Gerwin van der Werf: Der Anhalter (Roman)

Ein Mann geht durch die Wand

von Christian Busch

Der neue Ro­man von Ger­win van der Werf “Der An­hal­ter” nimmt ein be­lieb­tes und un­er­schöpf­li­ches Mo­tiv der Li­te­ra­tur auf: Das Wan­dern und Rei­sen. Al­ler­dings ent­klei­det der Au­tor sei­ne Prot­ago­nis­ten al­len ro­man­ti­sie­rend-ver­klär­ten “Fern­wehs”, das Buch hält teils psy­cho­lo­gisch schwer ver­dau­li­che Kost parat.

Gerwin van der Werf: Der Anhalter - Roman, 286 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 9783103974669
Ger­win van der Werf: Der An­hal­ter – Ro­man, 286 Sei­ten, S. Fi­scher Ver­lag, ISBN 9783103974669

Schon in der An­ti­ke brach Ho­mers Odys­seus vol­ler Ta­ten­drank von Itha­ka zu sei­nen Irr­fahr­ten auf, um vie­ler Men­schen Städ­te zu se­hen, von de­ren Sit­ten zu ler­nen, sei­ne See­le zu ret­ten und da­bei auch vie­le Lei­den zu er­dul­den. Im Mit­tel­al­ter wur­de in ent­fern­te Wall­fahrts­or­te ge­pil­gert, um See­len­heil und Welt­kennt­nis zu er­lan­gen. Der klei­ne Land­a­de­li­ge Alon­so Qui­ja­no be­schloss als fah­ren­der Rit­ter Ruhm zu er­wer­ben und in die Welt hin­aus zu zie­hen, um als “Rit­ter von der trau­ri­gen Ge­stalt” zu­rück­zu­keh­ren. Die Ro­man­ti­ker zog es – von Goe­thes “ita­lie­ni­scher Rei­se”, der glück­lichs­ten Zeit sei­nes Le­bens, in­spi­riert – in den Sü­den, um dort über die Be­frei­ung ih­rer See­le die Ver­voll­komm­nung ih­rer Kunst zu er­lan­gen, wo­ge­gen Tho­mas Manns Gus­tav von Aschen­bach in Ve­ne­dig den Tod fand. Kurz­um: Das Mo­tiv des Wan­derns und Rei­sens ge­hört zu den be­lieb­ten und un­er­schöpf­li­chen der Li­te­ra­tur, denn wie Mat­thi­as Clau­di­us schon viel­sa­gend be­sang: “Wenn ei­ner eine Rei­se tut, dann kann er was erzählen”.

Selbstzweifel und Ohnmacht

Psychologisch qualitätsvoll erzählend: Der niederländische Autor Gerwin van der Werf (*1969)
Psy­cho­lo­gisch qua­li­täts­voll er­zäh­lend: Der nie­der­län­di­sche Au­tor Ger­win van der Werf (*1969)

Auf sol­chen Spu­ren wan­delt auch der neue Ro­man “Der An­hal­ter” des nie­der­län­di­schen Au­tors Ger­win van der Werf, in­dem die­ser sei­nen Prot­ago­nis­ten Tid­do in den höchs­ten Nor­den – die graue, kar­ge, von Vul­kan­kra­tern und Glet­scher­zun­gen durch­zo­ge­ne Mond­land­schaft Is­lands – schickt. So wie sei­ne nam­haf­ten Vor­bil­der ver­spricht sich auch Tid­do, der mit sei­ner Frau Isa und sei­nem Sohn Jo­na­than in ei­nem Wohn­mo­bil auf Tour geht, von der Rei­se viel; es soll schliess­lich die Rei­se ih­res Le­bens wer­den. Es gilt sei­ne in ei­ner Kri­se be­find­li­che Ehe zu ret­ten und wie­der ei­nen Zu­gang zu sei­nem Sohn Jo­na­than zu fin­den, ei­nem zeich­nen­den, zum Son­der­ling her­an­wach­sen­den Drei­zehn­jäh­ri­gen. Isa, die hüb­sche, at­trak­ti­ve und er­folg­rei­che Wis­sen­schaft­le­rin und Tid­do, nur ei­ner an­spruchs­lo­sen Bü­ro­tä­tig­keit frö­nend, ha­ben eine Fehl­ge­burt ih­res zwei­ten Kin­des nicht ver­ar­bei­ten kön­nen und sich aus­ein­an­der­ge­lebt. Tid­do, der Isa nach wie vor be­gehrt, quä­len Selbst­zwei­fel und Ohn­macht, wäh­rend ihm sei­ne Fa­mi­lie entgleitet.

Inmitten von Geysiren und Schotterwüsten

Ob die bei­den al­ler­dings in der ei­si­gen, un­wirt­li­chen Wild­nis des mys­ti­schen Is­land auf­tau­en, er­scheint schon zu Be­ginn frag­lich. Zur Be­un­ru­hi­gung trägt auch bei, dass Tid­dos Mut­ter vor und wäh­rend der Rei­se te­le­fo­nisch nicht er­reich­bar ist. In der aus der Ich-Per­spek­ti­ve Tid­dos er­zähl­ten Ge­schich­te taucht dann ein jun­ger An­hal­ter auf. Er heisst Sv­ein, ein nor­di­scher Rie­se, den, wenn er sich die Sträh­ne aus den blon­den Haa­ren wischt, eine läs­si­ge und fas­zi­nie­ren­de Schön­heit aus­zeich­net, fin­det Tid­do – und spä­ter auch Isa.

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Mys­ti­sche Küs­ten­land­schaft mit Vul­kan­ge­stein und Glet­scher­zun­gen: Island

Ob­wohl Sv­ein es mit der Wahr­heit nicht so ge­nau nimmt und der Klein­fa­mi­lie hie und da läs­tig wird, ge­lingt es nicht ihn ab­zu­schüt­teln, ver­kör­pert er doch in sei­nem gan­zen We­sen das Ele­ment des Weg­wei­sers, In­itia­tors und Ver­füh­rers, das der fast kom­mu­ni­ka­ti­ons­lo­sen Klein­fa­mi­lie zu feh­len scheint, sie aber auch in ih­ren Grund­fes­ten er­schüt­tert. So­weit der viel­ver­spre­chen­de, trag­fä­hi­ge und er­zäh­le­risch ge­konnt in die mys­ti­sche und rät­sel­haf­te Küs­ten- und Berg­land­schaft von Gey­si­ren, Seen, Trol­len und Stein- und Schot­ter­wüs­ten ein­ge­bet­te­te Plot.

Nicht erbaulich, aber künstlerisch stimmig

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Ohne das Ende ver­ra­ten zu wol­len – im Ein­band fin­det sich be­reits der Hin­weis auf Tid­dos hals­bre­che­ri­sche Fahrt zum Kra­ter­see Öskju­vatn – muss man fest­hal­ten, dass Werfs Ro­man nicht leicht ver­dau­lich ist und dem Le­ser so man­ches Rät­sel auf­gibt. Hat der Au­tor sei­nen Plot be­wäl­tigt? Oder hat er – eben­so wie sei­ne Er­zäh­ler­fi­gur Tid­do – be­reits vor der Rei­se die Flucht nach vor­ne an­ge­tre­ten und den Kar­ren – im Sti­le ei­nes an Ego­shoo­ter-Spie­le er­in­nern­den Amok­lau­fes – sprich­wört­lich an die Wand ge­fah­ren und sei­ne Ge­schich­te wie ein Kar­ten­haus, qua­si als Apo­theo­se des Ir­ra­tio­na­len, zu­sam­men­fal­len las­sen? Lau­fen die Er­zähl­strän­ge um die Ti­tel­fi­gur Sv­ein, aber auch um die un­nah­ba­re, mal al­les be­herr­schen­de, dann zu­rück­hal­ten­de Isa und den ewig zeich­nen­den Jo­na­than – wie die Stras­sen Is­lands – ins Leere?
Dies ist für den Le­ser, der sich an gän­gi­gen Rei­se-Er­zäh­lun­gen ori­en­tiert, nicht er­bau­lich, aber künst­le­risch – zwi­schen Fol­ge­rich­tig­keit und Will­kür pen­delnd – durch­aus stim­mig. Spie­gelt sich in Tid­dos Griff zur Brech­stan­ge die be­din­gungs­lo­se Ka­pi­tu­la­ti­on, die glei­che Lust am Un­ter­gang wi­der, die schon dem de­ka­den­ten Gus­tav von Aschen­bach in Ve­ne­dig zum Ver­häng­nis wird?

Gegenentwurf zur romantischen Reiseliteratur

Ger­win van der Werfs Ro­man “Der An­hal­ter” kann auf Grund sei­ner er­zäh­le­ri­schen Qua­li­tä­ten und sei­nes so­li­den Plots künst­le­risch über­zeu­gen. Die Fra­ge, ob er sei­ne Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur Tid­do nicht psy­cho­lo­gisch stim­mig, son­dern ma­rio­net­ten­haft de­mon­tiert, darf ge­stellt wer­den. In je­dem Fall stellt van der Werfs un­be­dingt le­sens­wer­ter Ro­man ei­nen kon­se­quen­ten Ge­gen­ent­wurf zu der Rei­se­li­te­ra­tur der ro­man­tisch ver­klär­ten Ita­li­en­sehn­sucht dar. Tid­do ist ein an Max Frischs Hel­den (Stil­ler, homo fa­ber) er­in­nern­der An­ti­held, ein männ­li­cher Ver­sa­ger, der, un­fä­hig sei­ne ei­ge­ne Ge­fühls­wand zu durch­bre­chen, durch die äus­se­ren Wän­de geht – und wo­mög­lich doch bes­ser nach Ita­li­en ge­fah­ren wäre. ♦

Ger­win van der Werf: Der An­hal­ter – Ro­man, 286 Sei­ten, S. Fi­scher Ver­lag, ISBN 9783103974669

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