Herta Müller: Niederungen (Prosa)

Skizzen aus einem Banater Dorf

von Gün­ter Nawe

Es ist ein Mi­lieu der Trost­lo­sig­keit, der Hoff­nungs­lo­sig­keit und der exis­ten­ti­el­len Hei­mat­lo­sig­keit, von dem Her­ta Mül­ler, Li­te­ra­tur-No­bel­preis­trä­ge­rin 2009, in dem Band “Nie­de­run­gen” er­zählt. Und es han­delt vom Le­ben in ei­nem un­be­nann­ten Ort im deutsch­spra­chi­gen Ba­nat­schwa­ben – im kom­mu­nis­ti­schen Rumänien.

Herta Müller: Niederungen (Prosa) Hanser VerlagIn ein­dring­li­chen Pro­sa­skiz­zen und Er­zäh­lun­gen schil­dert ein Mäd­chen – Al­ter ego der Au­torin? – ein Dorf­le­ben jen­seits der her­kömm­li­chen Idyl­le. Ar­mut und fast ar­chai­sche Tra­di­tio­nen herr­schen bei den Da­heim­ge­blie­be­nen vor, wäh­rend an­de­re längst das Wei­te ge­sucht ha­ben. Es sind im­mer die­sel­ben Men­schen, de­nen der Le­ser in den Skiz­zen be­geg­net: Mut­ter, Va­ter, das Kind, Gross­mutter, Tan­te, an­de­re Ver­wand­te. Das Ge­sche­hen im Dorf, in den Fa­mi­li­en ist ge­prägt von den All­täg­lich­kei­ten, den so­zia­len und in­di­vi­du­el­len Pro­ble­men, von Angst und dem sto­isch er­tra­ge­nen Ge­fühl der Aus­weg­lo­sig­keit. Und so sit­zen die Frau­en “an den Winternachmittagen…am Fens­ter und stri­cken sich sel­ber hin­ein in ihre Strümp­fe aus krat­zi­ger Wol­le, die im­mer län­ger wer­den und so lang sind wie der Win­ter selbst, die Fer­sen ha­ben Ze­hen, als könn­ten sie von al­lei­ne ge­hen”. Mit Aus­wir­kun­gen bis in den pri­va­ten Be­reich, in das Ge­sche­hen um Lie­be und Hass, Ge­burt und Tod.

Suggestive Prosa mit faszinierenden Bildern

Es ist eine fast sug­ges­ti­ve, auch as­so­zia­ti­ve Pro­sa, die den Le­ser in Bann zieht, mit­nimmt in die Wirk­lich­keit und in Traum­wel­ten von ir­ri­tie­ren­der Art. Ob es “Die Grab­re­de” ist, wäh­rend der eine Ver­ge­wal­ti­gung ima­gi­niert wird, ob es die “Dorf­chro­nik” ist, in der die so­zia­lis­tisch-ge­sell­schaft­li­chen Be­din­gun­gen dar­ge­stellt wer­den. Im­mer sind es fas­zi­nie­ren­de Bil­der ei­ner fast un­wirk­li­chen Wirk­lich­keit, mit de­nen uns die Au­torin konfrontiert.
An die­ser Stel­le spie­gelt Li­te­ra­tur auf grau­sa­me Art und Wei­se das Le­ben. Auch Her­ta Mül­lers Le­ben. Denn in die­sen Schil­de­run­gen rie­fen die kom­mu­nis­ti­schen Macht­ha­ber Ru­mä­ni­ens den Ge­heim­dienst auf den Plan. Die­se Tex­te wa­ren und woll­ten so ge­le­sen wer­den: Kri­tik am So­zia­lis­mus, an der Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung, an der Ent­in­di­vi­dua­li­sie­rung des Men­schen. Das war sub­ver­siv – und muss­te ge­ahn­det wer­den. Die Au­torin soll­te dies hin­fort am ei­ge­nen Lei­be zu spü­ren bekommen.

Widerstand gegen Unfreiheit und Verfolgung

Herta Müller - Glarean Magazin
Her­ta Mül­ler (Geb. 1953)

Nie­de­run­gen” war das De­büt – und was für ei­nes! Die  Er­zäh­lun­gen ent­hiel­ten schon die gan­ze Poe­to­lo­gie der Au­torin. Und es hat in die­sen Tex­ten li­te­ra­risch et­was be­gon­nen, was als “Fort­schrei­bung” in al­len spä­te­ren Bü­chern der Her­ta Mül­ler bis hin zu “Atem­schau­kel” zu le­sen ist: Der Wi­der­stand ge­gen Un­frei­heit und Ver­fol­gung,  die scho­nungs­lo­se, akri­bi­sche No­ta­ti­on des Bö­sen als Mah­nung an die Nach­welt. Dies ge­lingt Her­ta Mül­ler – und das macht sie über die Chro­nis­tin hin­aus zur Dich­te­rin – in ei­ner gross­ar­ti­gen poe­ti­schen, bil­der­rei­chen, wun­der­ba­ren Spra­che; in ei­ner Spra­che, die neue Wahr­hei­ten findet. –
Das Buch “Nie­de­run­gen”, das sei zum Schluss an­ge­merkt, ist 1982 erst­mals er­schie­nen – in Bu­ka­rest. 1984 dann in ei­ner ge­kürz­ten Fas­sung in Deutsch­land. Die jetzt vor­lie­gen­de Aus­ga­be ist von der Au­torin um die feh­len­den Tex­te er­gänzt und über­ar­bei­tet wor­den und bringt Mül­lers De­büt zum ers­ten Mal in der ori­gi­na­len Fassung. ♦

Her­ta Mül­ler, Nie­de­run­gen, Pro­sa, Han­ser Ver­lag, 144 Sei­ten, ISBN 978-3446235243

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