Kognitive Forschung: Musik als Universalsprache

Musikalität vereint die Weltkulturen

von Walter Eigenmann

Musik ist die ein­zige Spra­che, die jeder ver­steht” – stimmt das wirk­lich, oder ist das ein­fach schön­geis­ti­ges Wunsch­den­ken, übri­gens seit Jahr­hun­der­ten pos­tu­liert, aber nie veri­fi­ziert? Was meint eigent­lich die Wis­sen­schaft zum viel­fäl­tig dis­ku­tier­ten Thema “Musik als Uni­ver­sal­spra­che”? (Über den The­men-Kom­plex “Musik als Spra­che” im enge­ren Sinne wurde und wird schon seit Jahr­zehn­ten geschrie­ben und geforscht – ein beson­ders anre­gen­der Bei­trag hierzu fin­det sich in dem Essay von Ernst Kre­nek: Musik und Spra­che).

Zwei wis­sen­schaft­li­che For­schungs­bei­träge in der jüngs­ten Aus­gabe des renom­mier­ten Sci­ence Maga­zine unter­mau­ern nun die Idee, dass Musik auf der gan­zen Welt trotz vie­ler Unter­schiede tra­gende Gemein­sam­kei­ten hat.

"Das Medley der menschlichen Musikalität vereint alle Kulturen auf dem Planeten"
“Das Med­ley der mensch­li­chen Musi­ka­li­tät ver­eint alle Kul­tu­ren auf dem Planeten”

Denn Wis­sen­schaft­ler unter der Lei­tung des ame­ri­ka­ni­schen Kogni­ti­ons­for­schers Samuel Mehr (Har­vard Uni­ver­sity) haben eine gross ange­legte Ana­lyse von Musik aus Kul­tu­ren auf der gan­zen Welt durch­ge­führt, und die bei­den Kogni­ti­ons­bio­lo­gen Tecum­seh Fitch und Tudor Popescu von der Uni­ver­si­tät Wien gehen davon aus, dass die mensch­li­che Musi­ka­li­tät alle Kul­tu­ren auf der Welt vereint.

Gemeinsamkeiten heterogener Musikstile

Samuel Mehr - Kognitionsforscher und Musikwissenschaftler Harvard University - Glarean Magazin
Samuel Mehr, Kogni­ti­ons-For­scher und Musik-Wis­sen­schaft­ler an der Har­vard Uni­ver­sity: “Es gibt eine Art grund­le­gende mensch­li­che Musikalität”

Die vie­len Musik­stile der Welt sind so unter­schied­lich – zumin­dest ober­fläch­lich betrach­tet -, dass Musik­wis­sen­schaft­ler oft skep­tisch sind, ob sie tat­säch­lich wich­tige gemein­same Merk­male haben. “Uni­ver­sa­li­tät ist ein gros­ses Wort – und ein gefähr­li­ches”, sagte schon der grosse Leo­nard Bern­stein. In der Tat, in der Eth­no­mu­si­ko­lo­gie wurde “Uni­ver­sa­li­tät” zu einem Dirty Word – eine inhalts­lose Wort­hülse. Aber Mehr’s neue For­schun­gen stel­len in Aus­sicht, dass die Suche nach tie­fe­ren uni­ver­sel­len Aspek­ten der mensch­li­chen Musi­ka­li­tät neu ent­facht wird.

Tonalität als “menschliche Prädisposition”?

So stellte Samuel Mehr fest, dass alle unter­such­ten Kul­tu­ren Musik machen und dabei sehr ähn­li­che Arten von Musik in ähn­li­chen Kon­tex­ten ver­wen­den, mit jeweils ein­heit­li­chen Eigen­schaf­ten. Zum Bei­spiel ist Tanz­mu­sik schnell und rhyth­misch, und Schlaf­lie­der weich und lang­sam – über­all auf der Welt.
Dar­über hin­aus zeig­ten gemäss Mehr alle Kul­tu­ren Tona­li­tät: Sie bau­ten aus einer Basis­note eine kleine Teil­menge von Noten auf, genau wie in der west­li­chen dia­to­ni­schen Skala. Hei­lende Lie­der nei­gen dazu, weni­ger Noten und dich­tere Abstände zu ver­wen­den als Liebeslieder.
Diese und wei­tere Ergeb­nisse deu­ten dar­auf hin, dass es tat­säch­lich uni­ver­selle Eigen­schaf­ten der Musik gibt, die wahr­schein­lich tie­fere Gemein­sam­kei­ten der mensch­li­chen Wahr­neh­mung wider­spie­geln – quasi eine grund­le­gende “mensch­li­che Musikalität”.

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In einer wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­tive in der­sel­ben Aus­gabe kom­men­tie­ren die For­scher an der Uni­ver­si­tät Wien Tecum­seh Fitch und Tudor Popescu die Aus­wir­kun­gen. “Die mensch­li­che Musi­ka­li­tät ruht grund­sätz­lich auf einer klei­nen Anzahl von fes­ten Säu­len: Fest kodierte Prä­dis­po­si­tio­nen, die uns die frü­heste phy­sio­lo­gi­sche Infra­struk­tur unse­rer gemein­sa­men Bio­lo­gie bie­tet. Diese ‘musi­ka­li­schen Säu­len’ wer­den dann mit den Beson­der­hei­ten jeder ein­zel­nen Kul­tur ‘gewürzt’, was zu dem schö­nen kalei­do­sko­pi­schen Sor­ti­ment führt, das wir in der Welt­mu­sik fin­den”, erklärt Tudor Popescu. Und Fitch fügt hinzu: “Diese neue For­schung belebt ein fas­zi­nie­ren­des Stu­di­en­ge­biet wie­der, das von Carl Stumpf zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts in Ber­lin ent­wi­ckelt wurde, das aber von den Nazis in den 1930er Jah­ren tra­gisch been­det wurde”.

Das Musik-Medley aller Kulturen des Planeten

Musik-Konzert - Musiksoziologie - Musikpsychologie - Glarean Magazin
“Grund­le­gende Prä­dis­po­si­tion musi­ka­li­scher Inhalte in den mensch­li­chen Weltkulturen”

Mit der Annä­he­rung der Mensch­heit wachse gemäss Popescu und Fitch auch unser Wunsch zu ver­ste­hen, was wir alle gemein­sam haben – in allen Aspek­ten des Ver­hal­tens und der Kul­tur. Die neue For­schung aus Har­vard deute dar­auf hin, dass die mensch­li­che Musi­ka­li­tät einer die­ser gemein­sa­men Aspekte der mensch­li­chen Kogni­tion ist. “So wie euro­päi­sche Län­der als ‘United In Diver­sity’ bezeich­net wer­den, so ver­eint auch das Med­ley der mensch­li­chen Musi­ka­li­tät alle Kul­tu­ren auf dem Pla­ne­ten”, so Tudor Popescu abschliessend. ♦

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Musik­wis­sen­schaft auch: Musik in der Gruppe: Neue Forschungsergebnisse

… sowie zum Thema Musik und Intel­li­genz über Lutz Jän­cke: Macht Musik schlau?

Ver­wandte The­ma­tik: Human­me­di­zin – Musik und Herz­in­farkt (Musik­for­schung)

aus­ser­dem zum Thema “Musik in der Spra­che”: In der Spra­che liegt Musik (Max-Planck-Gesell­schaft)

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