Rechenleistungen                                          138
4.5  Spielen vom Notenblatt                                    147
4.6  Motorische Leistungen                                     150
4.7  Musikwahrnehmung                                          157
4.8  Musiker und Nichtmusiker                                  192
4.9  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   194
5. Lernen und passives Musikhören                              197
5.1  Suggestopädie                                             201
5.2  Ergebnisse aus dem Journal of the Society
     for Accelerative Learning and Teaching                    207
5.3  Ergebnisse aus Zeitschriften, die von Fachleuten
     begutachtet werden                                        210
5.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   233
6. Musik und Emotionen                                         237
6.1  Preparedness                                              240
6.2  Wir mögen, was wir häufig hören                           246
6.3  Heute "hü" morgen "hott" -
     wechselnde emotionale Musikwirkungen                      249
6.4  Hirnaktivität und emotionale Musik                        258
6.5  Emotionen bei Profimusikern                               271
6.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   274
7. Wie verarbeitet das Gehirn Musik?                           277
7.1  Zusammenfassung                                           292
8. Musik und Hemisphärenspezialisierung                        295
8.1  Amusie                                                    300
8.2  Amusien bei Musikern                                      302
8.3  Zusammenfassung                                           304
9. Wie produziert das Gehirn Musik?                            307
9.1  Motorische Kontrolle                                      308
9.2  Sequenzierung                                             311
9.3  Gedächtnis                                                314
9.4  Aufmerksamkeit                                            315
9.5  Musizieren - Kreativität                                  317
9.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   325
10. Verändert Musizieren das Gehirn?                           327
10.1 Wiederholen ist die Mutter des Lernens                    329
10.2 Expertise - Üben, Üben, Üben                              334
10.3 Gehirne wie Knetmasse                                     335
10.4 Reifung und Hirnplastizität                               347
10.5 Plastizität nicht nur bei Musikern                        349
10.6 Zusammenfassung                                           355
11. Musik und Sprache                                          357
11.1 Funktionen und Module                                     359
11.2 Von Tönen und Sprache                                     361
11.3 Fremdsprachen und Musik                                   365
11.4 Syntax und Semantik                                       367
11.5 Klingt Musik französisch, deutsch oder englisch?          375
11.6 Musik und Lesen                                           376
11.7 Musik und Sprachstörungen                                 381
11.8 Zusammenfassung                                           387
12. Musik und Alter                                            391
12.1 Zusammenfassung                                           399
13. Schlussfolgerungen                                         401
Macht das Hören von Mozart-Musik schlau?                       402
Hat Musikunterricht einen günstigen Einfluss
auf Schulleistungen und kognitive Funktionen?                  403
Worin unterscheiden sich Musiker von Nichtmusikern?            404
Lernt man besser, wenn man gleichzeitig Musik hört?            405
Beeinflusst Musik die Emotionen?                               407
Wird Musik in bestimmten Hirngebieten verarbeitet?             408
Wie produziert das Gehirn Musik?                               409
Verändert Musizieren das Gehirn?                               410
Besteht ein Zusammenhang zwischen Musik und Sprache?           411
Ist es gut, wenn man im fortgeschrittenen Alter musiziert?     412
Soll man in der Schule musizieren?                             413
14. Dank                                                       415
15. Literatur                                                  417
Sachwortregister                                               433
Personenregister                                               451

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mu­sik­psy­cho­lo­gie auch über Theo Har­togh: Mu­si­zie­ren im Alter


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