Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa (Essay)

Neue Kultur – Volkskultur?

Selbstbestimmung in einem anderen Europa

Rolf Stolz

Vorbemerkung

Schon die im Titel die­ses Tex­tes ver­wen­de­ten Begriffe wird man als vage und mehr­deu­tig bezeich­nen. Sie sind es, und dass sie es sind, ist not­wen­dig, um die Bedeu­tun­gen und Spiel­ar­ten hin­läng­lich beschrei­ben zu kön­nen, in denen sich Kul­tur heute ereig­net – in die­sem Kon­ti­nent, der unfrei­wil­lig der inter­na­tio­nalste, der am wenigs­ten regio­nal und pro­vin­zi­ell geprägte, der ver­floch­ten­ste und trotz sei­ner öko­no­mi­schen Potenz und rela­ti­ven poli­ti­schen Stärke der kul­tu­rell am wenigs­ten selbst­be­stimmte der fünf bewohn­ten Kon­ti­nente ist.
“Neue Kul­tur” bezeich­net nicht ein­fach das gerade eben mit kul­tu­rel­lem Anspruch ins Werk Gesetzte. “Volks­kul­tur” bezieht sich nicht auf die tou­ris­tisch inspi­rier­ten Dar­bie­tun­gen alter Leute in alten Kos­tü­men. “Neue Kul­tur” umschliesst all die viel­ge­stal­ti­gen, tas­ten­den Ver­su­che einer neuen Bewe­gung, ihre eige­nen Erfah­run­gen und ihr momen­ta­nes Bild einer ande­ren Welt­ord­nung zu ver­ge­gen­ständ­li­chen. Diese unver­brauchte, in vie­lem noch unent­wi­ckelte und gestalt­lose Kul­tur fin­det ihr Gegen­stück – halb Spie­gel­bild, halb Ant­ago­nis­mus – in einer Volks­kul­tur, die aus zer­stör­ten Res­ten auf­scheint oder sich neu ent­zün­det an popu­lä­ren Gefüh­len, an Kämp­fen und Identifikationen.

Alternativ und avantgardistisch

Eine alter­na­tive Kul­tur kann sich nicht damit abge­ben, den Men­schen zu sagen, was sie längst wis­sen und tun. Sie muss avant­gar­dis­tisch sein, sie muss einen Schritt vor­aus sein oder auch einige Schritte, und sie darf nicht gemes­sen wer­den am soge­nann­ten gesun­den Menschenverstand.

Wolf Vostell Elektronischer dé coll age 1968 - Glarean Magazin
Wider die “Ehe­dra­men und Kleine-Leute-Geschich­ten”: Wolf Vostell mit sei­ner “Elek­tro­ni­schen dé coll age” 1968

Eine der erbärm­lichs­ten Sachen ist es, wenn soge­nannte Linke sich nicht zu schade sind, das auf den Hund gekom­mene Volks­emp­fin­den zu Hilfe zu rufen gegen all das, was sie nicht ver­ste­hen kön­nen und nicht ver­ste­hen wol­len. Natür­lich gibt es auch Pseudo-Avant­gar­dis­mus, gibt es Schar­la­ta­ne­rie und seri­el­les Kunst­ge­werbe, wo ein Otto Her­bert Hajek so impo­tent ist wie einst­mals ein Ber­nard Buf­fet. Natür­lich ist nicht die Hal­tung der kri­tik­lo­sen Bewun­de­rung – platt auf den Bauch, die Augen fest geschlos­sen – gefor­dert, also jene ser­vile Muse­ums­wäch­ter-Men­ta­li­tät, die schon auf­schreit, wenn jemand uner­laub­ter­weise eine Beuys­sche Stahl­rohr­kon­struk­tion berührt.
Aber es ist eben ein­fach daran fest­zu­hal­ten, dass ein Vostell in sei­nen Flu­xus-Con­tai­nern mehr trans­por­tiert an Gegen­wart und an Zukunft als ganze Güter­züge vol­ler Spät­im­pres­sio­nis­mus und “sozia­lis­ti­schem Rea­lis­mus”. Die blei­ern schwe­ren Grab­fi­gu­ren, der mes­ser­ge­spickte Hund im roten Pfef­fer­staub – das ist viel näher dran an unse­ren wirk­li­chen Pro­ble­men als all die Ehe­dra­men und Kleine-Leute-Geschich­ten, als all die enga­gierte Künst­lich­keit der Arbeitnehmer-Reportagen.

Den Künstlern die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind

Über­haupt soll­ten wir uns lösen von der Dok­trin, dass der Künst­ler gefäl­ligst als zugleich genia­ler und brav pro­gres­si­ver Kul­tur­schaf­fen­der ein wacke­rer Gewerk­schaf­ter, ein zuver­läs­si­ger Par­tei­mann, ein kon­se­quen­ter Revo­lu­ti­ons­as­ket zu sein habe. Wir müs­sen uns frei­ma­chen von die­sen Fik­tio­nen, wir müs­sen den Künst­lern und der Kunst die Frei­heit las­sen, so zu sein, wie sie sind – eine totale, schran­ken­lose Frei­heit, nicht eine halbe und kas­trierte im Sinne einer regie­rungs­of­fi­zi­el­len sowje­ti­schen Bro­schüre aus der Bre­sch­new-Ära, in der es heisst: “Schrift­stel­ler, Maler oder Regis­seure sind in ihrem Schaf­fen frei. Es gibt weder ver­bo­tene For­men noch ver­bo­tene The­men. Das Prin­zip der Schaf­fens­frei­heit ist jedoch mit Anschlä­gen auf die Lebens­in­ter­es­sen der Gesell­schaft und der Werk­tä­ti­gen unver­ein­bar. Die Gesell­schaft lässt weder die Pro­pa­ganda des Krie­ges zu noch das Schü­ren von ras­sis­ti­scher oder reli­giö­ser Feind­schaft, sie ver­bie­tet die Ver­brei­tung von Por­no­gra­phie oder Wer­ken, die von anti­hu­ma­nem, anti­so­zia­lis­ti­schem Geist durch­drun­gen sind.” (Pres­se­agen­tur Nowosti “Jahr­buch UdSSR 1984”, APN-Ver­lag, Mos­kau 1984).

Die Kunst zu widersprechen – die Widersprüche der Kunst

Man wird akzep­tie­ren müs­sen, dass Künst­ler nicht immer Heroen sind, son­dern alles und jedes: Kle­ri­kale Spin­ner die einen, ängst­li­che Psy­cho­pa­then die ande­ren, bru­tale Sauf­bolde oder pro­sa­ische Buch­hal­ter, geld­gie­rige Bon­vi­vants oder rach­süch­tige Men­schen­feinde. Man wird akzep­tie­ren müs­sen, dass Künst­ler keine Vor­bil­der sind. Man wird akzep­tie­ren müs­sen, dass etli­che Künst­ler nicht “”links, wo das Herz ist”, ihren Platz gehabt haben, son­dern auf der ande­ren Seite der Frontlinie.

Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)
Faschist und genia­ler Lyri­ker: Ezra Pound (1885-1972)

Dass Ezra Pound ein Sym­pa­thi­sant der ita­lie­ni­schen Faschis­ten war, hat nicht ver­hin­dert, dass er einer der gröss­ten Lyri­ker die­ses Jahr­hun­derts war und blieb. Gerade in Deutsch­land ist ein natio­na­ler Kon­sens nötig dar­über, wel­che der in den Faschis­mus ver­strick­ten Künst­ler wir auf den Sperr­müll der Geschichte wer­fen soll­ten und wel­che nicht.

Unwissenheit und Ohnmacht

In einer längst nicht mehr euro­pä­isch zen­trier­ten und sich rapide wan­deln­den Welt wäre es not­wen­dig, dass bei einer Pflicht­schul­zeit von zwölf oder drei­zehn Jah­ren jeder, der nicht lern­be­hin­dert ist, also auch jeder heu­tige “Haupt­schü­ler” am Ende zwei Welt­spra­chen flies­send spricht, geschicht­li­che, poli­ti­sche und geo­gra­phi­sche Zusam­men­hänge kennt, die Grund­züge mathe­ma­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Den­kens begreift, die ele­men­ta­ren Erkennt­nisse der moder­nen Natur­wis­sen­schaf­ten zumin­dest in meta­pho­ri­scher Form nach­voll­zo­gen hat, das Hand­werk­li­che der Kunst ken­nen­ge­lernt und in krea­ti­ver, selbst­be­stimm­ter Arbeit zu eigen­stän­di­ger Gestal­tung gefun­den hat, meh­rere Sport­ar­ten beherrscht, sowie gelernt hat, wie in Fabri­ken und Labors, in Hand­werks­be­trie­ben und in der Land­wirt­schaft die Hände und der Kopf gebraucht werden.
Natür­lich, das ist eine Uto­pie. Aber eine vom Gang der Geschichte dik­tierte, der die euro­päi­schen Län­der nur um den Preis ihres kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Zurück­blei­bens aus­wei­chen kön­nen. Diese Uto­pie zu ver­wirk­li­chen wird nicht nur grosse Geld­sum­men, son­dern auch Schweiss und Trä­nen und den Ver­zicht auf lieb­ge­wor­dene Vor­ur­teile kosten.

Für das, was anders ist

Wir müs­sen die Ver­schie­den­ar­tig­keit, die Eigen­ar­tig­keit, die Ein­zig­ar­tig­keit, das beson­dere Gesicht unse­rer eige­nen Kul­tur ver­tei­di­gen – die in aller Ver­mi­schung unver­tausch­bare und unüber­trag­bare Ein­zel­exis­tenz, das Phä­no­ty­pi­sche. Es ist eine Ent­schei­dung, die wir zu tref­fen haben: Wol­len wir eine von allen natio­na­len Exzen­tri­zi­tä­ten gerei­nigte, jeden Bezug auf das eigene Land ängst­lich ver­mei­dende Kul­tur, die in Mel­bourne und in Mün­chen, in Van­cou­ver und in Frank­furt die eine, ewig glei­che, unter­schieds­lose Welt­kunst (oder ihre euro­pä­isch-abend­län­di­sche Vari­ante) insze­niert? Wol­len wir eine Kul­tur, die den Cha­rak­ter ihrer Cha­rak­ter­lo­sig­keit bezieht aus der fröh­li­chen Befol­gung von glo­ba­len Markt­ge­set­zen und inter­na­tio­nal gül­ti­gen Sebst­ver­stüm­me­lungs-Mecha­nis­men – oder wol­len wir eine aus den nur begrenzt mit­ein­an­der ver­bun­de­nen, nur begrenzt ver­mit­tel­ba­ren Son­der­kul­tu­ren all der vie­len Völ­ker ent­ste­hende Welt­kul­tur, in der das eini­gende Band sehr lose und sehr äus­ser­lich ist und so ver­schwin­det wie ein Faden, der unter den vie­len bun­ten Blu­men fast unsicht­bar bleibt und doch das Gebinde zusam­men­bringt? Ich plä­diere für eine bei aller wech­sel­sei­ti­gen Beein­flus­sung und Befruch­tung unauf­heb­bare Schranke zwi­schen den Kul­tu­ren, für eine deut­sche und eine spa­ni­sche und eine fran­zö­si­sche Kul­tur statt eines Ein­heits­breis nach Europa-Norm.

“Spanier=hochmütig, wun­der­lich, ehr­bar; Deutsche=offenherzig, wit­zig, unüber­wind­lich”: Die Euro­päi­sche Völ­ker­ta­fel, Ölge­mälde Stei­er­mark, frü­hes 18. Jh.

Dies bedeu­tet natür­lich ein Abkop­peln von einer als unauf­halt­sam dar­ge­stell­ten “all­ge­mei­nen Ent­wick­lung”, von der zwang­haft auf Uni­for­mi­tät und Ver­fla­chung abge­rich­te­ten Wan­der­büh­nen­kunst, deren Hei­mat das Nir­gendwo und deren letz­ter Grund das Geschäf­te­ma­chen ist. Dies bedeu­tet ein Aus­klin­ken aus den aktu­el­len “Sach­zwän­gen”, mit denen das all­sei­tige Anglei­chen, Abschlei­fen und Ver­fla­chen erreicht wer­den soll. Die Zer­stö­rung des Beson­de­ren jeder Kul­tur im heu­ti­gen freien Wes­ten hat ihre unüber­seh­bare Par­al­lele in der Zer­stö­rung der viel­ge­stal­ti­gen natür­li­chen Öko­tope wie in der Zer­stö­rung gewach­se­ner Stadt­teil­struk­tu­ren. Das triste Einer­lei der durch Emis­sio­nen, Kul­ti­vie­rung und frei­zeit­ge­rechte Abnut­zung ster­ben­den Wäl­der, die tod­trau­rige Lang­wei­lig­keit der wuchern­den Hoch­haus- und Rei­hen­haus­ge­schwulste – all das wächst auf dem­sel­ben Boden wie die Ver­mark­tung der Kul­tur und ihre indus­tri­elle Ver­ar­bei­tung zu geschmacks­neu­tra­len Appe­tit­hap­pen. Die Macht, die die Natur und die Men­schen zugrunde rich­tet, ist die­selbe, die die mensch­li­chen Schöp­fun­gen zu ver­nich­ten sucht: Eine zen­tra­lis­ti­sche, mono­po­lis­ti­sche, indus­tria­lis­ti­sche Lebens- und Arbeits­struk­tur, die sich in Herr­schafts­ord­nun­gen und Wirt­schafts­for­men, in Denk­ge­wohn­hei­ten und Herr­scher­fi­gu­ren ver­kör­pert, wel­che – je mehr sie mit­ein­an­der in Ver­tei­lungs­kämpfe gera­ten – sich um so ähn­li­cher werden.

Was Europa sein könnte

“Kleineuropa der Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters”: Die EU-Kommission in Brüssel
“Klein­eu­ropa der Büro­kra­ten und ihres par­la­men­ta­ri­schen Begleit­or­ches­ters”: Die EU-Kom­mis­sion in Brüssel

Wir wol­len eine regio­na­lis­ti­sche Kul­tur der Völ­ker in einem Europa, das nicht das Klein­eu­ropa der Euro-Büro­kra­ten und ihres par­la­men­ta­ri­schen Begleit­or­ches­ters ist, son­dern jenes grosse und gross­ar­tige Gesamt­eu­ropa, das vom Bos­po­rus bis Spitz­ber­gen, von Gibral­tar bis zum Ural reicht, zu dem all die klei­nen, von den Gross­macht­po­li­ti­kern ebenso unter­schätz­ten wie unter­drück­ten Völ­ker gehö­ren, ob heute in einem eige­nen Staat lebend wie Alba­ner und Fin­nen oder noch in einem frem­den Staats­ver­band ein­ge­pfercht wie Bas­ken und Kor­sen, ein Gesamt­eu­ropa, das all die in einen ande­ren Kon­ti­nent hin­über­rei­chen­den hal­b­eu­ro­päi­schen Brü­cken- und Zwi­schen-Län­der (die Sowjet­union, die Tür­kei, Zypern, Malta, Grön­land) – zu Aus­tausch und enger Koope­ra­tion auf­ruft und den aus­ser­eu­ro­päi­schen Mäch­ten USA und Kanada den kos­ten­lo­sen Heim­trans­port ihrer Sol­da­ten und Ver­nich­tungs­waf­fen spendiert.
Ein sol­ches Europa wird sich frei­ma­chen von der eng­stir­ni­gen Fixie­rung auf ein christ­ka­tho­li­sches Abend­län­der­tum, es wird die wider­sprüch­li­che Ver­mi­schung der Eth­nien, und Kul­tu­ren in der euro­päi­schen Geschichte bewusst auf­grei­fen als Chance für Viel­ge­stal­tig­keit und For­men­reich­tum. Es wird weder roma­nisch noch ger­ma­nisch sein, weder sla­wisch noch “nor­disch”, es wird ebenso eine Balance sei­ner kul­tu­rel­len Bil­dungs­ele­mente ermög­li­chen wie ein poli­ti­sches Gleich­ge­wicht der Mäch­te­grup­pie­run­gen. Europa hat eine Chance zu über­le­ben, wenn es sich poli­tisch, wirt­schaft­lich und mili­tä­risch abkop­pelt von den USA, wenn es aus der Distanz der Nicht-Pakt­ge­bun­den­heit her­aus eine Mitt­ler­rolle ein­nimmt – zwi­schen Wes­ten und Osten, zwi­schen Nord­ame­rika und Asien, zwi­schen “ers­ter” und “drit­ter” Welt.
Zu die­ser Unab­hän­gig­keit gehört aber auch, dass Europa nicht län­ger sich der ame­ri­ka­ni­schen kul­tu­rel­len Hege­mo­nie beugt, die – ohne dass poli­ti­scher Druck und mili­tä­ri­sche Erpres­sung hin­zu­tre­ten müss­ten – allein durch den Selbst­lauf der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung immer wei­ter anwächst: Als Kom­mer­zia­li­sie­rung, als Tri­via­li­sie­rung, als Scha­blo­ni­sie­rung, von den Wer­be­my­then bis hin zu den Schnell­re­stau­rants, von den Sei­fen­opern bis hin zur elek­tro­ni­schen Kinderstube.

Was verteidigen wir, was geben wir auf?

Weisse Häuser in Andalusien - Spanien - Glarean Magazin
“Keine Tra­di­tion auf­ge­ben, die lebens­fä­hig ist”: Weisse Häu­ser in Anda­lu­sien (Spa­nien)

Was heisst das kon­kret, für viele Ein­zel­kul­tu­ren der euro­päi­schen Völ­ker statt für die Chi­märe einer ein­heit­li­chen “Europa-Kul­tur” ein­zu­tre­ten? Es bedeu­tet zunächst ein­mal, nichts, was lebens­fä­hig ist, auf­zu­ge­ben aus den loka­len, regio­na­len und natio­na­len Tra­di­tio­nen, son­dern es zu bewah­ren und zu erneu­ern: Die bun­ten Häu­ser Por­tu­gals und die weis­sen Anda­lu­si­ens, die Fach­werk-, Schie­fer- und Bruch­stein­häu­ser Deutsch­lands, das “unmög­li­che” zun­gen­bre­che­ri­sche Wali­sisch, die grie­chi­sche und die kyril­li­sche Schrift, Trach­ten und Tänze und Volks­mu­sik, bay­ri­sches Brauch­tum und die Riten der unchrist­li­chen Abend­län­der (der Moham­me­da­ner auf dem Bal­kan), die eigene Lite­ra­tur der bal­ti­schen Völ­ker oder der alba­ni­schen Min­der­heit in Ita­lien, die den Zen­tra­lis­ten ver­hasste und als Sepa­ra­tis­mus ver­däch­tige Wie­der­be­le­bung einer elsäs­si­schen oder kata­la­ni­schen oder sowje­ti­schen Identität…
Aber es geht um mehr als um ein Kon­ser­vie­ren und Restau­rie­ren. Not­wen­dig sind Kul­tu­ren, die neue Schöp­fun­gen her­vor­brin­gen und neue Tra­di­tio­nen begrün­den, die das moderne Leben der Völ­ker zum Leben brin­gen in Kunst­wer­ken, die mehr sind als Kopien oder späte Nach­klänge der alten Meis­ter. Eine sol­che Kunst muss not­wen­dig avant­gar­dis­tisch sein, sie kann nicht spe­ku­lie­ren auf unmit­tel­bare Nach­voll­zieh­bar­keit und Ver­ständ­lich­keit. So wie wir in der Päd­ago­gik die Dok­tri­nen des Lais­ser faire und der Anpas­sung ans jeweils nied­rigste Niveau, die Anbe­tung der spon­ta­nen Igno­ranz und die Ori­en­tie­rung am Flach­kopf und am Faul­pelz end­lich über­win­den und der ver­dien­ten Lächer­lich­keit preis­ge­ben soll­ten, so ist auch auf kul­tu­rel­lem Gebiet ein fun­da­men­ta­les Umden­ken an der Zeit. Es muss in die Köpfe hin­ein, dass ein Kunst­werk sich immer wie­der der Ver­ein­nah­mung und Ver­eindeu­ti­gung ent­zieht, dass Ehr­furcht und Schwei­gen ange­brach­ter sind als inter­pre­tie­ren­des Gefa­sel, dass das Ver­ste­hen eines Kunst­wer­kes nur aus der Distanz mög­lich ist, dass die­ses Ver­ste­hen mit geis­ti­gen Anstren­gun­gen, mit Arbeit, mit inne­ren Kämp­fen und Schmer­zen, mit Risi­ken und mit Sich-Bewäh­ren zu tun hat.

Das Feuer auf die Erde!

Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)
Göt­tin Europa, gestützt von Afrika und Ame­rika (Wil­liam Blake, 1796)

Dort, wo sich wirk­lich etwas abspielt, wo Bücher mehr sind als Papier­kram, wo Maler mehr voll­brin­gen als geho­bene Anstrei­che­rei, wo die Musik die Dämo­nen und die Göt­ter beschwört, dort ist eine Chance für den schöp­fe­ri­schen Men­schen, sich vom Wie­der­käuen der Rea­li­tät zu lösen, sich aus den Zwangs­ge­dan­ken des Foto-Rea­lis­mus zu befreien und das Feuer auf die Erde zu brin­gen, das ebenso gemein­ge­fähr­lich wie schön ist.
So wie die moder­nen Aben­teu­rer aus dem Bann­kreis der begra­dig­ten Flüsse, möblier­ten Wäl­der und seil­bahn­erschlos­se­nen Berge flüch­ten, das Unkal­ku­lier­bare, den Tanz auf dem Seil suchen und den mög­li­chen Tod der siche­ren Lan­ge­weile vor­zie­hen, so stei­gen die Künst­ler aus dem ver­mark­te­ten, regle­men­tier­ten, kor­rum­pier­ten und keim­freien Kul­tur­be­trieb aus – across the river and into the trees.
Natür­lich ist dies eine roman­ti­sche Atti­tüde, natür­lich ist dies Flucht und Ver­wei­ge­rung, aber es ist über­le­bens­not­wen­dig, wenn man der geis­ti­gen Ver­ödung, Ver­step­pung und Ver­wüs­tung, der Platt­wal­zung und Ruhig­stel­lung ent­ge­hen will. Ob stil­ler Rück­zug in ein Reich, das nicht von die­ser Welt ist, ob aggres­sive Auf­kün­di­gung des Mit­spiel-Enga­ge­ments, ob Gegen-Offen­sive oder autis­ti­sche Abkehr – in jedem Fall geht es darum, sich nicht als Quis­ling der kul­tu­rel­len Nivel­lie­rung und Ver­blö­dung zur Ver­fü­gung zu stel­len. Es geht darum, frei zu blei­ben, unbe­stech­lich und souverän. ♦


Rolf StolzRolf Stolz

Geb. 1949 in Mühlheim/D, Stu­dium der Psy­cho­lo­gie in Tübin­gen und Köln, zahl­rei­che fach­wis­sen­schaft­li­che und bel­le­tris­ti­sche Publi­ka­tio­nen in Büchern und Zeit­schrif­ten, frü­her SDS-Akti­vist, Mit­be­grün­der der Grü­nen Deutsch­land, umfang­rei­che foto­künst­le­ri­sche Arbeit, lebt in Köln

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Fremd-Kul­tu­ren auch den poli­ti­schen Essay von Peter Fahr: Zum Ras­sis­mus in der Schweiz
… sowie zum Thema Fremd­kul­tu­ren über Ameneh Bah­r­ami: Auge um Auge (Isla­mis­mus)

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)