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Stressreduzierung durch Musikhören
von Walter Eigenmann
Auch wenn die Wissenschaftler in aller Welt noch über zahllose Details streiten – hinsichtlich des Gesamtbefundes sind sie sich einig: Musik hat einen enorm positiven Effekt auf die körperliche und seelische Befindlichkeit des Menschen. Zahllose Studien aus vielen Fachgebieten von der Neuropsychologie über die Schulpädagogik und Kultursoziologie bis hin zur Anthropologie und Gerontologie beschäftigen sich mit dem Bezugsfeld Mensch-Musik, und alle dokumentieren sie den teils erheblichen therapeutischen Einfluss des Musikhörens bzw. Musizierens auf den Menschen. Eine neue Langzeit-Untersuchung belegt nun, welche Wechselwirkung Musik und Herzinfarkt haben.
Musik und Körper

In den letzten Jahren mischten und mischen sich verstärkt auch spezifische humanmedizinische Forschungen und Befunde mit empirisch verifizierten Daten in die Diskussion ein, inwiefern Musik auch direkt auf körperliche Defizite einwirke. Eine jüngst vom American College of Cardiology veröffentlichte Studie dokumentiert jetzt beispielsweise den therapeutischen Effekt des Musikhörens bei Patienten mit einer sog. Frühen Postinfarkt-Angina-Pectoris.
Wie diese Untersuchung des Belgrader Kardiologen und Hauptautoren Prof. Dr. Predrag Mitrovic ausführt, überleben in den USA ca. 700’000 Menschen einen Herzinfarkt, und es wird geschätzt, dass etwa jeder neunte dieser Herzinfarkt-Überlebende innerhalb der ersten 48 Stunden nach dem Infarkt an Brustschmerzen und Angstzuständen leidet.
gemäss der Studie deutet nun alles darauf hin, dass Musik (in Kombination mit medikamentösen Standard-Therapien) eine einfache, zugängliche, auch häusliche Massnahme sein könnte, um diese Symptome zu reduzieren und kardiale Folgeereignisse zu verhindern.
Mitrovic dazu: “Aufgrund unserer Ergebnisse glauben wir, dass Musiktherapie allen Patienten nach einem Herzinfarkt helfen kann, nicht nur den Patienten mit einer frühen Postinfarkt-Angina. Sie ist auch sehr einfach und kostengünstig umzusetzen.”
Medikamente mit oder ohne Musik

Die Forscher um Predrag Mitrovic rekrutierten dabei 350 Patienten, bei denen in einem medizinischen Zentrum in Belgrad ein Herzinfarkt und eine Frühe Postinfarkt-Angina diagnostiziert wurde. Eine Hälfte der Personen wurde nach dem Zufallsprinzip für eine Standardbehandlung eingeteilt, während die andere Hälfte zusätzlich zur Standardbehandlung an regelmässigen Musiksitzungen teilnahm. Bei den meisten Patienten umfasste die Standardbehandlung eine Vielzahl von Medikamenten wie Nitrate, Aspirin, gerinnungshemmende Medikamente, Betablocker, Statine, Kalziumkanalblocker, blutdrucksenkende Medikamente und das angina-reduzierende Medikament Ranolazin.
Patienten, die zusätzlich eine Musiktherapie erhielten, wurden zunächst einem Test unterzogen, um festzustellen, auf welche Musikrichtung ihr Körper wahrscheinlich positiv reagieren würde. Die Teilnehmer hörten neun 30-Sekunden-Musiksamples, die sie als beruhigend empfanden, während die Forscher den Körper jedes Teilnehmers hinsichtlich unwillkürlicher Reaktionen auf die Musikproben aufgrund der Erweiterung/Verengung der Pupillen untersuchten. Danach wurde eine Feinabstimmung der persönlichen Auswahl vorgenommen, indem die Patienten über das optimale Musiktempo und die optimale Tonalität bestimmten.
Musiktherapie wirksamer als Standardbehandlung
Daraufhin wurden die betr. Teilnehmer gebeten, sich diese von ihnen selber getroffene Musikauswahl täglich 30 Minuten lang anzuhören, wann immer es für sie am bequemsten war, idealerweise in Ruhe und mit geschlossenen Augen.
Sieben Jahre lang setzten dann die Patienten diese täglichen Hörsitzungen fort und dokumentierten sie in einem Protokoll. Im ersten Jahr kehrten sie alle drei Monate und danach jährlich zur Nachuntersuchung ins medizinische Zentrum zurück.
Nach sieben Jahren erwies sich die Musiktherapie als wirksamer als die Standardbehandlung allein im Hinblick auf die Verringerung von Angst, Schmerzempfindung und Schmerzbelastung. Die Patienten mit Musiktherapie hatten Durchschnitts-Angstwerte, die um ein Drittel unter denen der Standardbehandlung lagen, und sie berichteten über um etwa ein Viertel geringere Angina-Symptome.
Diese Patienten wiesen auch signifikant niedrigere Raten bestimmter Herzerkrankungen auf, darunter eine 18-prozentige Senkung der Rate der Herzinsuffizienz, eine 23-prozentige Senkung der Rate nachfolgender Herzinfarkte, eine 20-prozentige Senkung der Rate der Notwendigkeit einer Koronararterien-Bypass-Operation sowie eine 16-prozentige Senkung der Rate des Herztodes.
Stressreduktion dank Musik

Was ist grundsätzlich der medizinische Grund dieser positiven Effekte? Mitrovic führt aus, dass die Musik wirken kann, indem sie dazu beiträgt, der Aktivität des Sympathischen Nervensystems entgegenzuwirken, also dem Teil des Nervensystems, der die “Kampf-oder-Flucht-Reaktion” steuert, wenn eine Person mit einer Stresssituation konfrontiert ist. Da diese die Herzfrequenz und den Blutdruck erhöht, kann eine sympathische Reaktion das Herz-Kreislauf-System zusätzlich belasten: “Ungelöste Ängste können eine Zunahme der Aktivität des Sympathischen Nervensystems bewirken, was zu einer Zunahme der kardialen Arbeitsbelastung führt”, meint Mitrovic.
Er meint darum, dass regelmässige Sitzungen mit Musikhören diese Kaskade von Ereignissen unterbrechen können, indem sie die mit Angina pectoris verbundenen Ängste nach einem Herzinfarkt reduzieren.
Das Forscherteam plant nun, die Daten weiter zu analysieren, um zu bestimmen, ob die Musiktherapie für bestimmte Untergruppen von Patienten, wie z.B. solche in einem bestimmten Alterssegment oder solche mit anderen Gesundheitszuständen wie z.B. Diabetes Vorteile zeigen könnte. ♦
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