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Kammerspiel in der Transsibirischen
von Katka Räber
Der Spielfilm Compartment No. 6 (“Abteilung Nr. 6”) des Regisseurs Juho Kuosmanen basiert auf dem gleichnamigen Roman der in Finnland sehr bekannten Autorin Rosa Liksom. Ein spannendes Roadmovie mit dem Zug von Moskau nach Murmansk. Und wie bei Sartre in “Huis clos” (“Geschlossene Gesellschaft”) befinden sich die Protagonisten in einem praktisch geschlossenen Raum, in einem Zugabteil…
Der finnischen Archäologiestudentin Laura erscheint zunächst die Vorstellung, die lange Reise zusammen mit dem ungehobelten, oft groben Minenarbeiter Ljoha zu verbringen wie ein Aufenthalt in der Hölle. Laura hoffte die Reise zu den 10’000 Jahre alten Felsmalereien (Petroglyphen) zusammen mit ihrer Moskauer Geliebten erleben zu können. Doch das Zugabenteuer entwickelt sich anders als erwartet.
Ein persönliches Russland
Und wir fahren als Publikum mit, erleben einerseits die speziellen russischen Züge, die berühmte Transsibirische Eisenbahn mit dem oft unfreundlichen, unzugänglichen Personal, die Haltestationen sehen wir mit den Augen von Laura, die mit ihrer Kamera zunächst das Alltägliche dieser für uns aussergewöhnlichen Reise filmt und uns so ein sehr persönliches Russland vorstellt.
Gerade in der aktuellen Zeit, in der wir das Verhältnis von Russland und der Ukraine so polarisiert und brutal erleben, bekommen wir einen Einblick in die russische Provinz und erhalten eine Vorstellung von einem Teil der ländlichen Bevölkerung Russlands.
Kammerspiel in einem Zugabteil

Dieses Kammerspiel in einem Zugabteil zeigt sehr vielschichtige Facetten der Wahrnehmung unterschiedlicher Bevölkerungsschichten. Auf so engem Raum spielt sich konzentriert das Leben ab. Und all das passiert, immer unerwartet, im langsamen Tempo, mit Humor, oftmals mit Melancholie – und das Herz der Protagonisten wie auch des Publikums öffnet sich. Kein Wunder, dass dieser Film als internationaler Beitrag für den Oscar-Wettbewerb eingereicht worden ist.
Unterwegs steigt ein junger, eher ziellos reisender Finne in das Abteil ein, der auch wieder Bewegung in eine andere Richtung bringt. In der Beziehung zwischen der Finnin Laura und dem Russen Ljoha kommen immer wieder Hürden vor, von denen manche spannend überwunden, manche mit Humor aufgelöst werden, auch die zu erwartende Liebesannäherung findet tatsächlich statt, wenn auch nicht mit einem Hollywood-Happyend.

Und doch steigen wir erfüllt, beglückt, nachdenklich, aber lächelnd aus dem Zug ins Kinofoyer hinaus, aus dem eisigen Sibirien in den hiesigen Frühling. Wir haben einiges kennengelernt, erfahren – wenn auch nichts, was in einem Tourismus-Reiseführer steht.
Ergreifend, berührend, auch gelegentlich befremdlich, aber auch anders als „lost in translation“. Feurige Begegnungen in der Kälte, überraschend, ehrlich, ohne Pathos, sehr menschlich und filmisch grossartig umgesetzt. ♦
Juho Kuosmanen (Regie): Compartment No. 6, Spielfilm mit Seidi Haarla und Juri Borissow, 112 Minuten, Finnland 2021
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