Karin Afshar: Bildung und Schule (Essay)

Bildung heute – Spiegel innerer Besitzlosigkeit?

von Karin Afshar

Schule, Leh­rer, Ler­nen – das ist in aller, und wenn nicht in aller, dann doch in vie­ler Leute Munde, und stän­dig in den Medien. Zu recht? Etli­che Leh­rer schrei­ben offene Briefe über die Uner­zo­gen­heit von Schü­lern, Eltern sind auf­ge­bracht gegen Leh­rer und das restruk­tu­rierte und rere­struk­tu­rierte Sys­tem, und Buch­au­to­ren ana­ly­sie­ren die Bil­dungs­mi­sere ebenso vehe­ment wie Medi­zi­ner kon­sta­tie­ren, dass die Kin­der Kon­zen­tra­ti­ons­de­fi­zite und Lern­stö­run­gen haben, ja sogar z.T. mit 10 Jah­ren auf dem emo­tio­na­len Stand von 16 Monate alten Klein­kin­dern stünden.

Ich tue einen Stoss­seuf­zer: Bin ich froh, dass meine Kin­der aus der Schule sind, und ich heute nicht mehr zur Schule gehe! Ich meine nicht nur als Schü­le­rin, son­dern auch als Leh­re­rin. Und trotz­dem mache ich mir immer wie­der Gedan­ken zu mei­nem Lieb­lings­thema: Ler­nen und Bil­dung. Im Fol­gen­den gibt es etwas dazu, was Ler­nen mit den Men­schen und mit Bil­dung zu tun hat.

1. Vom Wesen des Lernens

Men­schen ler­nen. Kin­der ler­nen krab­beln, lau­fen, spre­chen. Sie ler­nen, wie man mit der Schere aus­schnei­det, wie man sich an- und aus­zieht; sie ler­nen selb­stän­dig zu essen und zur Toi­lette zu gehen… Sie ler­nen im Kin­der­gar­ten, in der Schule, in der Lehre, auf der Uni­ver­si­tät … so geht es immer wei­ter. “Ler­nen” ist Ent­wick­lung. Jede Ent­wick­lung hat unter­schied­li­che Stu­fen, deren jede genom­men wer­den muss, bevor es zur nächst höhe­ren Stufe geht.
Je nach ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­scher Schule (z.B. Jean Pia­get) oder kogni­ti­ons-psy­cho­lo­gi­scher Schule (z.B. Jerome Bru­ner) wer­den die Phasen/Stufen der ers­ten Jahre unter­schied­lich benannt, sagen jedoch in der Essenz: Die Ent­wick­lung geht vom Ein­fa­chen zum Kom­ple­xen, und (haupt­säch­lich Pia­gets Prä­misse): keine spä­tere Phase kann ohne die voll­stän­dige Erlan­gung der frü­he­ren erreicht werden.
Im Ein­zel­nen – weil es wich­tig ist, uns das Wesen des Ler­nens zu ver­an­schau­li­chen – kön­nen die Sta­dien wie folgt cha­rak­te­ri­siert werden:

Ein Sta­dium umfasst einen Zeit­raum, in dem ein bestimm­tes Schema in sei­ner Struk­tur begrif­fen und schliess­lich ange­wen­det wird.
Bei­spiel: Zwi­schen dem 4. und dem 8. Lebens­mo­nat ent­deckt ein Kind, dass es durch eigene Akti­vi­tä­ten bestimmte Effekte in der Umwelt her­vor­ru­fen kann. Es wirft die Ras­sel aus dem Kin­der­wa­gen – die Mut­ter wird sich bücken, und sie ihm wie­der in die Hand geben.

Im Kind wächst die Fähig­keit zwi­schen einem gewünsch­ten Ziel/einer erwünsch­ten Reak­tion und dem ange­wand­ten Mit­tel zur Errei­chung des Ziels zu unterscheiden.

Jedes Sta­dium geht aus einem vor­an­ge­gan­ge­nen her­vor, bezieht das Gelernte ein und wen­det es in ande­ren Zusam­men­hän­gen an.
Bei­spiel: Zwi­schen dem 8. und dem 12. Lebens­mo­nat pro­biert das Kind aus, wie und womit es die Auf­merk­sam­keit von Per­so­nen erwe­cken kann. Es wirft den Gegen­stand viel­leicht nicht mehr weg, son­dern macht Lärm mit ihm. Wei­ter­hin wer­den die bereits vor­han­de­nen Sche­mata immer bes­ser koor­di­niert und somit Bewe­gungs­ab­läufe flüssiger.

Die Sta­dien lau­fen immer in der glei­chen Rei­hen­folge ab. Zwar kann es leichte kul­tu­relle Unter­schiede in der Aus­klei­dung der Ope­ra­tio­nen geben, auch kön­nen sie ver­schie­den schnell oder lang­sam durch­lau­fen wer­den – aber dass sie in geän­der­ter Abfolge auf­tre­ten, ist nicht möglich.

Alle Kin­der durch­lau­fen die Sta­dien. Bleibt ein Kind in einem Sta­dium ste­cken, han­delt es sich um eine Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­rung oder Retardierung.

Jedes Sta­dium schrei­tet vom Wer­den zum Sein.

Fünf relevante Intelligenz-Entwicklungsstufen

Die Stu­fen im Ein­zel­nen: der Stufe der Ent­wick­lung der sen­su­mo­to­ri­schen Intel­li­genz (0 bis 1,6/2,0 Jahre) folgt die Stufe des sym­bo­li­schen oder vor­be­griff­li­chen Den­kens (ca. 1,6/2,0 – 4,0 Jahre), dann kommt die Stufe des anschau­li­chen Den­kens (4,0-7,0/8,0), gefolgt von der Stufe des kon­kret-ope­ra­ti­ven Den­kens (7,0/8,0-11,0/12,0 Jahre) und der Stufe des for­ma­len Den­kens (ab dem 12. Lebensalter).

Bei­spiel: Der bekann­teste Ver­such von Pia­get zeigt anschau­lich die “logi­schen Irr­tü­mer” der unter 7-Jäh­ri­gen: Zei­gen Sie Ihrem Kind ein brei­tes Gefäss (viel­leicht eine Brot­dose) mit Was­ser und schüt­ten Sie das Was­ser vor sei­nen Augen in ein hohes schma­les Glas um. Zu Beginn der prä­ope­ra­tio­na­len Phase wird Ihr Kind mei­nen, dass im Glas viel mehr Was­ser ist, als in der Brot­dose war. Erst mit einem Alter von ca. 7 Jah­ren “wis­sen” Kin­der, dass die Flüs­sig­keits­menge sich beim Umschüt­ten nicht verändert.

Bei­spiel: Ab ca. 4 Jah­ren, in der intui­ti­ven, anschau­li­chen Phase, ver­min­dern sich zwar einige “logi­sche Irr­tü­mer”, den­noch ist das Den­ken der Kin­der stark ego­zen­trisch, d.h. sie betrach­ten die Welt aus­schliess­lich von ihrer Warte aus: Das Kind hat seine Ansicht und hält seine Ansicht für die ein­zig mög­li­che und somit auch für die ein­zig akzep­ta­ble. Ein ego­zen­tri­sches Kind kann sich die Sicht­weise ande­rer nicht zu eigen zu machen, denn Ego­zen­tris­mus bedeu­tet nicht etwa Ich­be­zo­gen­heit, son­dern ganz ein­fach nur die Schwie­rig­keit, sich eine Sache oder aus einer ande­ren Sicht anzu­se­hen oder sich in eine andere Per­son hin­ein­zu­ver­set­zen. (Die­ser Satz wird spä­ter noch wich­tig werden!)

Bei­spiel (nach Mönks & Knoers 1996):
– Peter, hast du einen Bruder?

– Ja.
– Wie heisst denn dein Bruder?
– Hans.
– Hat Hans auch einen Bruder?
– Nein.

Alles Ler­nen ist ein ste­ti­ger Pro­zess, in dem der Ler­nende – in unse­rem Bei­spiel das Kind – immer wie­der ein Gleich­ge­wicht her­zu­stel­len ver­sucht. Die Anpas­sung vor­han­de­ner Sche­mata an eine aktu­elle Situa­tion geht in zwei Teil­pro­zes­sen vor sich: Assi­mi­la­tion und Akkommodation.

Bei­spiel: Ein Kind hat bereits gelernt, einen Apfel zum Mund zu füh­ren, den Mund zu öff­nen und ein Stück abzu­beis­sen. Jetzt bekommt es eine Birne – und wird in sie hin­ein­beis­sen. Es erkennt Apfel und Birne als ähnlich.

Assi­mi­la­tion bedeu­tet die Ein­glie­de­rung neuer Situa­tio­nen oder Erleb­nisse in ein bereits bestehen­des Schema (um in der Begriffs­welt von Pia­get zu blei­ben). Die Wahr­neh­mung der Ähn­lich­keit von Apfel und Birne führt dazu, dass das Schema “grün-annä­hernd rund-ess­bar” an-gewen­det, bestä­tigt und um ein neues Ele­ment erwei­tert wird. Assi­mi­la­tion ist die Reak­tion auf eine Situa­tion, die auf bereits in uns abge­bil­de­tes Wis­sen oder Erfah­run­gen trifft.

Bei­spiel: Ein ande­res Kind ver­sucht, in einen Plas­tik­a­p­fel zu beis­sen. Auch sein Schema sagt: “grün-apfel­för­mig-ess­bar”. Von einem Plas­tik­a­p­fel aber kann es nichts abbeis­sen – das Kind muss akkom­mo­die­ren und sein Schema inso­fern dif­fe­ren­zie­ren, als echte Äpfel und unechte Äpfel ver­schie­dene Kate­go­rien bilden.

Akkom­mo­da­tion tritt auf den Plan, wenn die Assi­mi­la­tion nicht aus­reicht, eine wahr­ge­nom­mene Situa­tion mit den vor­han­de­nen Sche­mata zu bewäl­ti­gen. Diese wer­den erwei­tert und ange­passt. Akkom­mo­da­tion ist die Reak­tion auf eine Situa­tion, die noch nicht in uns abge­bil­det ist.

Vom Einfachen zum Komplexen

Ich könnte viele wei­tere Bei­spiele für die phan­tas­ti­sche Leis­tung der kind­li­chen Ent­wick­lungs­wege anbrin­gen, möchte aber nun doch vom Ent­wi­ckeln zum Ler­nen kom­men. Ler­nen als Gegen­satz zum Erwerb kön­nen wir am Bei­spiel von Spre­chen und Spra­chen betrachten:
Eine erste Spra­che erwirbt jeder Mensch als  Kind. Man­che Kin­der erwer­ben zwei oder drei Spra­chen1) gleich­zei­tig. Von Erwerb spricht man, wenn das Aneig­nen “unge­steu­ert” und ohne Anlei­tung geschieht. Die Ent­wick­lung der Kogni­tion2) ist bei einem Kind noch nicht abge­schlos­sen, was bedeu­tet, dass der kind­li­che Sprach­er­werb mit der Ent­wick­lung des Den­kens, des Wahr­neh­mens und des Bezeich­nens ein­her­geht. Noch anders aus­ge­drückt: als “Erwerb” bezeich­net man einen unbe­wuss­ten Pro­zess, der ohne Anlei­tung, durch Kon­takte in einer natür­li­chen Umge­bung in all­täg­li­chen sozia­len Zusam­men­hän­gen (z.B. beim Ein­kau­fen oder auf der Strasse) auskommt.
Spra­chen­ler­nen dage­gen erfolgt bewusst, ist ange­lei­tet, wird gesteu­ert. Jedes Ler­nen bzw. jeder Ler­nende bedient sich der Kogni­tion. Leh­rer inner­halb von Insti­tu­tio­nen (Schu­len) oder aus­ser­halb die­ser struk­tu­rie­ren den Lern­fort­gang und geben Anlei­tun­gen. Schu­li­sches Ler­nen vor Errei­chen einer bestimm­ten Kogni­ti­ons­stufe (vergl. Pia­get oder Bru­ner) macht kei­nen gros­sen Sinn, son­dern stört nach­ge­rade. Die Auf­gabe des Leh­rers im Lern­pro­zess des Schü­lers ist, den Stand sei­nes Schü­lers ein­zu­schät­zen und nach einer bewäl­tig­ten Unter­richts­ein­heit den nächs­ten Schritt vorzugeben.
Auch das Ler­nen folgt dem Prin­zip “Vom Ein­fa­chen zum Kom­ple­xen”, und bevor kom­plexe Struk­tu­ren ver­stan­den wer­den, müs­sen die ein­fa­chen Ope­ra­tio­nen sit­zen und hin­rei­chend ein­ge­übt sein. Es ist am Leh­rer, die Anlei­tun­gen hilf­reich und ver­ständ­lich anzu­brin­gen. Unter­richt ist dann am ergie­bigs­ten und moti­vie­rends­ten, wenn er mit dem Wesen der Schü­ler in Ein­klang steht. Ein Unter­richt mit einem Lern­stoff, der den Schü­ler erreicht, wird ihn bil­den. Leh­rer, die auf ihre Schü­ler ein­ge­hen, sind wie Heb­am­men, die heben, was bereits in jenen schlum­mert und Anlei­tun­gen geben, die die Gebä­ren­den befol­gen kön­nen. An das bereits Eigene kön­nen diese dann die Infor­ma­tio­nen der Welt knüp­fen und assi­mi­lie­ren. Und was sie nicht in sich fin­den, son­dern im Aus­sen neu erken­nen, hilft ihnen ihre Innen­welt zu erwei­tern. Ein Leh­rer öff­net Augen, Ohren und Her­zen und ist im Leben von Men­schen, und nicht nur von jun­gen, enorm wich­tig. Des­halb muss ein Leh­rer ein Mensch sein, der sich selbst gut kennt. Denn wenn er sein Eige­nes erkannt hat, kann er andere Men­schen erkennen.

2. Bildung und das Höhlen-Gleichnis (Platon)

"Das Einzige, das schlimmer ist als zu erblinden, ist als Einzige zu sehen.“ (aus: "Stadt der Blinden") - Illustrationen: K. Afshar
“Das Ein­zige, das schlim­mer ist als zu erblin­den, ist als Ein­zige zu sehen.“ (aus: “Stadt der Blin­den”) – Illus­tra­tio­nen: K. Afshar

Die unter­ir­di­sche Höhle ist bei den Grie­chen all­ge­mein ein Bild für den Hades, das Reich der Toten. Pla­tons Höhle steht für unsere all­täg­li­che Welt, in der wir leben. Wir Men­schen, so zeigt uns Pla-ton in sei­nem Gleich­nis, sind Gefan­gene in unse­rer gewohn­ten Behausung.
Ober­halb von und hin­ter den Gefan­ge­nen brennt ein Feuer. Die Höhle wird von die­sem Feuer beleuch­tet. Die Gefan­ge­nen sit­zen nun unbe­weg­lich da, denn sie sind an ihre Sitze gefes­selt. Das heisst nicht etwa, dass sie sich nicht bewe­gen, nein, sie sind sehr rege, was Ver­kehr, Wett­streit und ande­res angeht. Nur sind sie unbe­weg­lich, was ihre Ein­stel­lun­gen angeht. Sie haben eine unver­än­der­li­che Ein­stel­lung zu dem, was sie für das Wirk­li­che halten.
Aus­ser den Gefan­ge­nen gibt es nun noch (Pla­ton nennt sie die Gauk­ler) andere Gestal­ten. Sie bewe­gen sich vor dem Feuer hin­ter den Gefan­ge­nen, und ihre Schat­ten wer­fen sich auf die Wände der Höhle vor ihnen. Sie sind die (moder­nen) Intel­lek­tu­el­len, die Künst­ler, die Poli­ti­ker, die Desi­gner, die Psy­cho­lo­gen, die Mode­ra­to­ren, die Bera­ter… Sie bestim­men den Hin­blick, sie ent­wer­fen die Bil­der für die Men­schen. Die Gefan­ge­nen hal­ten ihre Schat­ten für das Wahre.
Über­haupt sehen die Men­schen sich und ihre Mit­ge­fan­ge­nen und die Gauk­ler als Schat­ten – sie sehen immer nur die Pro­jek­tion. Bei Homer ist “Schat­ten” der Name für die See­len der Toten.
Im Schat­ten­da­sein der Men­schen (in die­sem Traum in einem Traum) wird nun einer der Gefan­ge­nen von sei­nen Fes­seln erlöst. Er steht auf, geht einige Schritte, blickt hoch zum Licht, ist geblen­det, wen­det sich ab und blickt noch ein­mal hin … sieht, dass er bis jetzt ledig­lich das Abbild des wah­ren Lichts (von aus­ser­halb der Höhle) gese­hen hat und begreift unter Schmer­zen sein Gefangensein.

Der, der ihn los­ge­bun­den hat, war ein Leh­rer. Er hat dem Gefan­ge­nen eine neue Sicht­weise ermög­licht, hat ihn “sehend” gemacht. Dem aller­dings ist das helle Flim­mern des Lichts zunächst unge­wohnt, und er erkennt das Gese­hene nicht, er fin­det es unheim­lich und befremd­lich. Der Gefan­gene steht ganz am Anfang sei­ner neuen Frei­heit und muss ler­nen im Licht zu sehen. Seine Augen aber begin­nen zu schmer­zen. Bald will er nicht mehr ins Feuer des Lichts bli­cken, er will zurück zu den Schat­ten, und er wen­det sich ab und flieht zurück.
Der Ver­such einer Befrei­ung ist zunächst miss­lun­gen. Bil­dung – und das ist u.a. die wech­sel­weise Anwen­dung von Assi­mi­la­tion und Akko­mo­da­tion von Wahr­ge­nom­me­nem – ist Pla­ton zufolge etwas, das Men­schen nicht unbe­dingt wol­len… Man muss sie zum Sehen zwin­gen, ansons­ten zie­hen sie es vor, blind für das Licht zu bleiben.
Sokra­tes, der unbe­queme Leh­rer, wurde wegen sei­nes “schlech­ten Ein­flus­ses” auf die Jugend von den Athe­nern umge­bracht. Pla­ton sei­ner­seits hat seine Aka­de­mie aus­ser­halb der Polis errich­tet. Und Aris­to­te­les, der zehn Jahre lange Pla­tons Schü­ler in der Aka­de­mie war, ergriff in ähn­li­cher Situa­tion die Flucht aus Athen, als ihm der Ase­bie3)-Pro­zess gemacht wer­den sollte.
Leh­rer zu sein bedeu­tet, nach oben zu gehen und den Weg wie­der nach unten stei­gen zu müs­sen, um vom Gese­he­nen zu berich­ten… Wer jedoch von oben kommt, wird ver­lacht, wird nicht ernst genom­men, denn er berich­tet von merk­wür­di­gen Din­gen, die es gar nicht gibt. Bil­dung ist ein Pro­zess, der, je wei­ter er fort­schrei­tet, umso mehr Distanz zu den Blin­den bedeutet.

3. Das Bild vom Menschen

"Mich interessiert nicht wie du aussiehst." - "Aber wie können wir uns dann erkennen?" - "Ich kenne den Teil in dir, der keinen Namen hat und das ist es doch was wir sind, richtig?" (aus: "Stadt der Blinden")
“Mich inter­es­siert nicht wie du aus­siehst.” – “Aber wie kön­nen wir uns dann erken­nen?” – “Ich kenne den Teil in dir, der kei­nen Namen hat und das ist es doch was wir sind, rich­tig?” (aus: “Stadt der Blinden”)

 Schauen wir uns den Begriff “Bil­dung” noch näher an, fin­den wir ihn als einen Schlüs­sel­be­griff in der Epo­che Goe­thes. Hier wie aber auch schon zuvor bei Meis­ter Eck­hart, Johan­nes Tau­ler oder Hein­rich Seuse hat er sei­nen Ursprung in einem zen­tra­len Gedan­ken der Mys­tik. Das Bild ist die Gestalt, das Wesen des­sen, was ist (das grie­chi­sche idea und eidos ste­cken darin). Die Mys­tik denkt die Wie­der­ge­burt des Men­schen in drei Stu­fen: Ent­bil­den, Ein­bil­den und Über­bil­den. Ent­bil­den heisst frei wer­den von den Bil­dern die­ser Welt als Vor­aus­set­zung für die nächs­ten Stu­fen. Ziel ist das Sich-Hin­ein-Ver­wan­deln in Chris­tus bzw. das Eins-Wer­den mit dem Gött­li­chen. Trans­for­mari haben die Mys­ti­ker mit “Über­bil­den” über­setzt. Das trans gibt das Ziel an: das reine Licht des Gött­li­chen. Die christ­li­che mit­tel­al­ter­li­che Mys­tik denkt das Sein als Her­aus­bil­dung des im Men­schen ange­leg­ten Bil­des Gottes.
Aus der isla­mi­schen Mys­tik ist ein dem christ­li­chen nicht unähn­li­ches Bild  dazu bekannt: Der Sufi Al-Hal­ladsch hatte einen der 99 Namen Got­tes für sich sel­ber “bean­sprucht”, indem er den Aus­spruch anã al-haqq tat. Seine Lehre brachte ihm spä­ter eine Fatwa ein, seine in den Augen der dama­li­gen Reli­gi­ons­wäch­ter häre­ti­sche Aus­sage war mit dem Tode zu bestra­fen. Nie­mand, kein leben­der Mensch, konnte und kann nach exo­te­ri­scher Les­art wie Gott sein, son­dern immer nur durch Gott. In den Wer­ken der Sufi-Dich­ter wie u.a. Yunus Emre, Rumi und Nez­ami trifft man auf Al-Hal­ladschs Lehre der Eins-Wer­dung mit Gott bzw. der Auf­lö­sung des Ichs in Gott.
Der Haupt­ge­danke der Mys­tik – in moder­nen tages­ver­ständ­li­chen Wor­ten aus­ge­drückt – besagt, dass der Mensch sich zum Men­schen dadurch ent­wi­ckelt, dass das in ihm ange­legte Bild, sein Wesens­kern, sich ent­fal­tet. Ein Mensch kann wer­den, was er bereits ist – aber er kann nichts wer­den, das er nicht bereits in sich birgt. Was wie eine Begren­zung erschei­nen könnte, kann als Bestim­mung und Auf­gabe umschrie­ben wer­den. Diese zu erken­nen und zu erfah­ren ist die Eins-Wer­dung mit dem Gött­li­chen: das zu sein, als das man gedacht ist.

Mystik lehrt Demut

Unsere Zei­ten sind säku­lär-mora­lisch, ungern bezieht man sich auf diese Urbil­der, aus denen unser heu­ti­ger Begriff aber nun ein­mal her­vor­ge­gan­gen ist. Heute denkt man Bil­dung als etwas, das dem Men­schen “sozi­al­ge­recht” von aus­sen ange­tra­gen wird, ohne dass sie auf den Ein­zel­nen ein­geht. Päd­ago­gik ist ein Stu­di­en­fach, das Leh­rer unbe­dingt, Mys­tik eines, das sie ganz bestimmt nicht bele­gen müs­sen. Was die Mys­tik letzt­lich und para­do­xer­weise – und zwar unab­hän­gig von der vor­der­grün­di­gen Reli­gion – leh­ren kann, ist Demut.
Ein demü­ti­ger Leh­rer wie auch ein demü­ti­ger Schü­ler haben Ach­tung vor dem Sein. Die Neu­gier des Schü­lers rich­tet sich auf ganz bestimmte Dinge, die ihn befä­hi­gen, sich selbst zu erken­nen. Und selbst wenn der Schü­ler ler­nen muss, was in der Schule im Lehr­plan vor­ge­se­hen ist, ohne dass es eine vor­der­grün­dige Bezie­hung zu ihm hat, wird ein “mys­ti­scher” Leh­rer es schaf­fen, dem Schü­ler das Wis­sen der Welt ehr­fürch­tig ans Herz zu legen.

4. Bildung und Humboldt

„Hast du Angst deine Augen zu schliessen“ - „Nein, aber sie wieder zu öffnen.“ (aus: "Stadt der Blinden")
„Hast du Angst deine Augen zu schlies­sen“ – „Nein, aber sie wie­der zu öff­nen.“ (aus: “Stadt der Blinden”)

Etwa um die Jahr­hun­dert­wende von 1800 herum bezog man sich auf den mys­ti­schen Bil­dungs­be­griff – und aktua­li­sierte ihn. Jetzt ging es nicht mehr so sehr um die Ver­wirk­li­chung der Got­tes­ge­burt in der eige­nen Seele, als viel­mehr um die all­um­fas­sende Aus­bil­dung aller Fähig­kei­ten. – Diese Aus­bil­dung wird in einem Mit­tel­punkt (Wis­sen um die Bestim­mung des Men­schen) zen­triert. Der klas­si­sche Bil­dungs­be­griff geht in Rich­tung All­ge­mein­bil­dung, und Wil­helm von Hum­boldt hatte ein Ideal vor Augen. Sein Bil­dungs­ideal ent­wi­ckelte sich um die zwei Zen­tral­be­griffe der bür­ger­li­chen Auf­klä­rung: den Begriff des auto­no­men Indi­vi­du­ums und den Begriff des Welt­bür­ger­tums. Die Uni­ver­si­tät sollte ein Ort sein, an dem auto­nome Indi­vi­duen und Welt­bür-ger her­vor­ge­bracht wer­den bzw. sich selbst hervorbringen.

Wer ist man, wenn man Welt­bür­ger ist? – Welt­bür­ger sein heisst heute, sich mit den gros­sen Mensch­heits­fra­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Der dahin­ge­hend Gebil­dete bemüht sich um Frie­den, Gerech­tig­keit, um den Aus­tausch der Kul­tu­ren, andere Geschlech­ter­ver­hält­nisse oder eine neue Bezie­hung zur Natur.
Hum­boldt blickte auf den ein­zel­nen Men­schen als unver­wech­sel­ba­res, ein­zig­ar­ti­ges Indi­vi­duum. In die­sem Blick lag die Sehn­suchts­be­we­gung des mensch­li­chen Lebens: fest ver­wur­zelt sich bis an seine, ja, über seine Gren­zen hin­aus stre­cken zu kön­nen. Was tun junge Men­schen? – Sie gehen in die Welt hin­aus, neh­men sie in sich auf, ent­fal­ten die Fähig­kei­ten, die in der mensch­li­chen Natur lie­gen, stär­ken und üben sie. Anschlies­send keh­ren sie zurück und neh­men ihren Platz dort ein, wo sie ver­wur­zelt sind. Inwie­weit ist die­ses heute noch aktuell?

Andere Sprache = andere Weltsicht

Ein zwei­ter Exkurs zum Ler­nen von (Fremd)Sprachen – immer­hin ist Wil­helm von Hum­boldt auch “mein Zieh­va­ter”: Das Erler­nen frem­der Spra­chen hat nicht allein einen öko­no­mi­schen Nut­zen (der durch­aus in der Bil­dung von Men­schen liegt), son­dern einen Nut­zen in einem empha­ti­schen Sinn. Eine fremde Spra­che zu ler­nen, heisst näm­lich eine andere An-Sicht der Welt ken­nen zu ler­nen und eine andere Weise, sich in der Welt zu bewe­gen. Der Sprach­leh­rer kann als der Brin­ger eines neuen Selbst­ver­ständ­nis­ses, das das Eigene ergänzt und es berei­chert, gese­hen wer­den. Je mehr ich mir bewusst gemacht habe, desto mehr sehe ich in der Welt. Das, womit ich mich bekannt gemacht habe, ist mir nicht mehr fremd – ich muss es nicht mehr bekämp­fen. Ein Leh­rer, der ver­mag, die­ses Feuer in sei­nem Schü­ler zu wecken, ist ein Brü­cken­bauer, und der Schü­ler, der sein Feuer trägt, wird nicht mehr brand­schat­zen, son­dern wertschätzen.

5. Bildung und der Einzelne

"Er ist blind! Er ist weder gut noch schlecht. Er ist einfach nur blind." (aus: "Stadt der Blinden")
“Er ist blind! Er ist weder gut noch schlecht. Er ist ein­fach nur blind.” (aus: “Stadt der Blinden”)

In unse­rer heu­ti­gen (west­li­chen) Welt bre­chen uns die Tra­di­tio­nen ein, ach, wir stel­len sie der­art in Frage, als gälte es, uns in selbst­ver­nich­ten­dem Bestre­ben für eine grosse Schuld zu bestra­fen. Sinn­stif­tende Welt­bil­der sind auch in frü­he­ren Zei­ten immer wie­der zer­bro­chen, doch dann sind neue an ihre Stelle getre­ten. Jetzt scheint es, als seien die Men­schen gewis­ser­mas­sen expe­ri­men­tie­rend auf einem ziel­lo­sen Weg, auf dem das Indi­vi­duum noch nicht ein­mal unter­wegs erfährt, wer und was es ist. Da ist kaum Sub­stanz, kaum Wesen, das in einer indi­vi­du­el­len Lebens­ge­schichte zu ent­fal­ten wäre.
Um mit Sartre zu spre­chen: Selbst­ver­wirk­li­chung heisst heute Ver­wirk­li­chung von Nichts, näm­lich von nichts Vor­ge­ge­be­nem. Es bleibt das Expe­ri­ment, das der Mensch mit sich sel­ber macht. Wir sind inzwi­schen sogar noch wei­ter, als Sartre beschrieb. Inzwi­schen erschöpft sich das Leben in nichts weni­ger als in aber­wit­zi­gen Vor­gän­gen und Funk­tio­nen. Erleb­nis und Selbst­er­fah­rung, Selbst­ver­wirk­li­chung und Ent­fal­tung der je eige­nen Indi­vi­dua­li­tät sind heute unbe­dingte Werte, die alle anstre­ben – und para­do­xer­weise zeigt nach­ge­rade das vehe­mente Bestre­ben, sie zu errei­chen, ihre Abwe­sen­heit. Psy­cho­the­ra­pie wird zum Dau­er­zu­stand. Alle wol­len mehr und ande­res sein als die ande­ren, und als das, was sie in ihrem Kern wären, in ihren mit­ge­brach­ten Umstän­den sind. An die Stelle des Seins – wie gesagt – ist der Vor­gang getre­ten. Wir leben, indem wir tun und in der Welt agieren.
Meis­tens tun wir das durch das Set­zen von Regeln und ver­zeich­nen dabei den Ver­lust rea­ler All­ge­mein­heit. Das heisst, wir wis­sen nicht mehr, wer wir als Men­schen sind, und was wir als Men­schen zu sein hät­ten. Zusam­men mit der Tra­di­tion haben wir das Wis­sen um die Bestim­mung des Men­schen und um die Mensch­heit in uns verloren.

Gegen die Eltern, gegen die Schüler, gegen die Kollegen

Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem ich Ihnen von mei­nem Abste­cher an eine Schule, einer Stätte moder­nen Ler­nens und von Bil­dung erzäh­len muss. Obwohl ich keine aus­ge­bil­dete Päd­ago­gin mit Staats­examen und absol­vier­tem Refe­ren­da­riat bin, unter­nahm ich vor sie­ben Jah­ren den Ver­such, an einer öffent­li­chen Schule zu unter­rich­ten. Ich bewarb mich an einem Gym­na­sium auf eine Stelle als Deutsch­leh­re­rin. Knapp 49 Jahre alt war ich, und sehr gespannt auf das, was mich erwar­tete: zwei zehnte und eine neunte Klasse. Zuvor hatte ich mir Gedan­ken gemacht. Hier sind einige von ihnen zusam­men­ge­fasst, auf dass meine Sicht auf das Ler­nen und Unter­rich­ten deut­li­cher werde.

Gedanke 1: Ein Mensch lernt dort, wo er sich kon­fron­tie­ren kann, zu pro­vo­zie­ren ver­sucht oder Pro­vo­ka­tion erfährt. Wider­spruch ist im Lern­pro­zess sehr wich­tig. Wo er nicht mög­lich ist, und eigene und fremde Erkennt­nisse im Fra­gen nicht frei­ge­legt wer­den kön­nen, ver­siegt das Ler­nen und ein Glaube muss her.

Gedanke 2: Ler­nen ist nur dann und dort mög­lich, wenn und wo Men­schen frei sind, ihre Erkennt­nisse zu haben, und sich diese Frei­heit auch erlau­ben. Die­sen Gedan­ken habe ich bei Kon­fu­zius gefun­den. – Die Mög­lich­keit, die sich uns in einem klei­nen Zeit­fens­ter bot, war die der Mög­lich­keit, sich zu die­ser Frei­heit zu ent­schei­den. Das Fens­ter in der Zeit ist wie­der geschlos­sen, und die Errun­gen­schaf­ten der Mensch­wer­dung schei­nen im ewi­gen Kreis­lauf in einen neuen – ver­mut­lich nie­de­ren – Zustand überzugehen.

Gedanke 3: Einer von Kon­fu­zius‘ wesent­li­chen Gedan­ken war der der zwei­fa­chen Mensch­lich­keit. Diese besteht im Bewusst­sein der per­sön­li­chen Mitte und der Fähig­keit, andere gerecht und unpar­tei­isch zu behan­deln. Nur ein Mensch, der mit sich selbst im Rei­nen ist, kann das Wesen ande­rer Men­schen ver­ste­hen. Dann wird er im Umgang mit ande­ren keine Kon­flikte brau­chen, keine Ver­wick­lun­gen, weil er jene für etwas benutzt, das er ins Aus­sen über­tra­gen muss. Kämpfe zwi­schen Men­schen ent­ste­hen aus fal­schen Gewohn­hei­ten her­aus; Men­schen sind durch Kon­ven­tio­nen, deren Bedeu­tun­gen sie nicht ver­ste­hen, schlim­mer noch: durch Kon­ven­tio­nen, die mög­li­cher­weise bar jeder Bedeu­tung sind, von­ein­an­der getrennt.

Ich fand mich drei Fron­ten gegen­über: die eine bestand aus den Eltern. Oh, da ist eine Leh­re­rin, die kein Refe­ren­da­riat durch­lau­fen hat. Ist sie in der Lage, mit unse­ren Kin­dern umzu­ge­hen? – Ich sage es gleich hier: ja, ich war in der Lage. Die Eltern hatte ich am Ende des ers­ten Halb­jah­res durch­weg auf mei­ner Seite. Die zweite Front waren die Schü­ler. 75 an der Zahl, in einem Alter zwi­schen 13 und 16, gering­fü­gig mehr Mäd­chen als Jun­gen, einige der Schü­ler mit einer ande­ren Erst­spra­che als Deutsch. Dies Alter ist bekannt als jenes, in dem junge Her­an­wach­sende am aller­meis­ten mit sich selbst beschäf­tigt sind, mit ihrem erwach­sen­den Kör­per und ihrem erwa­chen­den Trieb in die Welt hin­ein. Sie haben Fra­gen und wol­len Antworten.

Die ers­ten Wochen ver­gin­gen mit Annä­he­run­gen – an den Unter­richt, an die ver­schie­de­nen Men­schen, an den Lern­stoff. Es kos­tete mich dop­pelt so viel und drei­mal mehr Zeit, den Stoff vor­zu­be­rei­ten als es einen rou­ti­nier­ten Leh­rer gekos­tet hätte. Ich fing mit allem bei Null an, auch mit der Noten­ge­bung und über­haupt mit den Bewer­tungs­richt­li­nien. Es kos­tete viel Geduld­en­er­gie, die Tests der Schü­ler zu durch­lau­fen, um ihnen zu bewei­sen, dass ich sie ernst nehme. Es bedurfte – im Nach­hin­ein bese­hen – gros­sen Mutes, Dinge zu tun, die “man sich” nicht mehr im Unter­richt leis­tete. Die ers­ten Strei­che über­stand ich, mit Rot­wer­den, mit Herz­klop­fen. Ich über­stand die Unlust­at­ta­cken, die sich im Lärm­pe­gel nie­der­lies­sen, den offe­nen Wider­stand mit Ver­wei­ge­run­gen. Ich bestand die Nagel­probe mit Thea­ter­be­such, Besuch einer Zei­tung und eines Kinos, und die ers­ten Zeug­nis­kon­fe­ren­zen. Danach hät­ten wir zur Nor­ma­li­tät über­ge­hen kön­nen, aber ich streckte die Segel.

Tiefenverbindung von Lernstoff und Lebensumfeld

Grund dafür war die Front Num­mer 3 – die Leh­rer­kol­le­gen. Dazu wei­ter unten mehr. Als die Schü­ler soweit Ver­trauen gefasst hat­ten, dass sie offen mit mir rede­ten, kam ihr Frust zutage. Wir wis­sen nicht, warum wir das ler­nen sol­len. Frau Deutsch­leh­re­rin stellte dann gleich etwas klar: ihr wisst sehr wohl, warum. Eure Frage ist: Wozu müs­sen wir das ler­nen? – Ihr fragt, was die aris­to­te­li­sche Poe­sie mit der Welt da draus­sen zu tun hat. Ihr fragt, was die rhe­to­ri­schen Mus­ter in Remar­ques “Im Wes­ten nichts Neues” mit eurer Rea­li­tät zu tun haben? – Ich sagte es ihnen. Ein Schü­ler fragte zwei­felnd, warum er eine Zwei im Refe­rat bekom­men hatte, wäh­rend der sons­tige Klas­sen­beste eine Drei bekam: ob ich wüsste, dass es anders­herum sein müsste. Ein ande­rer Schü­ler, sonst schrift­lich auf Vier abon­niert, bekam von mir eine Zwei. Einer, der kaum etwas sagte, ging mit einer Zwei nach Hause; eine Schü­le­rin, die sich stän­dig münd­lich äus­serte, mit einer Drei. Ich erspare uns hier Ein­zel­hei­ten. Um es zusam­men­zu­fas­sen: ich ver­suchte, den Lern­stoff mit dem Lebens­um­feld der Schü­ler in Zusam­men­klang zu brin­gen, ich stellte Tie­fen­ver­bin­dun­gen her und nahm mir dafür Zeit. Ich brachte unbe­kannte Kom­po­nis­ten via CD mit ins Klas­sen­zim­mer, und wir sahen uns gemein­sam einen Film an, bei dem die Schü­ler dar­auf gewet­tet hat­ten, ich würde ihn nicht ken­nen. Wir lasen eine ernst­hafte Lek­türe zu Faschis­mus und mach­ten ein Dreh­buch dar­aus, wir lasen Dür­ren­matt und ver­tief­ten uns in Medea, kamen bei Christa Wolf und dem Geteil­ten Him­mel her­aus. Sie lern­ten neben­bei so viel, weil sie nicht merk­ten, dass sie lern­ten, son­dern ihr geweck­tes Inter­esse still­ten. Die Klas­sen­ar­bei­ten, die wir schrie­ben, waren auf diese Art Ler­nen zuge-schnit­ten. Ich glaube, nach zwei Durch­gän­gen brauchte kei­ner mehr Angst zu haben, er würde völ­li­gen Unsinn ablie­fern. Denn ich hatte gesagt: das gibt es gar nicht! Natür­lich muss­ten wir in der Ver­gleichs­ar­beit schei­tern! Ich schei­terte, weil mich die Kol­le­gen nicht ein­be­zo­gen, was die Wahl des The­mas, seine Prä­sen­ta­tion und die Auf­ga­ben anging. Sie waren zu viert und sich einig, ich war alleine. Meine Schü­ler schei­ter­ten, denn ich hatte ihnen in nur sie­ben Mona­ten eine Art zu arbei­ten gezeigt, die sie auf­ge­weckt hatte, aber das war nicht vor­ge­se­hen. Ich hatte sie damit ver­dor­ben, und das liess man mich spüren.

Als ich es merkte, war die erste Hälfte des zwei­ten Halb­jah­res fast vor­bei. Ich beraumte eine Sit­zung mit mei­nen Schü­lern ein und eröff­nete ihnen, dass ich gehen würde. Nichts sagte ich von den Kol­le­gen, wohl aber sagte ich, dass ich merkte, ich wäre am fal­schen Ort. Sie ver­ra­ten uns! rie­fen sie zu Recht. Das sei nun mal so gelau­fen – ich hatte das nicht erwar­tet. Wei­ter­zu­ma­chen aber täte mir nicht gut, denn ich hätte immer das Gefühl, sie nicht auf das vor­zu­be­rei­ten, was von ihnen ver­langt würde. Ich eigne mich nicht zu die­ser Art von Aus­bil­der, und des­halb müsse ich gehen. Sie gin­gen heim, zwei Wochen spä­ter hatte der Schul­lei­ter einen Brief aller Klas­sen­ver­tre­ter mit der drin­gen­den Bitte, mei­nen Ver­trag zu ver­län­gern und mich da zu behal­ten, auf dem Tisch. Meine Ent­schei­dung aber war unumstösslich.

An die­ser Schule ist mir klar gewor­den: es geht nicht mehr um Bil­dung, es geht, wenn über­haupt auch das noch, um Aus-Bil­dung. Schü­ler sam­meln ein Wis­sen, das weit davon ent­fernt ist, in Zusam­men­hang mit ihrer Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung zu ste­hen, das ein­ge­at­met, und sobald die Klas­sen­ar­beit vor­über ist, wie­der aus­ge­at­met wird.

6. Der Mensch in der Bildungswüste

Die Bil­dung des Men­schen zu sich selbst, das Sehen­ler­nen des wah­ren Lich­tes, auf dass man sich und die ande­ren erkenne, die Viel­falt der Selbst­ver­ständ­nisse – alles das ist in einer Land­schaft des Unter­schied­lo­sen unter­ge­gan­gen. Es hat ganz schlei­chend ange­fan­gen. Viel­leicht mit der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion, viel­leicht mit der Indus­tria­li­sie­rung, viel­leicht mit dem Kapi­ta­lis­mus, der als die andere Seite des Kom­mu­nis­mus nicht viel anders als jener ist. – Alle Men­schen sind Funk­tion von etwas oder einem ande­ren. Alle Men­schen sind gleich. Erst vor dem Recht und schliess­lich vor den Vie­len. Gleich­ma­che­rei steht der Bil­dung des Eige­nen ent­ge­gen. Da, wo nicht unter­schie­den wird, wird auch nicht geach­tet, wert geschätzt. Dann haben wir die Ein­öde, die Wüste.

Exkurs: Über die Toleranz

„Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„Kein Ara­ber liebt die Wüste. Wir lie­ben Was­ser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: “Law­rence of Arabia”)

In einem papier­nen Auf­schrei hatte ich vor lan­ger Zeit ein­mal geschrie­ben, ich wolle nicht akzep­tiert, son­dern tole­riert wer­den (etwa: “Du musst mich nicht mögen oder mir zustim­men, aber lass mich sein, wie ich bin!”). Anschlies­send hatte ich in einem öde lan­gen Text ver­sucht, zu defi­nie­ren, was denn nun Tole­ranz und was Akzep­tanz sei. Am Ende war alles – von Augen Drit­ter unge­le­sen – in einem der digi­ta­len wie rea­len Ord­ner ver­schwun­den. Und war ver­ges­sen worden.
Nun habe ich ihn wie­der­ge­fun­den. Zu mei­nem Schre­cken ver­stand ich meine eige­nen Worte nicht mehr. – Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich sprach/schrieb sofort alar­miert mit etli­chen Leu­ten und erfragte ihre Defi­ni­tion von Tole­ranz und Akzep­tanz. Fragte dabei auch nach, wel­chem sie den Vor­rang geben wür­den. In mei­ner Ver­wir­rung hätte ich keine Pro­gnose abge­ben wol­len, ten­dierte aber immer noch zur Tole­ranz, wie vor Jah­ren. Die Befrag­ten aller­dings leg­ten den Schwer­punkt auf die Akzep­tanz. Akzep­tiert zu wer­den bedeute die Aner­ken­nung der Mei­nung, die man ver­trete, las ich da. Man werde mit den eige­nen Ansich­ten und Taten in eine Gemein­schaft, die diese für gut befände, aufgenommen.

Tole­ranz, sag­ten sie, sei eine Ein­stel­lung der Nicht(be)achtung. Eine, die in sich trage, dem Tole­ran­ten sei das Gegen­über egal. Man inter­es­siere sich nicht wirk­lich, son­dern bleibe unver­bind­lich und beziehe keine Posi­tion. In einem Arti­kel, den ich im Inter­net fand, las ich, dass etwas aus der Posi­tion eines Herr­schen­den her­aus zu akzep­tie­ren etwas völ­lig ande­res – sogar gegen­sätz­li­ches – sei als zu tole­rie­ren. Letz­te­res heisse, etwas zu dul­den und zu erlau­ben (auch etwas, das falsch sei, was natür­lich über­haupt nicht gehe!), wäh­rend ers­te­res bedeute, etwas als wün­schens­wert anzu­neh­men und zu för­dern. Tole­ranz sei eine Hal­tung des Ver­zichts auf ein bestimm­tes, klar umris­se­nes Men­schen­bild, dem­ge­mäss man als Ein­zel­ner die Gesell­schaft for­men könne. Zwar habe eine tole­rante Per­son eine unge­fähre Ahnung, wie sich Men­schen der eige­nen Mei­nung nach ver­hal­ten soll­ten, doch ob sie das auch wirk­lich täten, würde dann nicht wei­ter beach­tet. Das Füh­ren des eige­nen Lebens gehe jenen vor dem Ein­wir­ken auf das Leben der ande­ren, und das sei Gleich­gül­tig­keit. Ich ver­stummte und ging in mich.

"Was reizt Sie eigentlich persönlich an der Wüste?" - "Sie ist sauber." (aus: "Lawrence von Arabien")
“Was reizt Sie eigent­lich per­sön­lich an der Wüste?” – “Sie ist sau­ber.” (aus: “Law­rence von Arabien”)

Meine Ver­wir­rung wei­gerte sich beharr­lich zu wei­chen, nein, sie ver­grös­serte sich: war nicht frü­her, vor nicht allzu vie­len Jah­ren Tole­ranz der Wert in unse­rer Mitte, dem das grös­sere Gewicht bei­gemes­sen wurde? Was war aus Nathan dem Wei­sen aus der Ring­pa­ra­bel Les­sings gewor­den? Darin ging es doch um Tole­ranz, oder? Oder hatte ich alles falsch verstanden?
Mir fehlte ein ent­schei­den­der Bau­stein zum Ver­ständ­nis des haus­ge­mach­ten Unver­ständ­nis­ses, und ich ent­wi­ckelte den Ver­dacht, dass hier eine Umge­wich­tung, eine Umdeu­tung der Begriffe, die mich in ihren Stru­del geris­sen hatte, im Gange war.

Dogmatismus kontra Moral

Der feh­lende Bau­stein kam in Form einer Ziga­rette, die jemand vor der Tür eines Restau­rants ste­hend rauchte, daher. Ziga­ret­ten sind gefähr­lich, d.h. Rau­chen gefähr­det die Gesund­heit. Ist bekannt. Das hört und liest man aller­or­ten, steht auch auf den Schach­teln drauf. Also wird was dran sein. Wenn dem so ist, dann emp­fiehlt es sich, mög­lichst nicht zu rau­chen, inso­fern man gesund blei­ben will oder blei­ben muss. Das könnte man als Dogma for­mu­lie­ren. Ihr Arzt ver­tritt mög­li­cher­weise die­ses Dogma, d.h. er macht die Aus­sage der Gefähr­lich­keit der Ziga­ret­ten für sich zur aus­schliess­lich gül­ti­gen Aus­sage. Wenn Sie ihn auf­su­chen, wird er Ihnen nahe­le­gen – ein­ge­denk der spä­ter ein­tre­ten­den Fol­gen – sofort mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren. Er wird sagen: Sie soll­ten auf­hö­ren zu rau­chen, denn sonst… Und dann wird er Ihnen frei­stel­len, ob Sie sei­nen Rat befol­gen oder nicht. Der Mensch Arzt als Dog­ma­ti­ker wird Sie nicht per­sön­lich dafür abstra­fen, dass Sie Rau­cher sind. Er wird Sie aber viel­leicht durch­aus inter­es­siert fra­gen: Genies­sen Sie Ihre Ziga­ret­ten wenigs­tens? Und das meint er nicht ironisch.
Hat Ihr Arzt eine hohe Moral, dann wird er Ihnen eben­falls sagen, dass Sie auf­hö­ren soll­ten zu rau­chen. Er wird dies eben­falls mit der Gefähr­lich­keit begrün­den, und er wird anfüh­ren, dass Rau­chen auch die ande­ren Men­schen gefähr­det, jene, die in Ihrer Nähe leben, die Sie ein­ne­beln, die pas­siv mit­rau­chen. Er ist ein Mora­list, denn er wird eine bedroh­li­che Infor­ma­tion in sei­ner Emp­feh­lung mit­schwin­gen las­sen: Hör auf zu rau­chen, sonst müs­sen wir dich aus­schlies­sen, sonst müs­sen wir uns über­le­gen, wie wir dich vom Gegen­teil über­zeu­gen. Die Mora­lis­ten haben es inzwi­schen geschafft, die Rau­cher draus­sen vor die Tür zu schicken.

Verwischen der Begriffe in unserer Zeit

Ein Dog­ma­ti­ker kann tole­rie­ren, dass jemand etwas für sich Fal­sches tut, wenn er nur die Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns über­nimmt. Ein Mora­list muss jeman­den, der im Begriff ist, einen Feh­ler zu bege­hen, davon über­zeu­gen, es anders zu machen, näm­lich so, dass es mit der Mehr­heits­ge­mein­schaft kon­form geht. Ein Mora­list kann akzep­tie­ren, was sei­nen Grund­sät­zen ähn­lich ist. Es ist nicht so, dass ein Dog­ma­ti­ker nicht weiss, was für den ande­ren gut wäre – nur: er wird es nicht ein­for­dern. Das jedoch tut der Moralist.

„The trick, …, is, not minding that it hurts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„The trick, …, is, not min­ding that it hurts.“ (aus: “Law­rence of Arabia”)

In unse­ren Zei­ten ist diese Begriff­lich­keit ver­wischt. Weil Schwarz-Weiss ein Ideal ist und es die­ses real nicht gibt und folg­lich auch nicht geben darf, dafür immer nur ver­schie­dene Abstu­fun­gen von Grau, haben sich im Zuge der Rela­ti­vie­rung und Neu­tra­li­sie­rung Ver­wechs­lun­gen ein­ge­schli­chen. Das tut es immer, wenn man die Pole, zwi­schen denen sich das Leben abspielt, nicht mehr ein­deu­tig benen­nen darf. Immer gibt es und hat es Misch­ty­pen gege­ben. Inzwi­schen aller­dings kom­men Dog­ma­ti­ker mora­lisch ver­klei­det daher, und Mora­lis­ten wech­seln auch schon mal ins dog­ma­ti­sche Lager, wenn eine ange­sagte Mei­nung in eine andere Phase tritt. Was zu beob­ach­ten ist: wir haben einen gewoll­ten Über­hang zum Mora­li­schen. Die Werte an sich sind ver­lo­ren gegan­gen (sage nicht nur ich), der Ethos ist futsch. Statt­des­sen haben wir Nor­mie­run­gen und Regelungen.

7. Rekonstruktion von Bildung

Fas­sen wir zusam­men: Das Leben ist ein Traum oder ein Schat­ten­spiel. Die Men­schen darin – blind und ohn­mäch­tig – jene, die das, was wirk­lich ist, nicht sehen, die das, was kei­nes­wegs wirk­lich ist, für wirk­lich hal­ten. – Das war das Thema von Aischy­los, damit sind wir wie­der zurück bei den Grie­chen – und den Höh­len­men­schen. Die Blin­den, die Gefan­ge­nen könn­ten ler­nen zu sehen, und wol­len es doch nicht.

"Ein Blinder ist etwas Heiliges, einen Blinden bestiehlt man nicht." (aus: "Stadt der Blinden")
“Ein Blin­der ist etwas Hei­li­ges, einen Blin­den bestiehlt man nicht.” (aus: “Stadt der Blinden”)

Die Mys­tik mit dem Bild vom inne­woh­nen­den Wesen, das in einem Äus­se­ren ein­ge­wi­ckelt ist: die ganze Eiche ist bereits in der Eichel ange­legt, der Baum wird sich von innen nach aus­sen ent­fal­ten und ent­wi­ckeln. Das ist im Gro­ben das Wesen des mys­ti­schen Bil­dungs­we­ges. So könnte es aus­se­hen, doch die exo­te­ri­schen Aus­le­gun­gen haben der Mys­tik und den Men­schen die­sen Weg ver­sperrt. Es bleib in heu­ti­ger Zeit ein Abklatsch – die kom­mer­zi­elle Eso­te­rik, die in Dua­li­tät zum Ursprung geht.
Hum­boldt zeigte an der Gestalt eines Bau­mes die Bewe­gung auf, die Sehn­suchts­be­we­gung, die das mensch­li­che Leben vor­an­zieht: Über­haupt liegt in den Bäu­men ein unglaub­li­cher Cha­rak­ter der Sehn­sucht, wenn sie so fest und beschränkt im Boden ste­hen, und sich mit den Wip­feln, so weit sie kön­nen, über die Gren­zen der Wur­zeln hin­aus­be­we­gen. Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Sym­bol der Sehn­sucht zu sein. – In der Erde ver­wur­zelt, wis­send, wer wir sind, könn­ten wir die Welt erobern. Doch es ist etwas geschehen:
Statt Nächs­ten­liebe haben wir den Sozi­al­staat. Nächs­ten­liebe ist die Liebe zum Nächs­ten, den man in sei­nem Schick­sal zu ver­ste­hen sucht. Wir mil­dern uns gegen­sei­tig das Begrei­fen unse­rer Schick­sale, d.h. unse­rer jewei­li­gen Bestim­mun­gen, was uns nicht des­sen ent­hebt, uns selbst und unser Leben eigen­stän­dig zu leben. Im Nächs­ten tole­rie­ren wir sein je Eige­nes. Mit “sozial” hat das nichts zu tun.

Der Sozialstaat anstelle von Nächstenliebe

Wenn ich sozial bin, befinde ich mich von vor­ne­her­ein, als mich bedin­gend und sichernd, in einem Kol­lek­tiv. In einem Kol­lek­tiv geht es nie um den Ein­zel­nen, das Indi­vi­duum. Da kön­nen sie reden, wie sie wol­len: das geht nicht zusammen!

In der Nächs­ten­liebe wer­den die Unter­schiede zwi­schen den Men­schen bewahrt und geach­tet. Im Sozia­len geht es darum, diese Unter­schiede auf­zu­he­ben, so dass es keine Ein­zel­nen, keine Indi­vi­duen mehr gibt. Indem wir die Unter­schiede aus­glei­chen wol­len und die Dis­kri­mi­nie­rung (das Bezeich­nen der Unter­schiede, und im Zuge des­sen das Han­deln, das die­sem Bezeich­nen folgt) zu ver­mei­den ver­su­chen, geben wir die Mög­lich­keit zur Tole­ranz preis – und auch die Mög­lich­keit zur Ent­wick­lung des Ein­zel­nen zu dem Baum, der er ist. In einer sozia­len Mono­kul­tur ohne Unter­schiede gibt es keine Kon­kur­renz. Das könnte Frie­den bedeu­ten, sollte man mei­nen. Es wird auch so kom­mu­ni­ziert. In Wirk­lich­keit bedeu­tet es den Tod.

Die moderne Schule stiehlt den Kindern ihr Selbst

Der mora­li­sche Über­hang ist eine der Ursa­chen dafür, dass wir im Sozi­al­rausch die Chance auf Eigen­stän­dig­keit unse­res Seins ver­lie­ren und auf­ge­ben, und damit die Bil­dung unse­res Selbst. In der Aus­übung und im Vor­gang-Sein mei­nen wir, jeder­zeit ein­schrei­ten zu dür­fen und set­zen den Zwang zum Han­deln an die Stelle des Gesche­hen­las­sens. Wir sind schein­bar über­aus beweg­lich, dabei äus­ser­lich getrie­ben und inner­lich ein­ge­schlos­sen und iso­liert. Höhle – Sokrates!

Die meis­ten Leh­rer in den Schu­len, auf die unsere Kin­der gehen, sind davon über­zeugt, das Beste zum Bes­ten der Kin­der zu tun. Dass sie alles gel­ten las­sen, dabei bewer­ten, und die Bewer­tun­gen sofort rela­ti­vie­ren, weil nie­mand auf­grund eines Unter­schieds Vor­teile haben darf, ist täg­li­ches Brot.
Dass aber heute die Men­schen sich selbst gestoh­len wer­den, wird keine Medi­zin rich­ten kön­nen. Von der­lei Din­gen muss man spre­chen, wenn man über Bil­dungs­po­li­tik spricht, und von noch ande­ren mehr, die ich hier über­haupt nicht ange­spro­chen habe. ♦

1)Spra­che im wei­tes­ten Sinne, auch Dialekte
2)Kogni­tion: Zu den kogni­ti­ven Fähig­kei­ten zäh­len: die Wahr­neh­mung, die Auf­merk­sam­keit, die Erin­ne­rung, das Ler­nen, das Pro­blem­lö­sen, die Krea­ti­vi­tät, das Pla­nen, die Ori­en­tie­rung, die Ima­gi­na­tion, die Argu­men­ta­tion, die Intro­spek­tion, der Wille, das Glau­ben und einige mehr. Es geht im Wesent­li­chen um Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung. Der Begriff ist Gegen­stand eini­ger Dis­kus­sion; ich ver­wende ihn in Anleh­nung an die Arbei­ten der kogni­ti­ven Psy­cho­lo­gie, zusam­men­ge­fasst in Oer­ter & Mon­tada: Entwicklungspsychologie
3)Fre­vel gegen die Göt­ter.


Karin Afs­har

Karin Afshar - Glarean MagazinGeb. 1958 in der Eifel/D, Stu­dium der Sprach­wis­sen­schaft, Finn-Ugris­tik und Psy­cho­lo­gie, Pro­mo­tion, zahl­rei­che bel­le­tris­ti­sche und fach­wis­sen­schaft­li­che Publi­ka­tio­nen, lebt in Bornheim/D

Lesen Sie im Glarean Maga­zin von Karin Afs­har auch über Esther Kin­sky: Fremd­spre­chen – Das Übersetzen

… sowie über die Antho­lo­gie mit Sprach- und Bil­dungs-Essays von Mario Andreotti: Eine Kul­tur schafft sich ab

Ein Kommentar

  1. Bravo. Wun­der­bar einen sol­chen Bei­trag zu lesen am frü­hen Mor­gen. Da weiß man, daß es im Augen­blick wirk­lli­che Frei­hei­ten gibt.

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