Claus Eurich: Radikale Liebe (Albert Schweitzer)

Herzensbildung als Menschheitsethik

von Heiner Brückner

Der eme­ri­tier­te Hoch­schul­leh­rer für Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaf­ten und Ethik Prof. Dr. Claus Eu­rich be­tä­tigt sich wei­ter­hin als Kon­tem­pla­ti­ons­leh­rer und Buch­au­tor. Sein neu­es­tes, am­bi­tiö­ses Werk ist “Ra­di­ka­le Lie­be – Die Le­bens­ethik Al­bert Schweit­zers – Hoff­nung für Mensch und Erde”. An­spruch und In­halt die­ser Schweit­zer-Mo­no­gra­phie klaf­fen al­ler­dings weit auseinander.

Der Ver­lags­text ver­heisst ei­nen “leuch­ten­den Hoff­nungs­strahl für die Zu­kunft der Erde” und be­haup­tet, dass Al­bert Schweit­zer “al­les, was er sag­te, sel­ber leb­te”. Auf Ein­zel­hei­ten geht die Lau­da­tio nicht nä­her ein. Der Au­tor ver­spricht im zwei­ten Teil sei­nes Bu­ches die pro­pa­gier­te “Ehr­furcht vor dem Le­ben” in die Ge­gen­wart zu ho­len und “uns den wohl ein­zi­gen Weg der Ret­tung” zu zeigen.
Um es vor­weg zu neh­men: Er­mah­nend ist Claus Eu­richs Lob­preis auf den “Ur­wald­dok­tor von Lam­ba­re­ne” zwei­fel­los, über­zeu­gend oder er­mu­ti­gend ist der wort­rei­che Text kei­nes­wegs und schon gar nicht op­ti­mis­tisch gegenwartstauglich.

Claus Eurich - Radikale Liebe - Albert Schweitzer Monographie - Cover Via Nova Verlag - Rezension Glarean MagazinEs sei fünf nach zwölf, meint Au­tor Eu­rich und sieht in sei­ner Neu­erschei­nung “Ra­di­ka­le Lie­be” die Le­bens­ethik des Frie­dens­no­bel­preis­trä­gers von 1952, Al­bert Schweit­zer, als den Er­lö­sungs­weg. Doch Eu­rich ent­wirft ein de­sas­trö­ses, de­struk­ti­ves Zeit­sze­na­rio: “Und so steu­ert die Ti­ta­nic mit dem Na­men ,Homo sa­pi­ens‘ un­be­irrt auf den Eis­berg zu.” Als Ret­tung bie­tet er die Theo­rien Al­bert Schweit­zers mit dem Pri­mat des Geis­ti­gen, der nur durch “un­se­re Vor­stel­lung ei­ner uni­ver­sa­len Ethik” sei­nen Sinn er­hal­te. Das kommt mir vor wie eine Geis­ter-Schei­nung, die bei mir aber kei­ne Geist-Er­schei­nung, son­dern Wi­der­spruch und Un­mut über die All­ge­mein­plät­ze und Pa­ra­phra­sen her­vor­ruft. Denn kurz dar­auf zi­tiert der Au­tor: “So, im Mit­füh­len mit al­len Ge­schöp­fen und der ent­spre­chen­den ethi­schen Tat, ver­dient der Mensch erst den Na­men Mensch.”

Gefesselt und geblendet von der Theorie

Albert Schweitzer beim Bach-Spiel an der Orgel - Original Columbia Masterworks 1952 - Glarean Magazin
Schweit­zer beim Bach-Spie­len an der Or­gel – (Ori­gi­nal Co­lum­bia Mas­ter­works 1952)

Ich be­zich­ti­ge ihn nicht der Sen­ti­men­ta­li­tät, er scheint viel­mehr ge­fes­selt und ge­blen­det von der Theo­rie, die er ver­ficht, und nicht mehr in der Lage nach­voll­zieh­bar zu struk­tu­rie­ren, son­dern lan­det im­mer wie­der in den kurz­schlüs­si­gen Kon­klu­sio­nen sei­nes selbst­ver­lieb­ten im­ma­nen­ten Denk­sche­mas. Auf­rüt­telnd oder an­rüh­rend ist sein Ge­sin­nungs-Hil­fe­ruf schon, aber nicht in­no­va­tiv. Denn wer oder was ist der Ret­tungs­en­gel, die Umkehr-Rettung?
Das in­ten­siv ge­lob­te und ge­hul­dig­te Über­ge­nie Al­bert Schweit­zer, der sich in na­he­zu al­len wich­ti­gen Le­bens­be­rei­chen als Pro­fes­sor ge­ne­ra­lis ge­rier­te, näm­lich Theo­lo­ge und Pfar­rer, Mu­sik­wis­sen­schaft­ler, Bach-Bio­graph, Or­gel­ex­per­te, Kon­zert­or­ga­nist, Me­di­zi­ner, Kämp­fer ge­gen Atom­waf­fen, Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger, Phi­lo­soph, Ethi­ker, Kos­mo­po­lit, “schlich­ter Mensch und Die­ner der Mit­ge­schöpf­lich­keit”, war zu Leb­zei­ten auch ein Meis­ter der Selbst­in­sze­nie­rung, hat sein Hos­pi­tal nicht mo­der­ni­siert, mit der Be­grün­dung von Tier­lie­be un­hy­gie­ni­sche Zu­stän­de zu­ge­las­sen und ei­nen ko­lo­nia­len Füh­rungs­stil gepflegt.
Aus dem El­fen­bein­turm ei­ner Zi­ta­ten­müh­le an­ti­quiert-nost­al­gi­scher Alma-Ma­ter-Men­ta­li­tät do­ziert Eu­rich in schwel­ge­ri­scher Vor­le­sungs­ma­nier und reiht die Wi­der­sprüch­lich­kei­ten süf­fi­sant an­ein­an­der: “Die­ses Fach in der Le­bens­schu­le trägt den Na­men: Bil­dung des Herzens.”

Konkrete Lebensanhaltungspunkte vermieden

Anzeige AMAZON: Spielfilm Albert Schweitzer (Grosse Geschichten 76) [2 DVDs] Standard Version
An­zei­ge

Mit va­gen State­ments wie “Die Ethik der Ehr­furcht […] mischt sich in al­les ein […] , wo dies not­wen­dig ist” ver­mei­det er kon­kre­te Le­bens­an­halts­punk­te über­wie­gend. Mei­ne Ge­duld wei­ter­zu­le­sen war spä­tes­tens hier zu Ende, doch aus “Ehr­furcht” vor dem Au­tor kämpf­te ich mich auch durch die zwei­te Hälf­te, denn da soll­te es prag­ma­ti­scher wer­den. Er ver­spricht die pro­pa­gier­te “Ehr­furcht vor dem Le­ben” in die Ge­gen­wart zu ho­len und “uns den wohl ein­zi­gen Weg der Ret­tung” zu zei­gen. Ge­le­gent­lich hält der Au­tor inne, um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: “Mensch­heit als Schön­heit in Ent­wick­lung”, dann so­fort aber hät­ten “wir das Gleich­ge­wicht des Le­bens so mas­siv ge­stört” – ” […] dass das letzt­end­lich im Sui­zid en­den muss”. Und die Kla­ge über den “schänd­li­chen Um­gang mit un­se­ren nächs­ten Ver­wand­ten, den Tie­ren”, das Ver­sa­gen der al­ten Ethik (sprich eu­ro­päi­schen – aus­ser Al­bert Schweit­zer – an­thro­po­so­phi­schen Ni­sche). Schweit­zer stellt er als “Pate der mo­der­nen Tier­schutz­be­we­gung” heraus.

Flugschrift für die Renaissance eines Humanisten

Claus Eurich - Glarean Magazin
Au­tor Claus Eu­rich (geb. 1950)

Die kämp­fe­ri­sche Flug­schrift für die Re­nais­sance ei­nes ver­dien­ten Hu­ma­nis­ten, al­ler­dings in ei­ner Art und Wei­se, die jen­seits von wis­sen­schaft­li­cher Sach­lich­keit liegt, liest sich wie das Skript zu ei­nem kon­tem­pla­ti­ven Ent­span­nungs- und Ver­tie­fungs­se­mi­nar im “Kampf” ge­gen das “De­sas­trö­se” ohne aka­de­mi­schen Dis­kurs. Be­zeich­nend auch die per­sön­li­che An­re­de an den Le­ser im Stil ge­wis­ser Rat­ge­ber-Li­te­ra­tur: du (“Fang an, … Lebe schon jetzt dei­nen Traum und dein Ide­al, un­be­irrt, dem Le­ben dienend.”).
Zwar wird vor­wie­gend auf die Pre­digt von Al­bert Schweit­zer “Ehr­furcht vor dem Le­ben” Fe­bru­ar 1919 re­kur­riert und aus des­sen Ethik-Phi­lo­so­phie zi­tiert, aber durch die Aus­wahl und die ver­wir­ren­de An­ein­an­der­rei­hung er­ge­ben sich Ge­gen­sät­ze, Wi­der­sprü­che und ge­häuf­te Wie­der­ho­lun­gen, die mehr über den Ge­schmack oder die Vor­lie­be des Au­tor aus­sa­gen, als dass sie Schweit­zers Theo­rie schlüs­sig er­hel­len. Wenn Eu­rich am Schluss als Re­sü­mee an Franz von As­si­si er­in­nert, des­sen Ar­mut Al­bert Schweit­zer in ein “neu­zeit­li­ches Ge­wand” ge­klei­det habe, dann er­hebt er ihn zum Hei­li­gen oder schwächt sein be­ab­sich­tig­tes Ho­fie­ren des Ur­wald­dok­tors ab.
Da möch­te ich ihn an sein Zi­tat aus der Kul­tur­phi­lo­so­phie Schweit­zers ver­wei­sen: “Wah­re Ethik fängt an, wo der Ge­brauch der Wor­te auf­hört” – und dann das Buch zuklappen… ♦

Claus Eu­rich: Ra­di­ka­le Lie­be – Die Le­bens­ethik Al­bert Schwei­zers – Hoff­nung für Mensch und Erde, Sach­buch, 120 Sei­ten, Via­No­va Ver­lag, ISBN 978-3-866-16473-4

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Kul­tur­ge­schich­te auch über den Es­say von Ge­org Ca­vallar: Ge­schei­ter­te Aufklärung?

Weitere Internet-Beiträge über Albert Schweitzer

Der GLAREAN-Herausgeber bei Instragram:


Anzeige AMAZON (In medias res - 222 Aphorismen - Walter Eigenmann)
An­zei­ge

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)