Gerhard Oberlin: Deutsche Seele – Ein Psychogramm

Zum Teufel mit Melancholie und Sehnsucht

von Christian Busch

Ho­her Schie­fer­fels in grün be­wach­se­ner, ro­man­ti­scher Wein- und Bur­gen­land­schaft, grau-weiss ge­bleich­te Wol­ken am be­deck­ten Him­mel, tief un­ten rauscht Va­ter Rhein, plät­schern­de Wel­len, ab­grün­di­ge Stru­del, das Gan­ze in dämm­ri­ges Abend­licht ge­taucht – das be­rühm­te Lo­re­ley-Ge­mäl­de des rus­si­schen Ma­lers Ni­co­lai von Astu­din als Buch-Co­ver kann durch­aus zur Lek­tü­re von Ger­hard Ober­lins jüngst er­schie­ne­nem Psy­cho­gramm “Ich weiss nicht, was soll es be­deu­ten” der deut­schen See­le ver­füh­ren. Es il­lus­triert we­sent­li­che Züge der deut­schen See­le: Sehn­sucht, Me­lan­cho­lie und die Lust am Untergang.

Gerhard Oberlin - Ich weiss nicht was soll es bedeuten - Deutsche Seele - Ein Psychogramm - Cover - MagazinEin Le­se­buch über die deut­sche See­le könn­te man­chem als red­un­dan­ter Ana­chro­nis­mus er­schei­nen, le­ben wir doch längst in ei­ner di­gi­tal-me­dia­len, glo­bal ver­netz­ten Ge­sell­schaft, in der die See­le nur noch als kon­sum­tech­nisch re­le­van­tes Ziel­ob­jekt von In­ter­es­se zu sein scheint. Wo darf man das Deut­sche und wo­mög­lich “rein deut­sche” We­sen su­chen? Wohl gar in ei­ner mul­ti­kul­tu­rel­len Ge­sell­schaft, wel­che, durch­setzt von meh­re­ren Ein­wan­de­rer­ge­nera­tio­nen, kaum noch et­was mit dem einst be­rüch­tig­ten deut­schen Volk ge­mein hat? “Fack ju Göh­te” oder was? Oder in den grö­len­den “Schland”-Schlachtgesängen deut­scher Fuss­ball­fans, die als ein­zi­ge in schwarz-rot-gol­de­ner Bier­se­lig­keit dem Na­tio­nal­stolz frö­nen? Und doch hof­fent­lich nicht in den neo­na­zis­ti­schen Pa­ro­len al­ter­na­ti­ver Reichsbürger…

Fehlende Bewusstseinsträger

Philosoph Theodor W. Adorno ("Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch") versus Lyriker Paul Celan ("Der Tod ist ein Meister aus Deutschland")
Phi­lo­soph Theo­dor W. Ador­no (“Nach Ausch­witz ein Ge­dicht zu schrei­ben, ist bar­ba­risch”) ver­sus Ly­ri­ker Paul Ce­lan (“Der Tod ist ein Meis­ter aus Deutschland”)

Viel­leicht ist die Fra­ge nach der deut­schen See­le des­halb ge­ra­de so wich­tig, weil es ihr im me­dia­len Ein­heits­brei an Be­wusst­seins­trä­gern fehlt. Denn Paul Cel­ans Fest­stel­lung “Der Tod ist ein Meis­ter aus Deutsch­land” und Ador­nos la­pi­da­res Fa­zit, dass man nach Ausch­witz kein Ge­dicht mehr schrei­ben kön­ne, läu­te­ten zwar nicht das Ende der Aus­ein­an­der­set­zung mit der deut­schen See­le ein, mar­kie­ren aber ge­wich­ti­ge Brems­klöt­ze: Die Stun­de Null war ge­fragt – und mit ihr eine gan­ze Kul­tur­na­ti­on vor der Ver­nich­tung. Ganz recht stell­te Thea Dorn 2011 in Be­zug auf die deut­sche See­le in der ZEIT fest: “Wir ha­ben sie ver­leug­net und ver­lo­ren. Aber ohne sie sind wir hilf­los. Zeit, sie wie­der zum Le­ben zu erwecken.”

Auch des­halb wird, wer sich auf Ober­lins psy­cho­ana­ly­tisch be­grün­de­ten, li­te­ra­risch be­le­se­nen, kul­tur­ge­schicht­lich phä­no­me­na­len und wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Weg be­gibt, es nicht be­reu­en. Denn was – um nur ei­ni­ge zu nen­nen – bei­spiels­wei­se Al­brecht Dü­rer, Mar­tin Lu­ther, Wil­helm Mül­ler, Goe­the und Hei­ne bis hin zu Leips “Lili Mar­leen” ver­bin­det, muss für je­den Deut­schen, dem sei­ne See­le – in­di­vi­du­ell oder auch na­tio­nal-kul­tu­rell – wich­tig ist, von In­ter­es­se sein. Hier ist Ober­lin ein glü­hen­der Ver­fech­ter des see­li­schen Be­wusst­seins, das der see­len­lo­sen “Ge­müts­be­sof­fen­heit” (Nietz­sche) den Kampf ansagt.

Zerrissene deutsche Seele

Reise durch die deutsche Seelen-Landschaft von Albrecht Dürer ("Melancholia") - über Martin Luther ("Eine fest Burg ist unser Gott") bis zu Helene Fischer ("Atemlos")
Rei­se durch die deut­sche See­len-Land­schaft von Al­brecht Dü­rer (“Me­lan­cho­lia”) – über Mar­tin Lu­ther (“Eine fest Burg ist un­ser Gott”) bis zu He­le­ne Fi­scher (“Atem­los”)

Denn zwei­fel­los ist die deut­sche See­le in ih­rer Zer­ris­sen­heit Schau­platz wi­der­stre­ben­der Kräf­te, wie Fried­rich Höl­der­lins ele­gi­scher Cha­rak­ter Hy­pe­ri­on es wohl am schärfs­ten und ein­dring­lichs­ten for­mu­liert hat: “Bar­ba­ren von Al­ters her, durch Fleiss und Wis­sen­schaft und selbst durch Re­li­gi­on bar­ba­ri­scher ge­wor­den, tief­un­fä­hig je­des gött­li­chen Ge­fühls, ver­dor­ben bis ins Mark […], in je­dem Grad der Über­trei­bung und der Ärm­lich­keit be­lei­di­gend für jede gut­ge­ar­te­te See­le, dumpf und har­mo­nie­los, wie die Scher­ben ei­nes weg­ge­wor­fe­nen Ge­fäs­ses – […]. Es ist ein har­tes Wort, und den­noch sag’ ich’s, weil es Wahr­heit ist: ich kann kein Volk mir den­ken, das zer­riss­ner wäre, wie die Deutschen.”

Und so folgt man Ober­lin ger­ne auf sei­ner li­te­ra­ri­schen Rei­se durch die deut­sche See­len- und Kul­tur­land­schaft, die mit Al­brecht Dü­rers Kup­fer­stich “Me­lan­cho­lia I” (1514) ein­setzt. Vom Stre­ben des Un­voll­kom­me­nen nach Voll­kom­men­heit ist da zu le­sen, von Kunst- und Ar­beits­per­fek­tio­nis­mus ver­sus Er­kennt­nis­stre­ben. Und wir stau­nen, dass wir so­fort in me­di­as res der Tu­gen­den und Un­tu­gen­den des blon­den Ger­ma­nen ge­lan­gen, der mit akri­bi­scher Gründ­lich­keit und Dis­zi­plin nach ho­hem Ide­al strebt und des­halb in des “Teu­fels Kü­che” (nicht erst Faust) ge­rät. Wir fol­gen Ober­lin u.a. über Lu­thers “Fes­te Burg”, Goe­thes “Faust” und Wil­helm Mül­lers “Lin­den­baum”, ohne Erich Käst­ners “Sach­li­che Ro­man­ze” aus­sen vor zu las­sen, bis hin zu He­le­ne Fischer.

Vergangenheitslastiges Psychogramm

Seicht-verkitschte Vertonung von Heinrich Heine's "Ich weiss nicht was solles bedeuten" durch Friedrich Silcher
Seicht-ver­kit­schen­de Ver­to­nung durch Fried­rich Sil­cher von Hein­rich Heine’s ab­grün­di­gem “Ich weiss nicht was soll es bedeuten”

Ei­nen Hö­he­punkt stellt das Ka­pi­tel über Hei­nes be­rühm­tes und ti­tel­ge­ben­des Ge­dicht “Ich weiss nicht, was soll es be­deu­ten” dar, das mit Fried­rich Sil­ch­ers eben seich­ter und span­nungs­lo­ser (“Je­der­manns-Sen­ti­men­ta­li­tät”) Ver­to­nung gna­den­los ab­rech­net. Es geht Ober­lin eben nicht um ober­fläch­li­che Ver­drän­gungs­ge­müt­lich­keit, son­dern um das Be­wusst­sein ei­nes ab­grün­di­gen, exis­ten­ti­el­len Di­lem­mas un­er­füll­ter Lie­be, das er so­wohl my­tho­lo­gisch kennt­nis­reich wie auch in Hei­nes Bio­gra­phie zu or­ten weiss.
Schwä­chen zei­gen sich eher am Ende des zwei­fel­los ver­gan­gen­heits­las­ti­gen Psy­cho­gramms, wenn der Au­tor sich, statt sich der Li­te­ra­tur des 20. Jahr­hun­dert zu wid­men, von der Li­te­ra­tur ab- und der Kul­tur des deut­schen Schla­gers und der deut­schen Fuss­ball­fan-Kul­tur zuwendet.

FAZIT: Ger­hard Ober­lins kul­tur­phi­lo­so­phi­scher Dis­kus­si­ons­bei­trag “Ich weiss nicht was soll es be­deu­ten” ist eine wich­ti­ge Ver­öf­fent­li­chung zu ei­nem wich­ti­gen The­ma. Sein Buch ist höchst le­sens­wert, weil es er­staun­li­che, be­zie­hungs­rei­che Er­kennt­nis­se über das We­sen des Deut­schen in kon­zen­trier­ter und zu­ge­spitz­ter Form bietet.

Spä­tes­tens bei der Be­haup­tung, der Frau­en­fuss­ball sei in punk­to “Dra­ma­tik, Kom­bi­na­ti­ons­fluss, Tak­tik…” dem Spiel der männ­li­chen Mil­lio­nä­re über­le­gen, muss an der Ob­jek­ti­vi­tät des Au­tors ge­zwei­felt wer­den – oder ist es nur feh­len­der Fuss­ball-Sach­ver­stand? Zwar ana­ly­siert Ober­lin auch hier scho­nungs­los gro­tesk an­mu­ten­de Miss­ver­hält­nis­se in den “fa­schis­ti­schen” Struk­tu­ren ei­nes ge­sell­schaft­li­chen Mil­lio­nen­ge­schäf­tes. Den Le­ser lässt er je­doch nach so viel Lu­ther, Hei­ne und Goe­the et­was rat­los zu­rück, der eine Ver­knüp­fung, Zu­sam­men­fas­sung, ein Fa­zit oder we­nigs­tens ei­nen Aus­blick ver­misst. Eine deut­sches Ende in Melancholie?

Das Deutsche zwischen Barbarei und Genialität

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Ger­hard Ober­lins kul­tur­phi­lo­so­phi­scher Dis­kus­si­ons­bei­trag ist – trotz der an­ge­spro­che­nen Schwä­chen am Ende – eine wich­ti­ge Ver­öf­fent­li­chung zu ei­nem wich­ti­gen The­ma. Sein Buch ist da­bei höchst le­sens­wert, weil es er­staun­li­che, be­zie­hungs­rei­che Er­kennt­nis­se über das We­sen des Deut­schen in kon­zen­trier­ter und zu­ge­spitz­ter Form bie­tet. Ohne ein end­gül­ti­ges und fer­ti­ges Bild der deut­schen See­le zeich­nen zu wol­len, ge­lingt ihm eine klu­ge An­nä­he­rung an den am­bi­va­len­ten, zwi­schen Bar­ba­rei und Ge­nia­li­tät fa­cet­ten­reich schim­mern­den Deut­schen. Da­mit legt er ein un­ge­heu­res see­li­sches Po­ten­ti­al frei, das nicht zu nut­zen un­ver­zeih­lich wäre. In Zei­ten der me­dia­len Gleich­schal­tung und Ni­vel­lie­rung wird so man­cher die­sen Text zu sei­ner Ver­ge­wis­se­rung ge­braucht haben. ♦

Ger­hard Ober­lin: Ich weiss nicht, was soll es be­deu­ten – Deut­sche See­le – Ein Psy­cho­gramm, 168 Sei­ten, Ver­lag Kö­nigs­hau­sen & Neu­mann, ISBN 9783826067716

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Kul­tur­ge­schich­te auch über Deut­sche Ge­sell­schaft: Brau­chen wir eine Leitkultur?

… so­wie über Ales­san­dro Ba­ric­co: Die Bar­ba­ren – Über die Mu­ta­ti­on der Kultur

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