Julian Barnes: Der Mann im roten Rock (Biographie)

Biographie oder Kulturgeschichte?

von Isabelle Klein

Ob ei­nem die­ses Werk, das si­cher­lich gut ge­schrie­ben und elo­quent da­her kommt, nun ge­fällt oder doch eher nicht, ist vor al­lem von ei­nem ab­hän­gig: Was er­war­tet man von ei­nem Buch, des­sen Haupt­au­gen­merk “Der Mann im ro­ten Rock”, sprich – er­war­tungs­ge­mäß mehr oder we­ni­ger – eine Bio­gra­phie sein soll­te? Die­se Fra­ge soll­te man sich im Vor­feld bes­ser stellen.

Für mich war qua­si selbst­er­klä­rend: Ich lese hier eine geist­rei­che Bio­gra­phie, de­ren Ziel es ist, sich Dr. Sa­mu­el Poz­zi, ei­nem zeit­ge­nös­si­schen Star an­zu­nä­hern. Sel­bi­gen also in den Mit­tel­punkt der Be­trach­tung der rund 300 Sei­ten star­ken Lek­tü­re ge­stellt zu sehen.
Weit ge­fehlt – ob nun mei­ne Er­war­tung oder der Auf­bau da­für ver­ant­wort­lich ist, sei dahingestellt.

Literaturwissenschaftliches Geflecht

Klar ist nur, dass sich Ju­li­an Bar­nes, zu­min­dest für mei­nen Le­se­ge­schmack, ver­ga­lop­piert. Wäh­rend man war­tet, mehr über den Mann im ro­ten Rock, sein Le­ben, sein Wir­ken, sein In­ne­res und sei­ne Le­bens­sta­tio­nen zu er­fah­ren, wird man zu­nächst erst ein­mal recht un­ver­mit­telt in ei­nen wil­den Ge­dan­ken­fluss rund um zeit­ge­nös­si­sche Skand­al­li­te­ra­tur (Hys­mans “A Re­bours”, zu Deutsch: “Ge­gen den Strich”) ge­wor­fen. Hier wird die fik­tio­na­le Fi­gur des Jean Flo­res­sas des Es­se­in­tes dem Gra­fen de Mon­tes­quiou nach­emp­fun­den, die­ser ist wie­der­um ein gu­ter Freund Pozzis.

Und so be­fin­den wir uns mit­ten in ei­nem Belle-Epoque’schen und li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Ge­flecht, das über den Ka­nal schwappt und ger­ne und un­er­hört oft, zu­min­dest für mein Emp­fin­den, über des Es­se­in­tes und sei­ne Um­set­zung in Os­car Wil­des “Bild­nis des Do­ri­an Gray” schwa­dro­niert. Und sich dar­in aus­ufernd und la­men­to­ar­tig ver­liert. Klatsch, v.a. der se­xu­el­len Art – De­ka­denz, Du­el­le und Dan­dy­tum sind Programm!

Simples Aneinanderreihen von Belanglosigkeiten

Legendärer Pariser Gynäkologe, Chirurg, Neurolog und Anthropolog: Dr. Samuel Jean Pozzi
Le­gen­dä­rer Pa­ri­ser Gy­nä­ko­lo­ge, Chir­urg, Neu­ro­log und An­thro­po­log: Dr. Sa­mu­el Jean Poz­zi (1846-1918)

Er­war­ten Sie, sich bei all dem Poz­zi auch nur an­satz­wei­se mal über meh­re­re Sei­ten an­zu­nä­hern? Fehl­an­zei­ge. Sel­bi­ges ge­schieht auf ge­lun­ge­ne Art und Wei­se über das Auf­zäh­len be­lang­lo­ser Tat­sa­chen (Ehe, Be­trug an sel­bi­ger) hin­aus erst im letz­ten Drit­tel durch die Be­trach­tung der Ta­ge­buch­ein­trä­ge sei­ner Toch­ter Char­lot­te (wo­bei der Wahr­heits­ge­halt frag­lich scheint).
An­sons­ten bleibt das Gan­ze, was es ist – ein Ta­bleau vi­vant, ein An­ein­an­der­rei­hen von al­lem, was Rang und Na­men in der Bel­le Epo­que hat, zu bei­den Sei­ten des Ka­nals. Na­me­drop­ping par ex­cel­lence, und zwar ein wüs­tes. Und wie­der bleibt die Fra­ge: Soll­te man nicht eine be­son­de­re Be­zie­hung zu dem Su­jet herstellen?
Soll­te man sich Sar­gents Dar­stel­lung als auch sei­nem Werk nicht ge­nau­er an­nä­hern, als nur Bil­der über 300 Sei­ten an­ein­an­der­zu­rei­hen? Und süf­fi­sant von ro­ten Kor­deln als Zei­chen ei­nes ge­wiss be­ein­dru­cken­den Kör­per­teils ei­nes Stie­res zu schwadronieren?

Ohne Punkt und Komma

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Und all das dann auch noch ohne Punkt und Kom­ma. Soll hei­ßen, das Buch weist kei­ner­lei er­kenn­ba­re Glie­de­rung und Struk­tur auf. Ka­pi­tel? Wer braucht das bei so viel Ex­per­ti­se? Quel­len­nach­wei­se? Dito. Zi­ta­te wer­den gleich­falls nicht be­legt. Eine Art Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis fin­det man nur hin­ten in Form von Li­te­ra­tur­hin­wei­sen zur deut­schen Aus­ga­be – ganz und gar nicht zu­frie­den­stel­lend für mei­nen Geschmack.
Bei­spiels­wei­se hät­te ich auf Sei­te 51, wenn Bar­nes auf Queen Vic­to­ri­as “treue Wit­wen­schaft” ver­weist, als Fan Vik­to­ria­ni­scher Ge­schich­te ger­ne ei­nen Be­leg. Denn so­wohl zu Schul­zei­ten als auch bei wei­ter­füh­ren­der Lek­tü­re habe ich ge­lernt, dass Lyt­ton Stra­cheys erz­kon­ser­va­ti­ves Bild der treu­en Wit­we eben schon lan­ge wi­der­legt ist.

Tratsch und Klatsch der Belle Epoque

Eine Bio­gra­phie ist eine An­samm­lung von Lö­chern, die mit Bind­fä­den zu­sam­men­ge­hal­ten wer­den, und das gilt nir­gends mehr als beim Sex- und Lie­bes­le­ben”, so Bar­nes. Vor dem Hin­ter­grund der Tat­sa­che, dass zu Poz­zis Le­bens­en­de sei­ne ge­trennt le­ben­de Ehe­frau und sei­ne Toch­ter alle pri­va­ten Zeug­nis­se ver­nich­tet ha­ben, die ei­nen Ein­blick ge­ge­ben hät­ten, ist es na­he­zu un­mög­lich, ein tief­schür­fen­des Bild von Poz­zis See­len­le­ben zu zeich­nen. Und doch bleibt der Au­tor zu sehr sei­nen Ex­kur­sen ver­haf­tet. Erst am Ende be­schreibt er, was für ihn den Reiz des Su­jets Poz­zi ausmachte.

Karikatur von Adrien Barrère - Mitglieder der Pariser Medizinischen Fakultät 1904 (7. von links S. Pozzi) - Glarean Magazin
Ka­ri­ka­tur von Adri­en Bar­rè­re: Mit­glie­der der Pa­ri­ser Me­di­zi­ni­schen Fa­kul­tät 1904 (7. von links S. Pozzi)

Dies ver­söhnt et­was und öff­net im Nach­wort den Blick auf ei­nen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Mann, der in heu­ti­gen Zei­ten des Na­tio­na­lis­mus die­sen da­mals zu über­win­den ver­sucht hat. Et­was zu fein nu­an­ciert und wäh­rend der Lek­tü­re nur zu er­ah­nen, hät­te es mehr in Wor­te ge­fasst wer­den müs­sen. Die per­sön­li­che Ver­bin­dung zu Poz­zi bleibt so im Un­kla­ren. Wenn­gleich ober­fläch­lich ei­ni­ges von sei­nem v. a. be­ruf­li­chen Wir­ken und Wer­de­gang na­tür­lich ab­ge­hakt wird.
Im­mer wenn man an­satz­wei­se den Ein­druck hat, Poz­zi ir­gend­wie fas­sen zu kön­nen, ent­glei­tet er wie­der ins Di­ckicht der vie­len be­lang­lo­sen Fak­ten, die in die­sem Um­fang, in die­sem Werk, so nicht ge­braucht wer­den. Krankt die­ses Werk an ei­ner ge­wis­sen Selbst­ver­liebt­heit in­fol­ge über­zo­ge­ner Selbst­dar­stel­lung des Autors?

Ein Meister der Ironie

Trotz ver­söhn­li­cher No­ten ge­gen Ende bleibt ein scha­ler Nach­ge­schmack. Hät­te ich eine Mo­no­gra­phie über Os­car Wil­des Do­ri­an Gray und die Fra­ge le­sen wol­len, ob dies nun eine ab­kup­fer­te Va­ri­an­te von Hys­mans “Ge­gen den Strich” ist, hät­te ich eben nicht zu “Der Mann im ro­ten Rock” ge­grif­fen. Hät­te mich die Bel­le Epo­que in ers­ter Li­nie mit all ih­rem Glanz, ih­rem Klatsch, ih­ren se­xu­el­len Aus­schwei­fun­gen, ih­rem Dan­dy­tum und all ih­ren il­lus­tren Na­men ge­reizt, hät­te ich ei­nen Bild­band gewählt.

Julian Barnes - Schriftsteller - Glarean Magazin
Ju­li­an Bar­nes (*1946)

Si­cher­lich weiß Ju­li­an Bar­nes, wor­über er schreibt, und er ist ein Meis­ter der Iro­nie und der un­ter­halt­sa­men Sei­ten­hie­be – doch letzt­lich hat er, so wie er die­ses Buch kon­zi­piert, für mich das Ziel ver­fehlt, dem Le­ser die il­lus­tre Ge­stalt des Dr. Sa­mu­el Poz­zi na­he­zu­brin­gen. Und so haucht auch un­ser Star sein Le­ben wie vie­le an­de­re als Fol­ge ei­nes ge­glück­ten At­ten­tats oder miss­lun­ge­nen Du­ells aus.

Zu viel zu un­struk­tu­riert in zu we­ni­ge Sei­ten ge­packt – so das Fa­zit. Eine ver­wir­ren­de, da ge­dank­lich nicht im­mer nach­voll­zieh­ba­re Lek­tü­re, die meist zäh mä­an­dert, um dann wie­der wüst aus­zu­schla­gen. Letzt­lich eine Fra­ge der Er­war­tung, die der Le­ser an die­ses Buch stellt. Für mich ein er­mü­den­des Un­ter­fan­gen, das nur zu sehr zum Quer­le­sen anregt.

Zur deut­schen Aus­ga­be: Kie­pen­hau­er & Witsch gibt ein hoch­wer­tig auf­ge­mach­tes Buch her­aus – dem nur ei­nes fehlt: ein ro­tes Lesezeichen. ♦

Ju­li­an Bar­nes: Der Mann im ro­ten Rock, Bio­gra­phie, 298 Sei­ten, Ver­lag Kie­pen­hau­er & Witsch, ISBN 978-3-462-05476-7

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Bio­gra­phien auch über den Arzt Al­bert Schweit­zer von Claus Eu­rich: Ra­di­ka­le Liebe


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