Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung? (Essay)

Vom Streben nach Rationalität

von Heiner Brückner

Auf­klä­rung ist seit Jahr­hun­der­ten ein fort­wäh­ren­der Pro­zess des Geis­tes­le­bens und mensch­li­chen Denk­kraft­ver­mö­gens. An­ge­sichts des Zeit­al­ters von “re­li­gi­ös le­gi­ti­mier­tem Ter­ro­ris­mus” und un­ver­söhn­li­chen Mei­nungs­la­gern, die den ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­halt aus den Au­gen zu ver­lie­ren schei­nen, stellt sich of­fen­sicht­lich die Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit des ver­nunft­ge­steu­er­ten Geis­tes eher als eine lah­me Ente denn als eine schnel­le Brief­tau­be dar.

Georg Cavallar Gescheiterte Aufklärung - Ein philosophischer Essay - Cover Rezension Glarean MagazinUm das “Wie” geht es im Es­say “Ge­schei­ter­te Auf­klä­rung?” von Ge­org Ca­vallar, dem Wie­ner Phi­lo­so­phie­do­zen­ten aber nicht, son­dern um das “Was”. Was ist am Ende der Ge­winn, die Er­kennt­nis, die um­ge­setzt wur­de und so­mit er­kannt wer­den kann? Er ver­sucht den Bal­last auf­klä­re­ri­scher Ideen in der ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung seit dem 18. Jahr­hun­dert in ih­rer Viel­schich­tig­keit zu sich­ten und für die all­ge­mein ge­bil­de­te Le­ser­schaft nach­voll­zieh­bar dar­zu­stel­len. Dem Au­tor kann man be­schei­ni­gen, dass er sei­ne Aus­füh­run­gen nicht in rei­nem Fach­wis­sen mit Schlag­wör­tern wie “nor­ma­ti­ver Uni­ver­sa­lis­mus” oder “To­le­ranz­be­grün­dun­gen” ver­klau­su­liert hat. Das sei be­reits auf aber­tau­sen­den Sei­ten von De­tail­ex­per­ten ge­schrie­ben wor­den. Ca­vallar be­zieht klar Stel­lung zu den di­ver­sen Mei­nun­gen und Strö­mun­gen, wägt ab und legt dar, was Auf­klä­rung al­les sein kann. Ins­be­son­de­re in der Ab­gren­zung des eu­ro­päi­schen Abend­lan­des zum Is­lam wür­den die “Bil­der” re­spek­ti­ve die Sicht­wei­sen des Be­griffs “Auf­klä­rung” schnell zum “Kampf­be­griff” er­klärt. His­to­risch be­trach­tet, sind al­ler­dings sehr wohl epo­chen­spe­zi­fi­sche Ge­wich­tun­gen aus­zu­ma­chen und un­ter­schei­dend zu berücksichtigen.

Verständnisfördernde Begriffserklärungen

Georg Cavallar (Geb. 1962)
Ge­org Ca­vallar (Geb. 1962)

Ein Be­leg sei­ner be­ab­sich­tig­ten Vor­ge­hens­wei­se für eine le­ser­freund­li­che und ver­ständ­nis­för­dern­de Be­griffs­klä­rung in die­sem Es­say ist bei­spiels­wei­se die Ge­dicht­in­ter­pre­ta­ti­on zu Kants “Der Affe – Ein Fa­bel­chen” aus dem Flagg­schiff der Auf­klä­rungs-Flot­te “Ber­li­ni­sche Mo­nats­schrift” von 1784. Da­durch wer­den Kli­schees und Zerr­bil­der nach­voll­zieh­ba­rer zu­recht­ge­rückt und fo­kus­siert als durch theo­re­ti­sie­ren­de Ter­mi­ni. Eine wei­te­re Ver­ständ­nis­hil­fe bie­tet sei­ne Ak­tua­li­tät mit “Ge­gen­warts­re­le­vanz”, die sich etwa an der viel dis­ku­tier­ten, aber zu kurz ge­grif­fe­nen The­se vom “Ge­walt-Dä­mon” Is­lam er­weist. Da­ge­gen sei eine “kri­ti­sche Ana­ly­se un­se­res kau­sa­len Den­kens” zu setzen.
Ge­gen an­ders­lau­ten­de An­schau­un­gen kon­sta­tiert Ca­vallar, dass der Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess der eu­ro­päi­schen Auf­klä­rung stär­ker theo­lo­gisch ge­prägt war und in der Me­tho­dik zu ei­ner Tren­nung von Theo­lo­gie und Ge­schichts­wis­sen­schaf­ten ten­dier­te. Die re­li­giö­se Auf­klä­rung wird am in­ter­es­san­ten Teil­aspekt der Kant’schen Ra­di­ka­li­sie­rung in dem Sin­ne kon­kre­ti­siert, dass er an die Wur­zeln geht.
Nach ei­ner Be­fund­er­he­bung zeigt der Au­tor im 2. Ka­pi­tel die Gren­zen der über­zo­ge­nen “Ver­nunft­gläu­big­keit” auf.

Aufgeklärtes Denken mit Humor, Satire und Zynismus

Immanuel Kant - Beantwortung der Frage - Was ist Aufklärung - Glarean Magazin
Phi­lo­soph Kant in sei­ner “Be­ant­wor­tung der Fra­ge: Was ist Auf­klä­rung?” vom De­zem­ber 1783 in der “Ber­li­ni­schen Mo­nats­schrift” (1784): “Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst ver­schul­de­ten Un­mün­dig­keit. Un­mün­dig­keit ist das Un­ver­mö­gen, sich sei­nes Ver­stan­des ohne Lei­tung ei­nes an­de­ren zu be­die­nen. Selbst­ver­schul­det ist die­se Un­mün­dig­keit, wenn die Ur­sa­che der­sel­ben nicht am Man­gel des Ver­stan­des, son­dern der Ent­schlies­sung und des Mu­tes liegt, sich sei­ner ohne Lei­tung ei­nes an­de­ren zu be­die­nen. […] Habe Mut dich dei­nes ei­ge­nen Ver­stan­des zu be­die­nen! ist also der Wahl­spruch der Aufklärung.”

Im drit­ten Ab­schnitt sind Hu­mor, Sa­ti­re und Zy­nis­mus eben­so un­ver­zicht­ba­rer Be­stand­teil die­ser Denk­art und er­mög­li­chen ei­nen Per­spek­ti­ven­wech­sel zur Ab­wehr von Aber­glau­ben, Fa­na­tis­mus oder Vor­ur­tei­len. Der ak­tu­el­le Be­zug ist nicht zu über­le­sen. Selbst in der Mo­ral, Ethik oder im Recht gebe es kei­ne Ein­heits­spra­che für eine ein­deu­ti­ge Ver­stän­di­gung. Kants Fra­ge: “Was ist Auf­klä­rung?”, oder von Blochs Phi­lo­so­phie, an de­ren Ende eine Pro­vo­ka­ti­on steht, näm­lich: “Die wirk­li­che Ge­ne­sis ist nicht am An­fang, son­dern am Ende”1 gel­ten nach wie vor.
Auf­klä­rungs­pro­zes­se fän­den ge­mein­schaft­lich und öf­fent­lich statt, des­we­gen sei­en alle Ur­tei­le auf dem “Fo­rum der kri­ti­schen Ver­nunft” zu über­prü­fen. Da sie dem Zweck der Mün­dig­keit die­nen soll, sei auch Selbst­kri­tik un­ab­ding­bar vorauszusetzen.

Was Ca­vallar als Po­si­ti­vum fest­hält, ist, dass die eu­ro­päi­sche Auf­klä­rung im­mer­hin die “viel­leicht wich­tigs­te” al­ler Fra­gen stell­te, die da heisst: Was kann ich über­haupt wis­sen? Häu­fig habe es “zu­tref­fen­de Ant­wor­ten” in den drei ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten ge­ge­ben, doch es wür­den an­de­re wei­ter­hin zu dis­ku­tie­ren bleiben.

FAZIT: Ge­org Ca­vallar meint in sei­nem Phi­lo­so­phi­schen Es­say “Ge­schei­ter­te Auf­klä­rung?”, dass der Mensch die Schwach­stel­le der Auf­klä­rung sei und blei­be. Des­halb blei­be es frag­wür­dig “pau­schal von ei­nem ,er­leuch­te­ten Be­wusst­sein‘ zu spre­chen”. (S. 190) Das Er­geb­nis die­ses kom­pakt und um­fas­send ge­ar­bei­te­ten Es­says klingt auf dem Hin­ter­grund des bis­he­ri­gen abend­län­di­schen Bil­dungs­ni­veaus nach dem ge­sun­den Men­schen­ver­stand und so­mit nach ei­ner simp­len Er­klä­rung für den ewig an­dau­ern­den Pro­zess des auf­klä­ren­den Den­kens. Was es wohl auch sein muss, wenn wir nicht in “be­lie­bi­ger Sub­jek­ti­vi­tät ver­haf­tet” (S. 95) blei­ben wollen.

Ca­vallar: Weil Idea­le zu kei­nem Zeit­punkt voll­stän­dig ver­wirk­lich­bar sei­en, könn­ten sie auch je­der­zeit schei­tern. Die “Auf­klä­rung” wird folg­lich ein Kampf ge­gen eine viel­köp­fi­ge Hy­dra blei­ben. Ziel kön­ne nur sein und müs­se blei­ben, dass der Mensch “sich nicht als Ver­nunft­we­sen” auf­gibt. Ca­vallar selbst ist der Auf­fas­sung: “Das zen­tra­le Pro­blem sind da­her die Men­schen, die etwa auf­klä­rungs­un­wil­lig oder -un­fä­hig sind, nicht die Auf­klä­rung selbst.” (S. 186)
Mit dem Bild von der Gar­ten­ar­beit – kul­ti­vie­ren, pfle­gen, ver­voll­komm­nen, hof­fen – wird die Ar­gu­men­ta­ti­on noch ein­mal prag­ma­tisch. Ein Zi­tat aus dem eins­ti­gen Kult­film “The Big Le­bow­ski” be­en­det den Es­say. Frei über­setzt: “Komm, lass uns ke­geln ge­hen.” Das ist eine an­ge­wand­te auf­ge­klär­te Nutzanwendung…♦
1 Ernst Bloch: Das Prin­zip Hoff­nung, Frank­furt 1974

Ge­org Ca­vallar: Ge­schei­ter­te Auf­klä­rung? – Ein phi­lo­so­phi­scher Es­say, 202 Sei­ten, Kohl­ham­mer Ver­lag, ISBN 978-3-17-035482-1

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Auf­klä­rung auch über Cars­ten Prie­be: Eine Rei­se durch die Auf­klä­rung (Die Ente von Vaucanson)

… so­wie zum The­ma Kul­tur­ge­schich­te über Ales­san­dro Ba­ric­co: Die Bar­ba­ren – Die Mu­ta­ti­on der Kultur

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