Isaac Lipnitzky: Fragen der modernen Schachtheorie

Ein Hauch von (Schach-)Geschichte

von Peter Martan

Ein Hauch von Ge­schich­te weht uns an, wenn wir Isaak Lip­nitz­kys lan­ge ver­grif­fe­nes Buch “Fra­gen der mo­der­nen Schach­theo­rie” auf­schla­gen, das kürz­lich in der Rei­he “Schach­klas­si­ker” des Qua­li­ty Ch­ess Ver­lag (jetzt auch in deut­scher Spra­che) neu her­aus­ge­bracht wur­de. Der Un­ter­ti­tel “Ein So­wjet- Klas­si­ker” passt ge­nau: mehr als nur ein Stan­dard­werk der Schach­li­te­ra­tur, ist es ein Zeug­nis der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit ei­nes po­li­ti­schen Sys­tems, das sich ge­ra­de erst zu über­le­ben be­gon­nen hat, und in dem der Schach­s­port eine auch po­li­tisch ganz wich­ti­ge Stel­lung einnahm.

Isaak Os­ka­rowitsch Lip­nitz­ky kehrt als hoch­de­ko­rier­ter Of­fi­zier im Ma­jors­rang aus dem 2. Welt­krieg heim und lässt erst­mals die Schach­welt auf­hor­chen, als er 1949 ukrai­ni­scher Meis­ter wird und 1950 bei den UdSSR-Meis­ter­schaf­ten nach Paul Ke­res den ge­teil­ten 2.-4. Platz be­legt, hin­ter ihm Gi­gan­ten wie Smy­s­low, Bo­les­law­ski, Gel­ler, Fl­ohr, Bon­da­rew­ski, Pe­tros­jan und Awer­bach. Da­mit er­füllt er sei­ne ers­te Gross­meis­ter­norm erst 26-jäh­rig. Sei­nem Buch-Erst­ling “Aus­ge­wähl­te Par­tien von Schach­spie­lern der Ukrai­ne” 1952 folgt 1956 das vor­lie­gen­de Haupt­werk “Fra­gen der mo­der­nen Schach­theo­rie”. Die ge­sam­te Aus­ga­be wird au­gen­blick­lich von Schach­en­thu­si­as­ten auf­ge­kauft, im glei­chen Jahr wird Lip­nitz­ky zum zwei­ten Mal ukrai­ni­scher Meis­ter. Dann aber er­krankt er an Leuk­ämie und stirbt 1959, ge­ra­de mal 36 Jah­re alt.

Klassische Schach-Dogmen relativiert

Isaak Lipnitzky: Fragen der modernen Schachtheorie - Quality Chess Verlag

In 16 Ka­pi­teln geht Lip­nitz­ky in­halt­lich sehr klar ge­glie­dert den grund­le­gen­den Re­geln der Er­öff­nungs­theo­rie nach. Das Zen­trum und die Flü­gel, Das Zen­trum von den Flü­geln er­obern, sind zwei der ers­ten Über­schrif­ten. Die da­mals ge­ra­de erst von Nim­zowitsch in Fra­ge ge­stell­ten Dog­men wer­den von Lip­nitz­ky nicht ein­fach ge­leug­net, sie wer­den relativiert.
Dazu Lip­nitz­ky, der Nim­zowitsch an die­ser Stel­le selbst zi­tiert: “Wie lau­tet nun das ent­schei­den­de Ar­gu­ment im Ein­zel­fall, wenn es um die Fra­ge geht: ‘Be­set­zen oder nicht be­set­zen?’ Um die­se Fra­ge kor­rekt zu be­ant­wor­ten, müs­sen wir be­grei­fen, dass die Be­set­zung des Zen­trums kein Ziel an sich ist, son­dern in der Hin­sicht wich­tig ist, dass es uns er­mög­licht, die In­itia­ti­ve zu über­neh­men und Druck auf die geg­ne­ri­sche Stel­lung aus­zu­üben. Es ge­schieht häu­fig, dass ein Spie­ler sein Zen­trum auf­baut, nur um dann fest­zu­stel­len, dass es nicht mehr als eine Last ist, da es dem Geg­ner als vor­züg­li­ches Ziel für den Ge­gen­an­griff dient.”
Ins­be­son­ders der Kern­fra­ge der Stel­lungs­be­wer­tung geht Lip­nitz­ky im gleich­na­mi­gen Ka­pi­tel auch his­to­risch gründ­lich nach. Um Stel­lungs­merk­ma­le und zu be­rech­nen­de Va­ri­an­ten mit­ein­an­der in Ein­klang zu brin­gen, un­ter­schei­det Lip­nitz­ky zwi­schen dy­na­mi­schen und sta­ti­schen Stel­lun­gen und be­trach­tet die Auf­ga­be der Ana­ly­se dar­in, das eine bis zum an­de­ren zu be­rech­nen. “Das Ziel der Ana­ly­se be­steht dar­in, an eine Stel­lung zu ge­lan­gen, de­ren We­sen nicht ‘dy­na­misch’, son­dern ‘sta­tisch’ ist.”

Der Begriff der Initiative anhand von Gambit-Eröffnungen

Be­son­de­res Au­gen­merk legt der Au­tor auf die Bei­spie­le für den ne­bu­lo­sen Be­griff der In­itia­ti­ve, zu de­ren Er­lan­gen und Er­halt ja be­kannt­lich fast je­des Mit­tel recht ist; ihr wid­met er ein ei­ge­nes Ka­pi­tel, das lo­gisch im fol­gen­den Ab­schnitt “Mo­der­ne Gam­bits”  der In­itia­ti­ve so rich­tig Ge­stalt ver­leiht, an­hand der da­mals erst von der Meis­tern ih­rer Zeit in die Tur­nier­pra­xis ein­ge­führ­ten Er­öff­nungs­va­ri­an­ten, wie z.B. des Blu­men­feld-Gam­bits, das Al­je­chin nach dem Er­fin­der, dem so­wje­ti­schen Meis­ter Blu­men­feld, laut Lip­nitz­ky in die in­ter­na­tio­na­le Tur­nier­pra­xis ein­führt. Al­je­chin schreibt der Au­tor auch zu, dass das an­ge­nom­me­ne Da­men­gam­bit, in dem frü­her haupt­säch­lich auf Rück­ge­winn des Gam­bit­bau­ern ge­spielt wur­de, von ei­nem Pseu­do- zu ei­nem ech­ten Gam­bit wur­de (z.B. Al­je­chin-Bo­gol­ju­bow, Wies­ba­den 1929.)

Das Evans-Gam­bit wird von Tschi­go­rin in sei­nen bei­den Ka­bel­par­tien ge­gen Stei­nitz re­ha­bi­li­tiert, Al­je­chin, Tar­rasch, Bo­les­law­ski, Gel­ler und Fl­ohr ma­chen sich um Op­fer­va­ri­an­ten von Caro-Kann be­son­ders ver­dient, und das Bot­win­nik- Sys­tem im Da­men­gam­bit wird eben­falls in meh­re­ren Par­tien zum Bei­spiel der da­mals mo­der­nen Gam­bit­be­hand­lung, bei der das Op­fer nicht wie in der ro­man­ti­schen Ära be­han­delt wird, in der ein Kö­nigs­an­griff um je­den Preis in der Re­gel das Ziel war, son­dern ein lang­fris­ti­ges Po­si­ti­ons­spiel zur Er­lan­gung der In­itia­ti­ve an­ge­strebt wird.
Ein wei­te­res Zi­tat von Da­vid Bron­stein drückt für mich da­bei be­son­ders gut aus, was auch Lip­nitz­ky an den Meis­tern sei­ner Zeit und ih­ren Par­tien be­mer­kens- und be­wun­derns­wert fin­det: “Das Er­öff­nungs­spiel der füh­ren­den so­wje­ti­schen Schach­spie­ler, al­len vor­an Bot­win­nik und Smy­s­low, wird da­durch cha­rak­te­ri­siert, dass sie den Ver­lust der Par­tie nicht scheu­en, son­dern nach kom­pli­zier­ten, zwei­schnei­di­gen Stel­lun­gen stre­ben. In An­be­tracht des heu­ti­gen tech­ni­schen Ni­veaus ist es nicht mög­lich, ei­nen star­ken Kon­tra­hen­ten zu schla­gen, wenn man ihm nicht ge­wis­se Ge­gen­chan­cen ein­räumt.” Ein Satz, den man viel­leicht ge­ra­de heu­te wie­der, wo die Com­pu­ter­gläu­big­keit in Ana­ly­se, im prak­ti­schen Spiel und in der Ab­ruf­bar­keit von Er­öff­nungs­theo­rie den krea­ti­ven und an­griffs­lus­ti­gen Spie­ler ent­mu­tigt, schar­fe tak­ti­sche Va­ri­an­ten am Brett zu ris­kie­ren, den Tech­no­kra­ten ins Stamm­buch schrei­ben sollte.

Die Eröffnung als auf die Figuren-Entwicklung beschränkte Phase

Schliess­lich geht der Au­tor der auch ge­ra­de heu­te kaum mehr be­ant­wort­ba­ren Fra­ge nach, wo die Er­öff­nung auf­hört und das Mit­tel­spiel an­fängt. Schon da­mals mein­ten man­che, die Theo­rie sei so weit fort­ge­schrit­ten, dass das Mit­tel­spiel ei­gent­lich zeit­wei­se schon eine aus­ana­ly­sier­te Pha­se sei und man in man­chen Er­öff­nun­gen di­rekt in die Ana­ly­se der re­sul­tie­ren­den End­spie­le käme. Lip­nitz­ky wi­der­spricht dem und sieht die ei­gent­li­che Er­öff­nung als auf die Fi­gu­ren­ent­wick­lung be­schränk­te Pha­se, die Plä­ne, die da­von aus­ge­hen, als ei­gen­stän­dig, wenn­gleich die Über­gän­ge na­tür­lich flies­send sind.

In Ana­lo­gie zu der al­ten ara­bi­schen Vor­form des Schachs, dem­Schat­rand­sch, in das aus vor­ge­ge­be­nen Er­öff­nungs­stel­lun­gen ein­ge­stie­gen wur­de, den von da­mals noch be­kann­ten 31 Ta­bi­yas, bringt der Au­tor Bei­spie­le von Ta­bi­yas des zu sei­ner Zeit mo­der­nen Spiels mit da­für be­kann­ten Plänen.
Aus de­nen ein aus­ge­wähl­tes ist die Stel­lung nach …

1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sc3 Lb4 4. e3 d5 5. Sf3 O-O 6. Ld3 c5 7. O-O Sc6 8. a3 Lxc3 9. bxc3 dxc4 10. Lxc4 Dc7

"Fragen der modernen Schachtheorie": Lipnitzky-Tabiay nach Dc7
“Fra­gen der mo­der­nen Schach­theo­rie”: Lip­nitz­ky-Ta­biay nach Dc7

… des­halb ein be­son­de­res Bei­spiel, weil sie durch Zug­um­stel­lung die Ra­gos­in-Ver­tei­di­gung er­reicht, die nach dem Ver­fas­ser des Vor­wor­tes Je­fim La­s­a­rew eine Lieb­lings­er­öff­nung von Lip­nitz­ky war, mit der das Buch sei­nen An­fang nahm. Es war ur­sprüng­lich als Mo­no­gra­phie der Ra­gos­in-Ver­tei­di­gung ge­dacht. (Aus­drück­lich bit­te ich noch­mals zu ent­schul­di­gen, dass auf die­se und an­de­re “Über­gangs­stel­lun­gen” wie sie der Au­tor nennt, weil sie zwi­schen Er­öff­nung und Mit­tel­spiel ste­hen, und die da­mit ver­bun­de­nen Plä­ne nicht nä­her ein­ge­gan­gen wer­den kann, ob­wohl sie zu­sam­men mit dem kom­men­tier­ten Par­tien­ma­te­ri­al so­wie den zwölf aus­ge­wähl­ten Lip­nitz­ky-Par­tien im An­hang – 2 da­von mit Schön­heits­prei­sen be­lohnt – den ei­gent­li­chen In­halt des Bu­ches ausmachen).

Was ist eine Neuerung im Schach?

Schliess­lich wid­men sich die letz­ten Ka­pi­tel der Fra­ge, was ein Neue­rung ist. Hier habe ich, um we­nigs­tens eine der vie­len kom­men­tier­ten Par­tien wie­der­zu­ge­ben, aus his­to­ri­schem In­ter­es­se die Par­tie Jose R. Ca­pa­blan­ca vs Frank Mar­shall in New York 1918 aus­ge­wählt. Ob­wohl viel­leicht hin­läng­lich be­kannt, zeigt sie doch, wie span­nend die Epo­che schach­lich war.

Die Vor­ge­schich­te der Par­tie schil­dert Lip­nitz­ky so: “Nach dem Ca­pa­blan­ca-Mar­schall Match (New York 1909), in dem Let­zerer mit ei­nem Score von +1-8=14 un­ter­ging, ver­mied Gross­meis­ter Mar­shall den Spa­ni­er ge­gen Ca­pa­blan­ca zehn Jah­re lang. Nach­dem er aber ei­nen schar­fen An­griffs­plan ba­sie­rend auf ei­nem Bau­ern­op­fer aus­ge­ar­bei­tet hat­te, wand­te er ihn ge­gen sei­nen for­mi­da­blen Geg­ner gleich in der ers­ten Run­de des Man­hat­tan Ch­ess Club Meis­ter­tur­nie­res an.” (Die Kom­men­ta­re sind mit Aus­nah­me der Stel­len, an de­nen er selbst Ca­pa­blan­ca zi­tiert, von Lip­nitz­ky, klei­ne Rand­be­mer­kun­gen von mir sind ei­gens gekennzeichnet.)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 0–0 8.c3 d5!?

Der weis­se Da­men­flü­gel ist noch un­ent­wi­ckelt, und so ver­sucht Schwarz Li­ni­en zu öff­nen, um ei­nen ra­schen An­griff ge­gen den weis­sen Kö­nig einzleiten.

9.exd5 Sxd5 10.Sxe5

In sei­nen An­mer­kun­gen zu die­ser Par­tie schrieb Ca­pa­blan­ca: “Ich über­leg­te eine ganz Wei­le, be­vor ich den Bau­ern nahm, da mir klar war, dass ich ei­nem ge­wal­ti­gen An­griff aus­ge­setzt sein wür­de, den mein Kon­tra­hent sorg­sam aus­ge­ar­bei­tet hat­te. Doch gleich­zei­tig spür­te ich die Kamp­fes­lust in mir auf­stei­gen. Eine Her­aus­for­de­rung wur­de mir ent­ge­gen ge­wor­fen von ei­nem Spie­ler, der al­len Grund hat­te, mein Ver­ständ­nis und mein Kön­nen zu fürch­ten (dies hat­ten un­se­re vor­he­ri­gen Auf­ein­an­der­tref­fen ge­zeigt), und der nun eine Lis­te an Über­ra­schun­gen vor­be­rei­tet hat­te, um mei­ne feh­len­de Ver­traut­heit mit Va­ri­an­ten aus­zu­nut­zen, de­nen er vie­le Näch­te har­ter, aus­dau­ern­der Ar­beit ge­wid­met hat­te. Ich über­prüf­te die Lage und ent­schied, dass mein Ruf mich so­zu­sa­gen ver­pflich­te­te, den Bau­ern zu schla­gen und die Her­aus­for­de­rung an­zu­neh­men, denn mein Ver­ständ­nis und mei­ne Kennt­nis­se sag­ten mir, dass die weis­se Stel­lung ver­tei­di­gungs­fä­hig sei.”
Zwar nicht un­be­dingt be­mer­kens­wert ob sei­ner Be­schei­den­heit, zeigt doch die­se Dar­stel­lung klar und ein­deu­tig, wie der Ver­stand ei­nes gros­sen Meis­ters ar­bei­tet, wenn er mit ei­nem un­er­war­te­ten Pro­blem kon­fron­tiert wird.

10… Sxe5 11.Txe5 Sf6 12.Te1 Ld6 13.h3 Sg4! 14.Df3!

Den Sprin­ger zu neh­men wür­de we­gen 14… Dh4 ver­lie­ren. Auf f3 be­setzt die Dame ei­nen sehr star­ken Pos­ten, wo sie gleich­zei­tig deckt und angreift.

14… Dh4 15.d4!

Un­ter Be­schuss be­eilt sich Weiss sich zu ent­wi­ckeln und ver­mei­det alle Fal­len. Nach 15.Te8 Lb7! 16.Txf8+ Txf8 17.Dxg4 Te8! 18.Kf1 De7 19.Le6 Ld5! hät­te Schwarz kla­ren Vorteil.

15…Sxf2

Der Grä­ber ist selbst in die Gru­be ge­fal­len- die­ser Sprin­ger wird hier nie­mals wie­der raus­kom­men. Doch Schwarz hat­te nichts Bes­se­res; das ein­zi­ge, was ihm blieb, war ein An­griff um je­den Preis, zu sie­gen oder zu ster­ben.” (Ca­pa­blan­ca)

"Fragen der modernen Schachtheorie": Capablanca-Marshall vor Te2
“Fra­gen der mo­der­nen Schach­theo­rie”: Ca­pa­blan­ca-Mar­shall vor Te2

16.Te2!!

Ca­pa­blan­ca fin­det in die­ser kom­pli­zier­ten und für ihn un­ver­trau­ten Stel­lung den ein­zi­gen Zug, – An­mer­kung der Re­dak­ti­on: mitt­ler­wei­le hat sich in der Li­te­ra­tur auch 16. Ld2 als spiel­bar er­wie­sen – um den An­griff ab­zu­weh­ren, und de­mons­triert da­mit sei­ne aus­ser­ge­wöhn­li­che Ver­tei­di­gungs­kunst, für die er so be­rühmt war. Er kann bei­spiels­wei­se nicht 16.Dxf2 spie­len we­gen Lh2+!  (aber nicht 16…Lg3? 17.Dxf7+ nebst Matt)  17.Kf1 Lg3 18.De2  (Anm.d.Redaktion: 18.Dd2 hat laut jün­ge­rer Theo­rie auch die­se Va­ri­an­te wie­der spiel­bar ge­macht) 18…Lxh3! 19.gxh3 Tae8 und Schwarz gewinnt.

16…Lg4 17.hxg4 Lh2+ 18.Kf1 Lg3 19.Txf2 Dh1+ 20.Ke2 Lxf2 21.Ld2 Lh4 22.Dh3 Tae8+ 23.Kd3 Df1+ 24.Kc2

Nach­dem er sei­nen Kö­nig in Si­cher­heit ge­bracht hat­te, ge­wann Ca­pa­blan­ca im 36. Zug. Der fürch­ter­li­che schwar­ze An­griff, aus­ge­klü­gelt in der häus­li­chen Stil­le, prall­te an ei­ner macht­vol­len Ver­tei­di­gung ab, die am Brett ge­fun­den wurde.

Der historische Hintergrund vor der Heraufkunft der russischen Hegemonie

Die­se Par­tie wur­de von mir auch des­halb ge­wählt, weil sie den schach­his­to­ri­schen Hin­ter­grund be­leuch­tet, un­ter dem die Glanz­zeit von Ca­pa­blan­ca un­mit­tel­bar vor der Hoch­blü­te der so­wje­ti­schen Schach­schu­le ge­se­hen wer­den muss. Lip­nitz­ky er­wähnt na­tür­lich nicht, dass Al­je­chin (mit der Rü­cken­de­ckung der so­wje­ti­schen Schach­ma­schi­ne­rie) Ca­pa­blan­ca, nach­dem er ihm den Welt­meis­ter­ti­tel ab­ge­nom­men hat­te, bis zum Tod des gros­sen Ri­va­len ei­nem Re­van­che­kampf aus­wich. Ich er­wäh­ne das auch un­ter dem Ein­druck ei­nes an­de­ren Bu­ches zu dem The­ma, das  erst kürz­lich er­schie­nen ist: Fa­bio Stas­sis “Die letz­te Par­tie”, das sich mit der Ver­knüp­fung der Schick­sa­le der bei­den wahr­schein­lich gröss­ten Schach­ge­nies ih­rer Zeit ro­man­haft aus­ein­an­der­setzt. Ähn­li­ches wi­der­fuhr ja auch um ei­ni­ges spä­ter Bob­by Fi­scher, der lan­ge um die Mög­lich­keit ei­nes Ti­tel­kamp­fes rin­gen muss­te und sei­ner­seits da­nach of­fen­bar psy­chisch nicht mehr in der Lage war, ge­gen die ge­schlos­se­ne so­wje­ti­sche Schach­pha­lanx sei­nen Ti­tel zu verteidigen.

Dokumentation einer grossen Ära grosser Schachspieler

Des­sen un­ge­ach­tet do­ku­men­tiert Lip­nitz­ky eine gros­se Ära gros­ser Schach­spie­ler, zu de­nen er ganz si­cher auch ge­hör­te. Hat die Theo­rie die­se und jene da­mals ak­tu­el­le Va­ri­an­te auch über­holt, die Ana­ly­sen und Be­wer­tun­gen blei­ben stu­die­rens­wert und zeit­los ist die Kunst des Den­kens, die schach­li­che Tech­nik, Re­geln im Ein­zel­fall mehr oder we­ni­ger Ge­wicht bei­zu­mes­sen. Heu­te ver­brei­ten sich Neue­run­gen übers In­ter­net schnel­ler als der Wind und der Com­pu­ter for­dert dazu her­aus, sie stän­dig neu zu be­wer­ten. Was bleibt, ist der Geist des Spie­les oder wie Lip­nizt­ky sagt: “Wenn ein Spie­ler eine Va­ri­an­te wi­der­legt oder et­was Neu­es ent­deckt, er­fährt er ech­te krea­ti­ve Be­frie­di­gung. Sei­ne Fä­hig­keit, theo­re­ti­sche Ein­schät­zun­gen kri­tisch an­zu­ge­hen, ist der bes­te Be­weis für sei­ne krea­ti­ve Rei­fe.” Oder mit Tschi­go­rin: “Schach ist, all­ge­mein aus­ge­drückt, viel reich­hal­ti­ger, als man auf Grund­la­ge der exis­tie­ren­den Theo­rie an­neh­men woll­te, die es nur in be­stimm­te enge For­men zu pres­sen versucht.”

Ich schlies­se mit ei­nem Zi­tat Ema­nu­el Las­kers, das auch Lip­nitz­ky ans Ende sei­nes Bu­ches stellt:

Je­der, der sei­ne Fä­hig­keit zum un­ab­hän­gi­gen Schach­den­ken pfle­gen will, muss im Schach al­les ver­mei­den, was tot ist:

– künst­li­che Theo­rien, die auf sehr we­ni­gen Bei­spie­len und je­der Men­ge Er­fin­dung beruhen;
– die An­ge­wohn­heit, mit schwä­che­ren Geg­nern zu spie­len und Ge­fah­ren aus dem Weg zu gehen;
– die An­ge­wohn­heit, die Va­ri­an­ten und Re­geln von an­de­ren un­kri­tisch zu ko­pie­ren und ge­dan­ken­los zu wiederholen;
– selbst­zu­frie­de­ne Ei­tel­keit, Un­wil­lig­keit, die ei­ge­nen Feh­ler einzugestehen.” ♦

Isaak Lip­nitz­ky, Fra­gen der mo­der­nen Schach­theo­rie, 236 Sei­ten, Qua­li­ty Ch­ess, 978-1906552145

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Rus­si­sche Schach­ge­schich­te auch über Vik­tor Kort­schnoi: Mei­ne bes­ten Kämpfe

… so­wie zum The­ma Schach­schu­le über Axel Gut­jahr: Schach spie­len mit Niveau

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)