Henning Boëtius: Der weisse Abgrund (Heinrich-Heine-Roman)

Glanz und Elend eines Dichters

von Christian Busch

Pa­ris. Ein ei­si­ger Ja­nu­ar­tag des Jah­res 1855. Der im Exil le­ben­de Li­te­rat Hein­rich Hei­ne gibt sei­nem stets mit ei­nem Hum­mer an der Lei­ne wan­deln­den Dich­ter­kol­le­gen Gé­rard de Ner­val fünf Francs und bit­tet ihn, am Quai des Gesvres nebst ei­ner Fla­sche Chab­lis und ei­ner Scha­le Scha­lot­ten­ra­gout zwei Dut­zend Aus­tern zu be­sor­gen. Bei­de sind un­heil­bar krank, be­reits vom Tode ge­zeich­net. – So skiz­ziert im Ka­pi­tel “Die Hen­kers­mahl­zeit” der Schrift­stel­ler Hen­ning Boë­ti­us in sei­nem gran­dio­sen neu­en Ro­man “Der weis­se Ab­grund” die letz­ten Le­bens­jah­re des deut­schen Dich­ter­fürs­ten Hein­rich Hei­ne nach.

Henning Boetius - Der weisse Abgrund - Ein Heinrich-Heine-Roman - BTB VerlagNer­val lebt und schläft un­ter Brü­cken, und Hei­nes nur noch 30 Kilo wie­gen­der Kör­per ist, von Krämp­fen ge­plagt, zu schwach, um noch ein­mal ans Meer rei­sen zu kön­nen. Das Rau­schen des Ver­kehrs auf der Bal­kon­brüs­tung sei­ner Woh­nung in der Rue Ma­tignon in der Nähe der Champs-Ely­sées muss ihm das Mee­res­rau­schen er­set­zen. Am Abend fin­det Mat­hil­de ih­ren Hen­ri in der Pfüt­ze sei­nes Er­bro­che­nen. “Ich war am Meer”, ächzt der Kran­ke. Sein Arzt Dr. Gru­by flösst ihm ei­nen Can­na­bis­ex­trakt ein und über­bringt ihm die Nach­richt vom Tod sei­nes Freun­des Ner­val, der sich am Git­ter ei­nes Ab­was­ser­ka­nals an der Rue de la Vi­eil­le Lan­ter­ne auf­ge­hängt hat.

Faszinierendes Panorama der Pariser Künstlerwelt

Die­se kur­ze Zu­sam­men­fas­sung des be­reits er­wähn­ten Buch­ka­pi­tels um­reisst nur eine von 24 stil­si­cher zu­sam­men­ge­füg­ten Epi­so­den in Hen­ning Boë­ti­us’ neu­em Ro­man, in dem der nicht nur für sei­ne her­vor­ra­gen­den bel­le­tris­ti­schen Bio­gra­phien (Gün­ter, Lenz, Lich­ten­berg und Rim­baud) be­kann­te Au­tor ein ein­zig­ar­ti­ges Por­trät der letz­ten Le­bens­jah­re des Hein­rich Hei­ne zeich­net, ein­ge­bet­tet in ein fas­zi­nie­ren­des Pan­ora­ma der Seine-Metropole.

Heinrich Heine - Exil Paris - Rue de Faubourg-Poissonnière 46 (heute 72) - Glarean Magazin
Hein­rich Heine’s Pa­ri­ser Exil-Adres­se Rue de Fau­bourg-Pois­son­niè­re 46 (heu­te 72), wo er fünf Jah­re lang mit sei­ner Frau Mat­hil­de Mi­rat wohnte

Boë­ti­us er­weist sich dar­in als ein klu­ger, prä­zi­ser Be­ob­ach­ter, ein kennt­nis­reich aus ei­nem brei­ten kul­tu­rel­len Fun­dus schöp­fen­der Er­zäh­ler, der Hei­nes letz­ten Jah­re im fran­zö­si­schen Exil un­mit­tel­bar zum wie­der zum Le­ben er­weckt. Wir er­le­ben di­rekt die zwi­schen ho­hem Kunst­ide­al und fri­vo­ler Ba­na­li­tät zer­ris­se­ne Pa­ri­ser Künst­ler­welt (u.a. mit Gust­ave Flau­bert, der an ei­nem Buch über die mensch­li­che Dumm­heit ar­bei­tet), in die sich Hei­ne naht­los ein­zu­fü­gen scheint, wenn er, vom Tode und ei­nem aus­schwei­fen­den Le­ben ge­zeich­net, bis zu­letzt an sei­nem Opus ma­gnum, den “Me­moi­ren” arbeitet.

Überlebenskampf einer Künstlerseele

Der weis­se Ab­grund” schil­dert den tra­gi­schen Über­le­bens­kampf ei­ner sen­si­blen Künst­ler­see­le, die längst an den har­ten Wirk­lich­kei­ten des un­barm­her­zi­gen Le­bens in der Frem­de ge­reift ist, nicht ohne ih­ren Tri­but an die grau­sa­men Rea­li­tä­ten des li­te­ra­ri­schen Mark­tes und das Le­ben in der Frem­de be­zahlt zu ha­ben. Es sind Hei­nes an Bal­zacs mah­nen­de “Il­lu­si­ons per­dues” – Glanz und Elend ei­ner iro­nisch ge­bro­che­nen, ro­man­ti­schen See­le, die das Le­ben se­ziert und ge­nos­sen hat und dem Tod ins Auge blickt, dem “weis­sen Ab­grund”. Rück­blick und Por­trät ei­nes Le­be­manns, der – zier­lich ge­baut und zu­gleich mus­ku­lös, mit sei­nen wei­chen, hell­brau­nen Haa­ren, sei­ner Männ­lich­keit von kind­li­cher Gra­zie – den Da­men ge­fiel und bei den Dir­nen so­gar müt­ter­li­che Ge­füh­le erweckt.

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So steht der Ro­man mit­ten im Pa­ris des 19. Jahr­hun­derts und sei­nen vor dem Hin­ter­grund von In­dus­tria­li­sie­rung und Mo­der­ni­sie­rung (Ba­ron Hauss­manns Um­ge­stal­tung der Pa­ri­ser Stras­sen­zü­ge) um den Rea­lis­mus krei­sen­den künst­le­ri­schen Fra­gen, die sich auch in der Ma­le­rei (Cour­bet) und Mu­sik (Cho­pin, Ber­li­oz) stel­len, ein­ge­bet­tet in das amü­sant, tief­grün­dig, aber auch au­gen­zwin­kernd aus­ge­brei­te­te Lie­bes­le­ben der zwi­schen Pro­sti­tu­ti­on und “amour fou” pen­deln­den Pa­ri­ser Bohème.

Soirées und Matinées zum Leben erweckt

Boë­ti­us er­weckt die Soi­rées und Ma­ti­nées der il­lus­tren Ge­sell­schaft zum Le­ben, skiz­ziert ihre Gar­de­ro­be und re­zi­tiert die gross­ar­ti­gen Vor­trä­ge der mal mehr, mal we­ni­ger tra­gisch ka­ri­kier­ten Künst­ler­exis­ten­zen (u.a. Bau­de­lai­re). Das ist das ein­fach gran­di­os, ne­ben­bei tief­sin­nig und doch kurz­wei­lig. Und so ne­ben­bei er­hält der Le­ser ei­nen er­staun­li­chen Ein­blick in die für un­se­re Zeit äus­serst be­fremd­li­chen, qua­si mit­tel­al­ter­lich an­mu­ten­den Me­tho­den und be­dau­er­li­chen, weil be­grenz­ten Kennt­nis­se der Me­di­zin. Da wer­den Abs­zes­se auf­ge­schnit­ten, Kör­per mit Mor­phi­um ein­ge­rie­ben, Au­gen­lei­den mit Blut­egeln be­han­delt. Und: Starb Hei­ne nicht an ei­ner Blei­ver­gif­tung? Fiel er ei­nem Kom­plott, das an sei­nen Me­moi­ren in­ter­es­siert war, zum Opfer?

Geniale Verknüpfung von Werk und Zeit

Heinrich Heine - Zeitgenössische Zeichnung - Glarean Magazin
Dich­ter, Spöt­ter, Künst­ler, Bo­hè­mi­en, Ge­nie: Hein­rich Hei­ne (in ei­ner zeit­ge­nös­si­schen Zeicnnung)

Hö­he­punkt ist je­doch zwei­fel­los das Ka­pi­tel von Hein­rich Hei­nes Ab­le­ben. Das darf man schon ge­ni­al nen­nen, wenn alle Haupt- und Rand­fi­gu­ren sei­ner Vita wie ein Pan­op­ti­kum sei­nes Le­bens auf­mar­schie­ren, qua­si als Spie­gel des Le­bens fun­gie­ren und dem Dich­ter in ei­ner ge­ahn­ten Auf­war­tung die letz­te zwei­fel­haf­te Ehre er­wei­sen. Das muss man ge­le­sen haben.

Hen­ning Boë­ti­us‘ Hei­ne-Ro­man ist ein rund­um ge­lun­ge­ner Ver­such, das schil­lern­de Le­ben die­ses Dich­ters und Kri­ti­kers des Spies­ser­tums – in ge­nia­ler Ver­knüp­fung mit sei­nem Werk und sei­ner Zeit – von vie­len Sei­ten zu be­leuch­ten und aus sei­ner Ma­trat­zen­gruft wie­der­auf­er­ste­hen zu las­sen. Wäh­rend vie­le sol­cher Ver­su­che oft in epi­scher Brei­te ver­eb­ben, ge­lingt dem er­fah­re­nen Au­tor eine sehr kon­zen­trier­te und amü­san­te Dar­stel­lung auf rund 190 Sei­ten. Da­von hät­te man ger­ne noch mehr ge­le­sen. Grossartig! ♦

Hen­ning Boë­ti­us: Der weis­se Ab­grund – Ein Hein­rich-Hei­ne-Ro­man, 192 Sei­ten, BTB-Ver­lag, ISBN 978-3-442-75076-4

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Hein­rich Hei­ne und die “Deut­sche See­le” auch über Ger­hard Ober­lin: Deut­sche Seele

Ein Kommentar

  1. Vie­len Dank für die­se Re­zen­si­on. Das klingt sehr viel­ver­spre­chend. Bis­lang war mei­ne Lieb­lings­lek­tü­re über ei­nen mei­ner Lieb­lings­dich­ter die Bio­gra­phie von Lud­wig Mar­cu­se. Dies ist also eine schö­ne Leseanregung.

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