Simone Frieling: Ausgezeichnete Frauen

Mysteriöse Gender-Aspekte des Literatur-Nobelpreises

von Prof. Dr. Mar­kus Winkler

Der Lite­ra­tur­no­bel­preis, den die Schwe­di­sche Aka­de­mie seit 1901 jedes Jahr ver­gibt (Aus­nah­men waren die Kriegs­jahre 1914, 1918 und 1940-1943), wurde bis­lang 98 Schrift­stel­lern und 14 Schrift­stel­le­rin­nen zuge­spro­chen. Die Gründe für die­ses Ungleich­ge­wicht sind viel­fäl­tig, wie Simone Frie­ling im Nach­wort zu ihrem neuen Buch “Aus­ge­zeich­nete Frauen – Die Nobel­preis-Trä­ge­rin­nen für Lite­ra­tur” dar­legt: Bis zum Jahr 1914, als Selma Lager­löf, selbst Preis­trä­ge­rin des Jah­res 1909 (und die erste Frau, die mit dem Preis aus­ge­zeich­net wurde), in die Aka­de­mie ein­trat, hatte diese kein weib­li­ches Mit­glied, und selbst heute arbei­ten nur vier Frauen aktiv in ihr mit.

Simone Frieling: Seit den neun­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts aller­dings wird der Preis in kür­ze­ren Abstän­den an Frauen ver­ge­ben, und seit 2015 ist eine Frau, die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Sara Danius, Vor­sit­zende der acht­zehn­köp­fi­gen Jury, die für die Preis­ver­gabe ver­ant­wort­lich ist – eine ein­schnei­dende Ver­än­de­rung, wie Frie­ling unter­streicht. Der­glei­chen Ver­än­de­run­gen seien in den Jahr­zehn­ten bis 1990 gewiss dadurch erschwert wor­den, dass die Mit­glied­schaft in der Aka­de­mie lebens­lang ist. Und schliess­lich seien die Nor­men der Bewer­tung von Gegen­warts­li­te­ra­tur bekannt­lich über­aus abhän­gig vom jewei­li­gen “Zeit­geist”. Dem­entspre­chend bleibe die Arbeit des Nobel­preis­ko­mi­tees in vie­ler­lei Hin­sicht “Ein Mys­te­rium” (so der Titel von Frie­lings Nach­wort, der eine Äus­se­rung von Hor­ace Eng­dahl, dem lang­jäh­ri­gen Aka­de­mie-Sekre­tär, auf­greift). Der Ein­druck des Mys­te­riös-Intrans­pa­ren­ten stellt sich in der Tat beim Rück­blick auf man­che der Ent­schei­dun­gen ein: Warum wurde z.B. 1926 “die rück­wärts­ge­wandte Gra­zia Deledda” aus­ge­zeich­net und 1938 “die lite­ra­risch weni­ger bedeu­tende Pearl S. Buck”, wäh­rend Vir­gi­nal Woolf “nicht ein­mal in Erwä­gung gezo­gen wor­den ist” (S. 286-287)? Und warum, so möchte man im Hin­blick auf die Zeit seit den neun­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts hin­zu­fü­gen, wurde die grosse fran­zö­si­sche Schrift­stel­le­rin Natha­lie Sar­raute, eine bedeu­tende Reprä­sen­tan­tin des “nou­veau roman”, nicht aus­ge­zeich­net, wohl aber im Jahre 2004 Elfriede Jeli­nek – eine bekannt­lich über­aus kon­tro­verse Ent­schei­dung, die u.a. zum Rück­zug eines der Juro­ren aus der Aka­de­mie führte?

Licht ins Dunkel der Nobelpreis-“Mysterien”

simone-frieling-glarean-magazin
Beleuch­tet die mys­te­riöse Tat­sa­che, warum kaum Frauen den Lite­ra­tur-Nobel­preis erhal­ten: Autorin und Künst­le­rin Simone Frieling

Frie­ling ver­sucht, Licht in sol­che ‚Mys­te­rien‘ zu brin­gen: zunächst in ihrem ein­lei­ten­den Kapi­tel über Alfred Nobel und die Geschichte der Nobel­preis-Ver­lei­hung, dann in jedem der vier­zehn, chro­no­lo­gisch ange­ord­ne­ten essay­is­ti­schen Por­träts der Nobel­preis­trä­ge­rin­nen. Dabei berück­sich­tigt sie die Argu­mente, mit denen die Aka­de­mie die jewei­lige Aus­zeich­nung begrün­dete, und die Reak­tio­nen der lite­ra­ri­schen oder auch poli­ti­schen Öffent­lich­keit ebenso wie den Lebens­weg und schrift­stel­le­ri­schen Weder­gang der Aus­ge­zeich­ne­ten und die spe­zi­fi­schen Kon­texte ihres Schrei­bens (Anfein­dun­gen sei­tens einer männ­lich domi­nier­ten Kri­tik, Kon­flikte mit der Mut­ter­rolle, Exil etc.). Vor allem aber zeich­net sie in jedem Kapi­tel ein prä­gnan­tes lite­ra­ri­sches Pro­fil der jewei­li­gen Autorin.

Die eige­nen sehr kunst­vol­len Sche­ren­schnitte, die sie den Kapi­teln vor­an­stellt, stim­men das Lese­pu­bli­kum ebenso auf diese Vor­ge­hens­weise ein wie die jewei­li­gen Unter­ti­tel. “Die streit­bare Chro­nis­tin des schwar­zen Ame­rika”, lau­tet z.B. der­je­nige des Kapi­tels über Toni Mor­ri­son, deren Sche­ren­schnitt vor Augen führt, dass diese Chro­nis­tin­nen-Arbeit immer auch eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der “whiten­ess” beinhal­tete (die schwarze Sil­hou­ette wird hier ver­dop­pelt durch den weis­sen Aus­schnitt). In jedem Kapi­tel gewinnt das lite­ra­ri­sche Pro­fil dadurch an Deut­lich­keit, dass zwar das gesamte Oeu­vre zumin­dest ansatz­weise Erwäh­nung fin­det, aber einige her­aus­ra­gende Werke genauer cha­rak­te­ri­siert wer­den. In dem Kapi­tel über Selma Lager­löf z.B. sind es ins­be­son­dere Gösta Ber­ling und Nils Hol­ger­son, in dem über Nelly Sachs das Gedicht “Schmet­ter­ling”, in dem über Nadine Gor­di­mer, die ihre Schrei­ben ganz in den Kampf gegen die Apart­heid gestellt habe, der Roman July’s Peo­ple, in dem sich das Herr­schaft-Die­ner­schaft-Ver­hält­nis ver­kehre, und der “Ent­wick­lungs­ro­man” Burger’s Daugh­ter; in dem Kapi­tel über Toni Mor­ri­son der ist es der Gene­ra­tio­nen­ro­man Song of Solo­mon und in dem über Elfriede Jeli­nek der Roman Lust, den Jeli­nek selbst als ver­geb­li­chen Ver­such eines “weib­li­chen Por­nos” ankün­digte, der sich aber durch­aus so lesen lasse.

Kenntnisreicher und engagierter Beitrag

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Simone Frie­lings Mono­gra­phie “Aus­ge­zeich­nete Frauen – Die Nobel­preis­trä­ge­rin­nen für Lite­ra­tur” ist ein sehr kennt­nis­rei­cher, enga­gier­ter und anspre­chen­der Bei­trag zu einem wich­ti­gen Aspekt der Geschichte des Literaturnobelpreises.

Simone Frie­lings Por­träts der ‚aus­ge­zeich­ne­ten Frauen”, zu denen aus­ser den bereits Genann­ten die Autorin­nen Sig­rid Und­set, Gabriela Mis­tral, Wisława Szym­borska, Doris Les­sing, Herta Mül­ler, Alice Munro und Swet­lana Ale­xi­je­witsch zäh­len, sind immer nuan­ciert, aber auch wer­tend: So bemerkt sie z.B., dass Nadine Gor­di­mer anders als ihr Freund J.M. Coet­zee in künst­le­ri­scher Hin­sicht “keine neuen Anstösse gege­ben” habe, son­dern den “Kon­ven­tio­nen rea­lis­ti­schen Erzäh­lens treu” geblie­ben sei (S. 151); in Toni Mor­ri­sons neu­es­tem Roman Home wie­derum schwä­che die “Anhäu­fung der Grau­sam­kei­ten” (S. 167) die Geschichte, die erzählt werde. Das Lese­pu­bli­kum muss diese und andere Wer­tun­gen nicht tei­len, wird sie aber als Lese­an­re­gun­gen ebenso zu schät­zen wis­sen wie die Offen­le­gung von Wider­sprü­chen und Unge­reimt­hei­ten im Schrei­ben und Leben der Autorin­nen (etwa die Tat­sa­che, dass Selma Lager­löf, Frau­en­recht­le­rin und Pazi­fis­tin, ein­deu­tige Stel­lung­nah­men gegen die Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­mied). Nütz­lich sind schliess­lich die wei­ter­füh­ren­den Anga­ben zur deutsch­spra­chi­gen For­schungs­li­te­ra­tur am Ende jedes Kapitels.

Frie­lings Mono­gra­phie ist ein sehr kennt­nis­rei­cher, enga­gier­ter und anspre­chen­der Bei­trag zu einem wich­ti­gen Aspekt der Geschichte des Lite­ra­tur­no­bel­prei­ses. Zur guten Les­bar­keit des Buches tra­gen u.a. die Quer­ver­weise zwi­schen den Kapi­teln, die Skiz­zen rezep­ti­ons­ge­schicht­li­cher Zusam­men­hänge und vor allem der gepflegte Schreib­stil der Autorin bei. Das Buch wen­det sich sowohl an ein brei­tes lite­ra­tur­in­ter­es­sier­tes Lese­pu­bli­kum als auch an Kom­pa­ra­tis­tin­nen und Kom­pa­ra­tis­ten, die ihm z.B. die Frage ent­neh­men kön­nen, inwie­fern der Lite­ra­tur-Nobel­preis zur Genese einer spe­zi­fisch weib­li­chen Welt­li­te­ra­tur bei­getra­gen hat. ♦

Simone Frie­ling: Aus­ge­zeich­nete Frauen – Die Nobel­preis­trä­ge­rin­nen für Lite­ra­tur, Ver­lag LiteraturWissenschaft.de, 280 Sei­ten, ISBN 978-3936134513


markus-winkler-glarean-magazinProf. Dr. Mar­kus Winkler

Geb. 1955, Stu­dium der Roma­nis­tik, Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und Päd­ago­gik in Bonn, Paris und Lau­sanne, Lehr­tä­tig­keit an den Uni­ver­si­tä­ten Genf und Pennsylvania/USA (1992–1998), 2002-2014 Prä­si­dent der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft für All­ge­meine und Ver­glei­chende Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, seit 1998 Inha­ber des Lehr­stuhls für Neuere deut­sche und Ver­glei­chende Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Genf, zahl­rei­che fach­wis­sen­schaft­li­che Buch-Publi­ka­tio­nen und her­aus­ge­be­ri­sche Arbeiten

Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch die Lite­ra­tur-Aus­schrei­bung für Frauen:
Neue weib­li­che Sci­ence-Fic­tion-Texte gesucht
… sowie zum Thema Frau­en­be­we­gung über die Anthologie
Erin­nern, ver­ges­sen, umdeu­ten? – Euro­päi­sche Frau­en­be­we­gun­gen im 19. und 20. Jahrhundert

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)