Mario Andreotti: Ist Dichten lernbar? (Essay)

Ist Dichten lernbar?

Über Sinn und Unsinn von Schreibseminarien

von Mario Andreotti

In den letz­ten Jahr­zehn­ten sind sie im deut­schen Sprach­raum, zu­nächst in Deutsch­land und dann auch in Ös­ter­reich und in der Schweiz, wie Pil­ze aus dem Bo­den ge­schos­sen: Die ver­schie­de­nen, kei­nes­wegs im­mer bil­li­gen Schreib­werk­stät­ten, Se­mi­na­ri­en, Li­te­ra­tur­kur­se und Fern­lehr­in­sti­tu­te für an­ge­hen­de Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler. Dazu ka­men und kom­men eine stei­gen­de Zahl von Bü­chern und Zeit­schrif­ten, die dem Le­ser mehr oder we­ni­ger deut­lich sug­ge­rie­ren, sie ent­hiel­ten “tod­si­che­re” Re­zep­te für ein gu­tes Schrei­ben. Das reicht dann von re­la­tiv neu­tra­len Ti­teln, wie etwa dem “Ver­le­ger­brief”, über Ti­tel, die wie “Grund­la­gen und Tech­nik der Schreib­kunst” schon hand­fes­ter tö­nen, bis zu sol­chen, die un­ver­hoh­len ver­spre­chen, der Le­ser wer­de durch die Lek­tü­re der be­tref­fen­den Pu­bli­ka­ti­on “ga­ran­tiert schrei­ben ler­nen”. Die­ses zu­neh­men­de An­ge­bot an Schreib­hil­fen, al­len vor­an an Schreib­werk­stät­ten und “Kur­sen für krea­ti­ves Schrei­ben”, lässt ein­mal mehr die Fra­ge auf­kom­men, ob sich denn das Dich­ten über­haupt ler­nen las­se. Es han­delt sich um eine Fra­ge, die fast so alt wie die Dich­tung sel­ber ist, und die im Ver­lau­fe der Li­te­ra­tur­ge­schich­te ganz un­ter­schied­lich be­ant­wor­tet wurde.

Ist Dichten also lernbar?

“Poe­ti­scher Trich­ter – Die Teut­sche Dicht- und Reim­kunst, ohne Be­huf der la­tei­ni­schen Spra­che, in VI Stun­den ein­zu­gies­sen” (Ge­org Phil­ipp Hars­dörf­fer, 17.Jh.)

Hät­te man die­se Fra­ge ei­nem Li­te­ra­ten etwa des 17. Jahr­hun­derts, also der Ba­rock­zeit ge­stellt, so hät­te er sehr wahr­schein­lich leicht ver­wun­dert zur Ant­wort ge­ge­ben, na­tür­lich sei das Dich­ten lern­bar, und dies ge­nau so ex­akt wie bei­spiels­wei­se das Ma­len oder das Mu­si­zie­ren. Wozu habe man denn die Poe­tik, wenn nicht dazu, dem Poe­ten die Re­geln für sein li­te­ra­ri­sches Hand­werk zu lie­fern. Man war da­mals näm­lich der Über­zeu­gung, ein Au­tor schrei­be nur dann gut, wenn er be­stimm­te, durch li­te­ra­ri­sche Au­to­ri­tä­ten vor­ge­ge­be­ne Re­geln strik­te be­ach­te. So hat­te bei­spiels­wei­se ein Dra­ma­ti­ker, ob es ihm ge­fiel oder nicht, die be­rühm­te Re­gel der drei Ein­hei­ten von Ort, Zeit und Hand­lung, die an­geb­lich auf die Poe­tik des Aris­to­te­les zu­rück­ging, zu be­fol­gen. Tat er dies nicht, so war er li­te­ra­risch, und nur all­zu oft auch ge­sell­schaft­lich, ge­äch­tet. In der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft spricht man des­halb von ei­ner nor­ma­ti­ven Poe­tik, von ei­ner Poe­tik also, die glaub­te, die Schrift­stel­le­rei sei ein Hand­werk wie je­des an­de­re, das man nach be­stimm­ten Re­geln zu be­trei­ben habe. Ein ex­tre­mes Bei­spiel für die­se nor­ma­ti­ve Auf­fas­sung der Poe­tik ist der viel­zi­tier­te Nürn­ber­ger Trich­ter von Phil­ipp Hars­dörf­fer, der als “An­wei­sung, die Teut­sche Dicht- und Reim­kunst in sechs Stun­den ein­zu­gies­sen” ge­dacht war. Noch heu­te er­in­nern ge­wis­se Lehr­bü­cher der Dich­tung, die sich mit ih­ren hand­fes­ten Schrei­be­zep­ten fast wie Koch­bü­cher ge­ben, an die­sen Nürn­ber­ger Trichter.

Dichten als subjektives Geschäft

Ge­gen Ende des 18.Jahrhunderts, li­te­ra­tur­ge­schicht­lich mit dem Be­ginn des Sturm und Drang, wan­delt sich das Bild: Die über­kom­me­ne Vor­stel­lung, die Dich­tung habe ei­nem be­stimm­ten Re­gel­ka­non zu ge­hor­chen, wird zu­neh­mend durch die An­sicht ab­ge­löst, sie habe mög­lichst ori­gi­nell, mög­lichst schöp­fe­risch zu sein. “Krea­ti­vi­tät” und “Ori­gi­na­li­tät” -man den­ke etwa an die für die Stür­mer und Drän­ger ty­pi­sche Wort­schöp­fung des “Ori­gi­nal­ge­nies”- wer­den zu den bei­den Leit­be­grif­fen, wel­che die Dich­tung der fol­gen­den zwei Jahr­hun­der­te weit­hin be­stim­men soll­ten. Wo­mit die­ser Wan­del in der Auf­fas­sung von Kunst zu­sam­men­hängt, ist ei­ni­ger­maβen of­fen­sicht­lich: Wo der abend­län­di­sche Mensch, wie dies seit der Auf­klä­rung der Fall ist, sei­ne In­di­vi­dua­li­tät, aber auch sei­ne Au­to­no­mie den “Din­gen” ge­gen­über “ent­deckt”, da hat dies Rück­wir­kun­gen auf das Selbst­ver­ständ­nis der Au­toren. Sie füh­len sich nun nicht mehr als jene, die li­te­ra­ri­sche Tex­te nach ei­ner be­stimm­ten, vor­ge­form­ten “Re­gel­poe­tik” ma­chen, son­dern als Men­schen, die sich von ih­rer schöp­fe­ri­schen In­tui­ti­on, von ei­ner Art In­spi­ra­ti­on – die Nähe zur al­ten, re­li­gi­ös fun­dier­ten Vor­stel­lung des “poe­ta va­tes” ist of­fen­kun­dig – lei­ten las­sen. Noch ein Fried­rich Dür­ren­matt hul­dig­te die­ser gleich­sam ir­ra­tio­na­len Auf­fas­sung von Dich­tung und vom Au­tor, wenn er im Hin­blick auf sei­ne Stü­cke im­mer wie­der den “poe­ti­schen Ein­fall” betonte.

Denkmal der Dichterfürsten Goethe und Schiller in Weimar - Glarean Magazin
Kult um das “Ori­gi­nal­ge­nie” seit dem “Sturm&Drang”: Goe­the-Schil­ler-Denk­mal in Wei­mar­Denk­mal der Dich­ter­fürs­ten Goe­the und Schil­ler in Wei­mar – Glarean Magazin

Der eben skiz­zier­te Wan­del im Dich­tungs­ver­ständ­nis ist nun äuβerst fol­gen­reich: Hat­te vor­her die An­sicht be­stan­den, Dich­ten sei lehr- und lern­bar, so trat seit dem Sturm und Drang mehr und mehr die Mei­nung zu­ta­ge, sie sei ein der­art sub­jek­ti­ves Ge­schäft, dass sich da­für kaum auch nur ei­ni­ger­mas­sen ver­bind­li­che Nor­men auf­stel­len lieβen. Da­mit war es auch mit der Vor­stel­lung von der Lern­bar­keit des li­te­ra­ri­schen Hand­werks gründ­lich vor­bei. Dies er­klärt weit­ge­hend, war­um es im deut­schen Sprach­raum Schu­len für Ar­chi­tek­ten, Bild­hau­er, Ma­ler und Mu­si­ker, kaum aber sol­che für Schrift­stel­ler gibt. In den USA und bei­spiels­wei­se auch in Russ­land ist das be­kannt­lich ganz an­ders: Da exis­tie­ren an den Uni­ver­si­tä­ten ne­ben den li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen ei­ge­ne Schrift­stel­ler­fa­kul­tä­ten, in de­nen an­ge­hen­de Au­toren, an­ge­lei­tet durch Prak­ti­ker ih­res Fa­ches, das Form­wis­sen um alle dich­te­ri­schen Gat­tun­gen im ei­gent­li­chen Sin­ne ler­nen. Bei uns aber hält man so et­was für eine Sün­de wi­der den Hei­li­gen Geist der Dich­tung, warnt man in ei­ner oft­mals ge­ra­de­zu gro­tesk wir­ken­den Scheu vor Meis­ter­sin­ger-Dür­re und Nürn­ber­ger Trichter.

Dichten doch lernbar?

Frei­lich hat sich in den letz­ten Jah­ren auch im deut­schen Sprach­raum ein ge­wis­ser Sin­nes­wan­del voll­zo­gen: Ne­ben Li­te­ra­tur­häu­sern, die re­gel­mäs­sig Au­toren­kur­se an­bie­ten, sind vor al­lem in Deutsch­land und Ös­ter­reich ei­gent­li­che Schreib­schu­len und Li­te­ra­tur­in­sti­tu­te, wie bei­spiels­wei­se die “schu­le für dich­tung” in Wien, die “Schreib­schu­le Köln” und das Deut­sche Li­te­ra­tur­in­sti­tut in Leip­zig, ent­stan­den. Au­toren­aus- und wei­ter­bil­dung, Be­grif­fe, die noch vor ei­ni­gen Jahr­zehn­ten völ­lig ver­pönt wa­ren, sind plötz­lich in. Selbst der Schwei­ze­ri­sche Schrift­stel­ler­ver­band, der Ver­band der Au­torin­nen und Au­toren der Schweiz, wie er neu­er­dings heisst, be­fasst sich in­zwi­schen ernst­haft mit dem Ge­dan­ken, sei­nen Mit­glie­dern Aus- und Wei­ter­bil­dungs­mög­lich­kei­ten in Form ei­ner ei­gent­li­chen Schreib­schu­le anzubieten.

Gottfried Benn - Glarean Magazin
“Ein Ge­dicht ent­steht über­haupt sehr sel­ten – ein Ge­dicht wird ge­macht” (Gott­fried Benn, Pro­ble­me der Ly­rik, Mün­chen 1959)

Die­se jüngs­te Ent­wick­lung hin zum Ver­such, den Be­ruf des Schrift­stel­lers zu pro­fes­sio­na­li­sie­ren, hängt un­ter an­de­rem zwei­fel­los mit dem ver­än­der­ten Dich­tungs­ver­ständ­nis der Mo­der­ne zu­sam­men, wo­nach Poe­sie, an­ders als etwa in Klas­sik und Ro­man­tik, we­ni­ger In­spi­ra­ti­on als viel­mehr Ma­chen be­deu­tet. Gott­fried Ben­ns be­rühm­ter Satz “Ein Ge­dicht ent­steht über­haupt sehr sel­ten – ein Ge­dicht wird ge­macht” gilt nicht nur für die mo­der­ne Ly­rik, son­dern für die mo­der­ne Li­te­ra­tur, schon ih­res be­ton­ten Kunst­cha­rak­ters we­gen, über­haupt. Das blieb nicht ohne Rück­wir­kung auf das Selbst­ver­ständ­nis der Au­toren: Ver­stand sich der Au­tor seit dem aus­ge­hen­den 18.Jahrhundert als selbst­mäch­ti­ger Schöp­fer ei­nes au­to­no­men Wer­kes, bei dem In­spi­ra­ti­on und Krea­ti­vi­tät die zen­tra­le Rol­le spiel­ten, so ver­steht er sich heu­te zu­neh­mend als blos­ser Ar­ran­geur, der in har­ter Schreib­tisch­ar­beit Tex­te pro­du­ziert, mit li­te­ra­ri­schen For­men und Tech­ni­ken ‚ex­pe­ri­men­tiert’. Dar­aus er­klä­ren sich die auf­fal­lend vie­len in­ter­tex­tu­el­len Be­zü­ge, wie sie ge­ra­de für mo­der­ne und post­mo­der­ne Wer­ke ty­pisch sind. Dies wie­der­um setzt vor­aus, dass sich die Schrift­stel­ler un­se­rer Tage ge­wis­se For­men und Tech­ni­ken ler­nend an­eig­nen. Zu all dem hat sich bei der Mehr­heit un­ter ih­nen die Ein­sicht durch­ge­setzt, mit Be­ga­bung al­lein las­se sich heu­te den viel­fäl­ti­gen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­an­for­de­run­gen ei­ner kom­ple­xen Ge­sell­schaft nicht mehr aus­rei­chend ent­spre­chen. Stel­len wir da­mit noch­mals die un­aus­weich­li­che Fra­ge, die Gret­chen­fra­ge so­zu­sa­gen, nach der Lehr- und Lern­bar­keit des Dich­tens und ge­ben wir dar­auf, um je­des Miss­ver­ständ­nis aus­zu­schlieβen, gleich eine kla­re Ant­wort: Kein ver­nünf­ti­ger Au­tor, aber auch kein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler glaubt heu­te im Ernst, dass Dich­ten ein bloβes, lern­ba­res Hand­werk sei. Al­ler­dings fin­den sich, trotz die­ser an sich un­be­strit­te­nen Er­fah­rung, noch und noch Schreib­kur­se und ent­spre­chen­de Lehr­mit­tel, die den Be­nüt­zern weis­ma­chen wol­len, je­der kön­ne ein gu­ter Schrift­stel­ler wer­den, wenn er nur die rich­ti­ge, vom be­tref­fen­den In­sti­tut oder Lehr­mit­tel pro­pa­gier­te Me­tho­de verwende.

Was leisten Schreibseminarien wirklich?

Fra­gen wir zu­nächst noch­mals, was sie nicht leis­ten. Al­fred Dö­b­lin, ei­ner un­se­rer gröβ­ten Epi­ker des 20.Jahrhunderts, hat auf die­se Fra­ge in­di­rekt eine ge­ra­de­zu klas­si­sche Ant­wort ge­ge­ben, als er im Jah­re 1926 in ei­nem Es­say schrieb: “Die gu­ten Dich­ter ha­ben ihre In­tui­tio­nen; die ma­chen alle An­lei­hen über­flüs­sig, und den schlech­ten ist so oder so nicht zu hel­fen.” Was Dö­b­lin da­mals in ei­nem all­ge­mei­nen Sin­ne mein­te, gilt ge­ra­de für Schreib­se­mi­na­ri­en in be­son­de­rem Maβe: sie ver­mö­gen – dies sei in al­ler Deut­lich­keit ge­sagt – kei­ne Be­ga­bun­gen, kei­ne Ge­nies zu züch­ten. Wer schrift­stel­le­risch nun ein­mal un­ta­len­tiert ist, den ma­chen auch Kur­se und Lehr­mit­tel mit all ih­ren oft­mals laut­stark pro­pa­gier­ten “tech­ni­schen Knif­fen” nicht zum Er­folgs­au­tor. Wäre dem nicht so, dann müss­te je­der Ger­ma­nist ex of­fi­cio ein gu­ter Dich­ter sein, nur weil er wäh­rend sei­nes Stu­di­ums alle mög­li­chen For­men li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tens zu ler­nen hat.

Alfred Döblin:
Al­fred Dö­b­lin: “…den schlech­ten ist so oder so nicht zu helfen”

So lieβe sich denn am grund­sätz­li­chen Sinn von Schreib­se­mi­na­ri­en zwei­feln. Doch dann hät­te man mich gründ­lich miss­ver­stan­den. Schreib­se­mi­na­ri­en er­fül­len durch­aus ih­ren Zweck, wenn es dar­um geht, den Teil­neh­mern be­stimm­te hand­werk­li­che Tech­ni­ken des Schrei­bens zu ver­mit­teln. Li­te­ra­risch be­gabt zu sein, braucht näm­lich noch lan­ge nicht zu heis­sen, die ver­schie­de­nen li­te­ra­ri­schen Kunst­mit­tel auch schon zu be­herr­schen. Das gilt schon für tra­di­tio­nel­le Schreib­wei­sen, de­ren Tech­ni­ken, in der Ly­rik etwa die ein­zel­nen me­tri­schen For­men, im Ro­man die un­ter­schied­li­chen Er­zähl­hal­tun­gen, sich der Au­tor, will er er­folg­reich schrei­ben, be­wusst wer­den muss. Das gilt vor al­lem aber in Be­zug auf spe­zi­fisch mo­der­ne Kunst­mit­tel, wie bei­spiels­wei­se neue er­zäh­le­ri­sche Ver­fah­ren, die sich ohne ein ge­ziel­tes Ler­nen und Üben – dazu ha­ben sich von Dö­b­lin über Brecht bis hin zu Gün­ter Grass alle be­deu­ten­den mo­der­nen Au­toren im­mer wie­der be­kannt – kaum an­eig­nen las­sen. Und das gilt nicht we­ni­ger für Fra­gen, die sich rund um das Schrei­ben er­ge­ben, auf sol­che der Schreib­psy­cho­lo­gie, aber auch auf Fra­gen der Li­te­ra­tur­kri­tik und des Ver­lags­ver­tra­ges. Man staunt dies­be­züg­lich im­mer wie­der, wie hilf­los auch ge­stan­de­ne Au­torin­nen und Au­toren wir­ken, wenn sie etwa mit ver­lags- oder mit ur­he­ber­recht­li­chen Pro­ble­men kon­fron­tiert wer­den. Hier kön­nen Schreib­se­mi­na­ri­en zwei­fel­los eine Art “Hil­fe­stel­lung” leis­ten, vor­aus­ge­setzt frei­lich, dass ihre Lei­te­rin­nen und Lei­ter in den ent­spre­chen­den Be­rei­chen aus­ge­bil­det sind. Da­mit al­ler­dings ha­pert es noch weit her­um: auf dem Ge­biet der Schreib­aus­bil­dung tum­meln sich heu­te all­zu vie­le, die über die not­wen­di­gen fach­li­chen Vor­aus­set­zun­gen nur in An­sät­zen oder gar nicht ver­fü­gen. Das gilt häu­fig ge­ra­de auch für prak­ti­zie­ren­de Au­torin­nen und Au­toren, wenn sie als Lei­ter von Schreib­se­mi­na­ri­en auf­tre­ten und dann, weil sie sel­ber die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten li­te­ra­ri­schen Ge­stal­tens nicht aus­rei­chend ken­nen, ihre ei­ge­ne Schreib­wei­se zum ein­zi­gen Grad­mes­ser li­te­ra­ri­scher Qua­li­tät machen.

Schreibseminarien als Orte der Begegnung

Ne­ben der Funk­ti­on der “Hil­fe­stel­lung” – mehr kann und darf es nicht sein – er­fül­len Schreib­se­mi­na­ri­en selbst­ver­ständ­lich noch wei­te­re Funk­tio­nen, die mit Blick auf die be­son­de­re schrift­stel­le­ri­sche Si­tua­ti­on nicht un­ter­schätzt wer­den dür­fen. Da be­steht für die Au­torin­nen und Au­toren zu­nächst ein­mal die Mög­lich­keit, ihr poe­ti­sches Ta­lent, im Ver­gleich mit an­dern Teil­neh­mern, re­la­tiv ob­jek­tiv ein­zu­schät­zen. Man er­lebt im­mer wie­der, dass Au­toren nach dem Be­such ei­nes Schreib­se­mi­nars fest­stel­len, dass sie ihre Be­ga­bung über­schätzt ha­ben, und dann kon­se­quen­ter­wei­se ei­nen an­dern Weg als den der Schrift­stel­le­rei ein­schla­gen. Aber man er­lebt zum Glück auch das Ge­gen­teil: die Tat­sa­che näm­lich, dass Au­torin­nen und Au­toren durch “Hil­fe­stel­lun­gen”, ja durch ge­ziel­te Schreib­tipps, ihre schrift­stel­le­ri­sche Be­ga­bung erst rich­tig ent­de­cken. Und schlieβ­lich darf der psy­cho­hy­gie­ni­sche Wert von Schreib­se­mi­na­ri­en nicht ver­ges­sen wer­den, wenn man be­denkt, wie sehr Schrei­ben­de als klas­si­sche ‚Ein­zel­kämp­fer’ mit ih­ren Tex­ten häu­fig nicht nur bis zu de­ren Fer­tig­stel­lung al­lein, sich selbst über­las­sen sind. Schreib­se­mi­na­ri­en ge­ben ih­nen da für ein­mal die Mög­lich­keit, wäh­rend ein paar Ta­gen aus ih­rer schrift­stel­le­ri­schen “Ein­sam­keit” aus­zu­bre­chen und mit Gleich­ge­sinn­ten – dies im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes – über ihre viel­fäl­ti­gen Pro­ble­me, die sie mit ih­ren Tex­ten, aber auch mit Ver­le­gern, Lek­to­ren und Kri­ti­kern ha­ben, zu dis­ku­tie­ren. Al­lein der Um­stand er­fah­ren zu dür­fen, dass die­se Pro­ble­me von an­dern an­ge­hört und ernst ge­nom­men wer­den, ja, dass an­de­re Au­torin­nen und Au­toren mit ähn­li­chen Pro­ble­men zu kämp­fen ha­ben, dass man mit sei­nen Tex­ten zu­dem eine ge­wis­se Öf­fent­lich­keit er­reicht, auch wenn es vor­erst nur die ei­nes Se­mi­nars ist, tut dann oft­mals gut. Schreib­se­mi­na­ri­en – ja oder nein? Geht man von ei­nem über­kom­me­nen, la­tent eli­tä­ren Au­toren­ver­ständ­nis aus (wer möch­te nicht ger­ne zu den Aus­er­wähl­ten, den Be­gna­de­ten ge­hö­ren!), so wird man die Fra­ge ohne zu zö­gern mit “nein” be­ant­wor­ten. Ist man aber be­reit ein­zu­ge­ste­hen, dass auch die Schrift­stel­le­rei ein Mo­ment des Hand­werk­li­chen und da­mit des Lern­ba­ren hat, dass sich bei­spiels­wei­se eine gan­ze Rei­he von Schreib­tech­ni­ken ra­tio­nal an­eig­nen las­sen, dann wird man ge­ra­de heu­te, in­mit­ten ei­ner Welt des Wan­dels und spe­zia­li­sier­ter Be­ru­fe, den Schreib­se­mi­na­ri­en eine ge­wis­se Be­rech­ti­gung kaum ab­spre­chen können. ♦


Mario AndreottiProf. Dr. Ma­rio Andreotti

Geb. 1947, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Ge­schich­te in Zü­rich, 1975 Pro­mo­ti­on über Je­re­mi­as Gott­helf, 1977 Di­plom des hö­he­ren Lehr­am­tes, da­nach Lehr­tä­tig­keit am Gym­na­si­um und als Lehr­be­auf­trag­ter für Sprach- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len und an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le Vor­arl­berg, lang­jäh­ri­ger Re­fe­rent in der Fort­bil­dung für die Mit­tel­schul-Lehr­kräf­te und Lei­ter von Schrift­stel­ler­se­mi­na­ri­en, Ver­fas­ser meh­re­rer Pu­bli­ka­tio­nen und zahl­rei­cher Bei­trä­ge zur mo­der­nen Dich­tung, lebt in Eggersriet/CH

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma “Ge­sell­schaft und Spra­che” auch den Es­say von Ma­rio An­dreot­ti: Wie Ju­gend­li­che heu­te schreiben

Aus­ser­dem im GLAREAN der Es­say von Ka­rin Afs­har: Bil­dung und Schule

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)