Zitat der Woche zum Thema Digitalisierte Gesellschaft

Von den Deckmäntelchen „Modernisierung“ und Flexiblisierung“

Die meis­ten Be­ru­fe im pri­va­ten Dienst­leis­tungs­sek­tor sind (mehr oder we­ni­ger) von der Di­gi­ta­li­sie­rung be­trof­fen. Da­bei han­delt es sich häu­fig um kon­ti­nu­ier­li­che Pro­zes­se, die seit Län­ge­rem am Lau­fen sind, sich aber in ge­wis­sen Bran­chen und Be­ru­fen be­schleu­ni­gen. Wie wir ge­zeigt ha­ben, sind Frau­en stär­ker vom Job­ver­lust und von ei­nem An­pas­sungs­be­darf durch be­ruf­li­che Qua­li­fi­zie­rung und Wei­ter­bil­dung be­trof­fen als Män­ner. Das hängt un­ter an­de­rem zu­sam­men mit ih­rer Un­ter­ver­tre­tung in boo­men­den Bran­chen (ICT-Bran­chen) und mit ih­rer Über­ver­tre­tung in Be­ru­fen des Dienst­leis­tungs­be­rei­ches, die un­ter Druck ge­ra­ten (u.a. Kas­sie­re­rin­nen, Ver­kauf, allg. Se­kre­ta­ri­ats­kräf­te, Bü­ro­kräf­te im Fi­nanz- und Rech­nungs­we­sen). Dies vor dem Hin­ter­grund, dass die Teil­nah­me von Frau­en am Ar­beits­markt im­mer noch un­gleich ist und die Lohn­dif­fe­renz zwi­schen Frau­en- und Män­ner­löh­nen seit Jah­ren hart­nä­ckig 19.5 Pro­zent beträgt.

Die Scheinlösung der Digitalisierung

Jahrbuch Denknetz 2017: Technisierte Gesellschaft – Bestandsaufnahmen und kritische Analyse eines Hypes
Jahr­buch Denk­netz 2017: Tech­ni­sier­te Ge­sell­schaft – Be­stands­auf­nah­men und kri­ti­sche Ana­ly­se ei­nes Hypes

Die Merk­ma­le der Zeit- und Orts­un­ab­hän­gig­keit, die vie­le di­gi­ta­li­sier­te Be­ru­fe mit sich brin­gen, sol­len nun den Frau­en neue Chan­cen für eine bes­se­re In­te­gra­ti­on in den Ar­beits­markt brin­gen. Hier zeigt sich deut­lich, dass die bis­he­ri­gen Ana­ly­sen zur Di­gi­ta­li­sie­rung der Ar­beits­welt gen­der- und ins­be­son­de­re auch care­blind sind. Das Vo­lu­men der un­be­zahl­ten Ar­beit über­steigt das Vo­lu­men der be­zahl­ten Ar­beit in der Schweiz, eben­so über­steigt das Vo­lu­men der be­zahl­ten und un­be­zahl­ten Care-Ar­beit (Pfle­ge-, Be­treu­ungs- und Haus­halts­ar­beit) den Um­fang der in­dus­tri­el­len und ge­werb­li­chen Pro­duk­ti­on. Die­se ge­sell­schaft­lich not­wen­di­ge Care-Ar­beit wird meist von Frau­en er­bracht und zeich­net sich durch ihre be­son­de­re Zeit­struk­tur (Be­treu­ungs­ar­beit muss zu dem Zeit­punkt er­bracht wer­den, wo sie an­fällt, und dort, wo die zu be­treu­en­den Per­so­nen sind) und ihre be­schränk­te Ra­tio­na­li­sier­bar­keit aus.
Des­halb sind ei­ner­seits tra­di­tio­nel­le Frau­en­be­ru­fe wie die Pfle­ge­be­ru­fe durch die Di­gi­ta­li­sie­rung kaum ge­fähr­det, an­de­rer­seits ist es ein Trug­schluss zu mei­nen, dass fle­xi­bi­li­sier­te Ar­beits­zei­ten die Ver­ein­bar­keits­pro­ble­ma­tik von Frau­en und von Per­so­nen mit Be­treu­ungs­pflich­ten lö­sen. Sie müs­sen gleich­zei­tig zu Hau­se Es­sen ko­chen, den Kin­dern bei den Haus­auf­ga­ben hel­fen, Mails des Chefs be­ant­wor­ten oder ei­nen Über­set­zungs­auf­trag von der Crowd­platt­form her­un­ter­la­den und zeit­nah er­le­di­gen. Es han­delt sich um eine Scheinlösung.

Doppelbelastung von Betreuenden durch die ständige Verfügbarkeit

Die zu­neh­men­de und ein­sei­tig ver­ord­ne­te Fle­xi­bi­li­sie­rung der Ar­beits­zei­ten, die In­ten­si­vie­rung der Ar­beit, die Ent­gren­zung von Er­werbs­ar­beit und Fa­mi­li­en- und Pri­vat­le­ben so­wie die Er­war­tung an eine stän­di­ge Ver­füg­bar­keit er­hö­hen die Dop­pel­be­las­tung von Per­so­nen mit Be­treu­ungs­pflich­ten und ver­stär­ken ins­be­son­de­re in den Dienst­leis­tungs­bran­chen den be­rufs­be­ding­ten Stress und die Burn­out-Ge­fahr. Mit den sich ak­tu­ell wie­der­ho­len­den An­grif­fen im Par­la­ment auf das Schwei­zer Ar­beits­ge­setz sol­len un­ter dem Deck­man­tel von “Fle­xi­bi­li­sie­rung” und “Mo­der­ni­sie­rung” ins­be­son­de­re die Ar­beits­zeit­er­fas­sung, aber auch die gel­ten­den Höchst­ar­beits- und Ru­he­zei­ten ab­ge­schafft wer­den. Das Ziel sind noch fle­xi­bler ein­setz­ba­re Ar­beits­kräf­te, die zu (z.B. sai­so­na­len) Spit­zen­zei­ten auch 70-Stun­den-Wo­chen hin­le­gen kön­nen. Eine Dis­kri­mi­nie­rung von Per­so­nen mit Be­treu­ungs­pflich­ten und da­her ein­ge­schränk­ter Zeit­au­to­no­mie ist vorprogrammiert.

Denk­netz - Jahr­buch 2017 - Tech­ni­sier­te Ge­sell­schaft - In­halts­ver­zeich­nis - Glarean Magazin

Wird also kein Ge­gen­steu­er ge­ge­ben, ist da­von aus­zu­ge­hen, dass die Di­gi­ta­li­sie­rung die Dis­kri­mi­nie­rung der Frau­en in der Ar­beits­welt und die un­glei­che Ver­tei­lung von be­zahl­ter und un­be­zahl­ter Ar­beit un­ter den Ge­schlech­tern ver­stär­ken wird. Der Druck für wei­te­re Fle­xi­bi­li­sie­run­gen und Ver­schlech­te­run­gen der Ar­beits­be­din­gun­gen in den Dienst­leis­tungs­be­ru­fen wird stei­gen, wenn die neu­en Ar­beits­for­men nicht ak­tiv ge­stal­tet und re­gu­liert werden. ♦

Aus Na­ta­lie Im­bo­den & Chris­ti­ne Mi­chel: Di­gi­ta­ler Gra­ben – Gen­der und Dienst­leis­tung 4.0; in Jahr­buch Denk­netz 2017: Tech­ni­sier­te Ge­sell­schaft – Be­stands­auf­nah­men und kri­ti­sche Ana­ly­se ei­nes Hy­pes; Hg: Hans Bau­mann, Mar­tin Gallu­ser, Ro­land Her­zog, Ute Klotz, Chris­ti­ne Mi­chel, Beat Ring­ger, Hol­ger Schatz; Ver­lag edi­ti­on 8, 248 Sei­ten, ISBN 978-3-85990-326-5

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch über Beat Ring­ger (Hrsg.):
Die Zu­kunft der De­mo­kra­tie – Das post­ka­pi­ta­lis­ti­sche Projekt

… und den Es­say von
Rolf Stolz: Die Kul­tur-Uto­pie Europa

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