Inhaltsverzeichnis
Ein Mann geht durch die Wand
von Christian Busch
Der neue Roman von Gerwin van der Werf “Der Anhalter” nimmt ein beliebtes und unerschöpfliches Motiv der Literatur auf: Das Wandern und Reisen. Allerdings entkleidet der Autor seine Protagonisten allen romantisierend-verklärten “Fernwehs”, das Buch hält teils psychologisch schwer verdauliche Kost parat.
Schon in der Antike brach Homers Odysseus voller Tatendrank von Ithaka zu seinen Irrfahrten auf, um vieler Menschen Städte zu sehen, von deren Sitten zu lernen, seine Seele zu retten und dabei auch viele Leiden zu erdulden. Im Mittelalter wurde in entfernte Wallfahrtsorte gepilgert, um Seelenheil und Weltkenntnis zu erlangen. Der kleine Landadelige Alonso Quijano beschloss als fahrender Ritter Ruhm zu erwerben und in die Welt hinaus zu ziehen, um als “Ritter von der traurigen Gestalt” zurückzukehren. Die Romantiker zog es – von Goethes “italienischer Reise”, der glücklichsten Zeit seines Lebens, inspiriert – in den Süden, um dort über die Befreiung ihrer Seele die Vervollkommnung ihrer Kunst zu erlangen, wogegen Thomas Manns Gustav von Aschenbach in Venedig den Tod fand. Kurzum: Das Motiv des Wanderns und Reisens gehört zu den beliebten und unerschöpflichen der Literatur, denn wie Matthias Claudius schon vielsagend besang: “Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen”.
Selbstzweifel und Ohnmacht

Auf solchen Spuren wandelt auch der neue Roman “Der Anhalter” des niederländischen Autors Gerwin van der Werf, indem dieser seinen Protagonisten Tiddo in den höchsten Norden – die graue, karge, von Vulkankratern und Gletscherzungen durchzogene Mondlandschaft Islands – schickt. So wie seine namhaften Vorbilder verspricht sich auch Tiddo, der mit seiner Frau Isa und seinem Sohn Jonathan in einem Wohnmobil auf Tour geht, von der Reise viel; es soll schliesslich die Reise ihres Lebens werden. Es gilt seine in einer Krise befindliche Ehe zu retten und wieder einen Zugang zu seinem Sohn Jonathan zu finden, einem zeichnenden, zum Sonderling heranwachsenden Dreizehnjährigen. Isa, die hübsche, attraktive und erfolgreiche Wissenschaftlerin und Tiddo, nur einer anspruchslosen Bürotätigkeit frönend, haben eine Fehlgeburt ihres zweiten Kindes nicht verarbeiten können und sich auseinandergelebt. Tiddo, der Isa nach wie vor begehrt, quälen Selbstzweifel und Ohnmacht, während ihm seine Familie entgleitet.
Inmitten von Geysiren und Schotterwüsten
Ob die beiden allerdings in der eisigen, unwirtlichen Wildnis des mystischen Island auftauen, erscheint schon zu Beginn fraglich. Zur Beunruhigung trägt auch bei, dass Tiddos Mutter vor und während der Reise telefonisch nicht erreichbar ist. In der aus der Ich-Perspektive Tiddos erzählten Geschichte taucht dann ein junger Anhalter auf. Er heisst Svein, ein nordischer Riese, den, wenn er sich die Strähne aus den blonden Haaren wischt, eine lässige und faszinierende Schönheit auszeichnet, findet Tiddo – und später auch Isa.

Obwohl Svein es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und der Kleinfamilie hie und da lästig wird, gelingt es nicht ihn abzuschütteln, verkörpert er doch in seinem ganzen Wesen das Element des Wegweisers, Initiators und Verführers, das der fast kommunikationslosen Kleinfamilie zu fehlen scheint, sie aber auch in ihren Grundfesten erschüttert. Soweit der vielversprechende, tragfähige und erzählerisch gekonnt in die mystische und rätselhafte Küsten- und Berglandschaft von Geysiren, Seen, Trollen und Stein- und Schotterwüsten eingebettete Plot.
Nicht erbaulich, aber künstlerisch stimmig
Ohne das Ende verraten zu wollen – im Einband findet sich bereits der Hinweis auf Tiddos halsbrecherische Fahrt zum Kratersee Öskjuvatn – muss man festhalten, dass Werfs Roman nicht leicht verdaulich ist und dem Leser so manches Rätsel aufgibt. Hat der Autor seinen Plot bewältigt? Oder hat er – ebenso wie seine Erzählerfigur Tiddo – bereits vor der Reise die Flucht nach vorne angetreten und den Karren – im Stile eines an Egoshooter-Spiele erinnernden Amoklaufes – sprichwörtlich an die Wand gefahren und seine Geschichte wie ein Kartenhaus, quasi als Apotheose des Irrationalen, zusammenfallen lassen? Laufen die Erzählstränge um die Titelfigur Svein, aber auch um die unnahbare, mal alles beherrschende, dann zurückhaltende Isa und den ewig zeichnenden Jonathan – wie die Strassen Islands – ins Leere?
Dies ist für den Leser, der sich an gängigen Reise-Erzählungen orientiert, nicht erbaulich, aber künstlerisch – zwischen Folgerichtigkeit und Willkür pendelnd – durchaus stimmig. Spiegelt sich in Tiddos Griff zur Brechstange die bedingungslose Kapitulation, die gleiche Lust am Untergang wider, die schon dem dekadenten Gustav von Aschenbach in Venedig zum Verhängnis wird?
Gegenentwurf zur romantischen Reiseliteratur
Gerwin van der Werfs Roman “Der Anhalter” kann auf Grund seiner erzählerischen Qualitäten und seines soliden Plots künstlerisch überzeugen. Die Frage, ob er seine Identifikationsfigur Tiddo nicht psychologisch stimmig, sondern marionettenhaft demontiert, darf gestellt werden. In jedem Fall stellt van der Werfs unbedingt lesenswerter Roman einen konsequenten Gegenentwurf zu der Reiseliteratur der romantisch verklärten Italiensehnsucht dar. Tiddo ist ein an Max Frischs Helden (Stiller, homo faber) erinnernder Antiheld, ein männlicher Versager, der, unfähig seine eigene Gefühlswand zu durchbrechen, durch die äusseren Wände geht – und womöglich doch besser nach Italien gefahren wäre. ♦
Gerwin van der Werf: Der Anhalter – Roman, 286 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 9783103974669
Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den Krimi-Roman von Susanne Goga: Der Ballhausmörder