Karin Afshar: Bildung und Schule (Essay)

Bildung heute – Spiegel innerer Besitzlosigkeit?

von Karin Afshar

Schu­le, Leh­rer, Ler­nen – das ist in al­ler, und wenn nicht in al­ler, dann doch in vie­ler Leu­te Mun­de, und stän­dig in den Me­di­en. Zu recht? Et­li­che Leh­rer schrei­ben of­fe­ne Brie­fe über die Un­er­zo­gen­heit von Schü­lern, El­tern sind auf­ge­bracht ge­gen Leh­rer und das re­struk­tu­rier­te und re­re­struk­tu­rier­te Sys­tem, und Buch­au­to­ren ana­ly­sie­ren die Bil­dungs­mi­se­re eben­so ve­he­ment wie Me­di­zi­ner kon­sta­tie­ren, dass die Kin­der Kon­zen­tra­ti­ons­de­fi­zi­te und Lern­stö­run­gen ha­ben, ja so­gar z.T. mit 10 Jah­ren auf dem emo­tio­na­len Stand von 16 Mo­na­te al­ten Klein­kin­dern stünden.

Ich tue ei­nen Stoss­seuf­zer: Bin ich froh, dass mei­ne Kin­der aus der Schu­le sind, und ich heu­te nicht mehr zur Schu­le gehe! Ich mei­ne nicht nur als Schü­le­rin, son­dern auch als Leh­re­rin. Und trotz­dem ma­che ich mir im­mer wie­der Ge­dan­ken zu mei­nem Lieb­lings­the­ma: Ler­nen und Bil­dung. Im Fol­gen­den gibt es et­was dazu, was Ler­nen mit den Men­schen und mit Bil­dung zu tun hat.

1. Vom Wesen des Lernens

Men­schen ler­nen. Kin­der ler­nen krab­beln, lau­fen, spre­chen. Sie ler­nen, wie man mit der Sche­re aus­schnei­det, wie man sich an- und aus­zieht; sie ler­nen selb­stän­dig zu es­sen und zur Toi­let­te zu ge­hen… Sie ler­nen im Kin­der­gar­ten, in der Schu­le, in der Leh­re, auf der Uni­ver­si­tät … so geht es im­mer wei­ter. “Ler­nen” ist Ent­wick­lung. Jede Ent­wick­lung hat un­ter­schied­li­che Stu­fen, de­ren jede ge­nom­men wer­den muss, be­vor es zur nächst hö­he­ren Stu­fe geht.
Je nach ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­scher Schu­le (z.B. Jean Pia­get) oder ko­gni­ti­ons-psy­cho­lo­gi­scher Schu­le (z.B. Je­ro­me Bru­ner) wer­den die Phasen/Stufen der ers­ten Jah­re un­ter­schied­lich be­nannt, sa­gen je­doch in der Es­senz: Die Ent­wick­lung geht vom Ein­fa­chen zum Kom­ple­xen, und (haupt­säch­lich Pia­gets Prä­mis­se): kei­ne spä­te­re Pha­se kann ohne die voll­stän­di­ge Er­lan­gung der frü­he­ren er­reicht werden.
Im Ein­zel­nen – weil es wich­tig ist, uns das We­sen des Ler­nens zu ver­an­schau­li­chen – kön­nen die Sta­di­en wie folgt cha­rak­te­ri­siert werden:

Ein Sta­di­um um­fasst ei­nen Zeit­raum, in dem ein be­stimm­tes Sche­ma in sei­ner Struk­tur be­grif­fen und schliess­lich an­ge­wen­det wird.
Bei­spiel: Zwi­schen dem 4. und dem 8. Le­bens­mo­nat ent­deckt ein Kind, dass es durch ei­ge­ne Ak­ti­vi­tä­ten be­stimm­te Ef­fek­te in der Um­welt her­vor­ru­fen kann. Es wirft die Ras­sel aus dem Kin­der­wa­gen – die Mut­ter wird sich bü­cken, und sie ihm wie­der in die Hand geben.

Im Kind wächst die Fä­hig­keit zwi­schen ei­nem ge­wünsch­ten Ziel/einer er­wünsch­ten Re­ak­ti­on und dem an­ge­wand­ten Mit­tel zur Er­rei­chung des Ziels zu unterscheiden.

Je­des Sta­di­um geht aus ei­nem vor­an­ge­gan­ge­nen her­vor, be­zieht das Ge­lern­te ein und wen­det es in an­de­ren Zu­sam­men­hän­gen an.
Bei­spiel: Zwi­schen dem 8. und dem 12. Le­bens­mo­nat pro­biert das Kind aus, wie und wo­mit es die Auf­merk­sam­keit von Per­so­nen er­we­cken kann. Es wirft den Ge­gen­stand viel­leicht nicht mehr weg, son­dern macht Lärm mit ihm. Wei­ter­hin wer­den die be­reits vor­han­de­nen Sche­ma­ta im­mer bes­ser ko­or­di­niert und so­mit Be­we­gungs­ab­läu­fe flüssiger.

Die Sta­di­en lau­fen im­mer in der glei­chen Rei­hen­fol­ge ab. Zwar kann es leich­te kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de in der Aus­klei­dung der Ope­ra­tio­nen ge­ben, auch kön­nen sie ver­schie­den schnell oder lang­sam durch­lau­fen wer­den – aber dass sie in ge­än­der­ter Ab­fol­ge auf­tre­ten, ist nicht möglich.

Alle Kin­der durch­lau­fen die Sta­di­en. Bleibt ein Kind in ei­nem Sta­di­um ste­cken, han­delt es sich um eine Ent­wick­lungs­ver­zö­ge­rung oder Retardierung.

Je­des Sta­di­um schrei­tet vom Wer­den zum Sein.

Fünf relevante Intelligenz-Entwicklungsstufen

Die Stu­fen im Ein­zel­nen: der Stu­fe der Ent­wick­lung der sen­su­mo­to­ri­schen In­tel­li­genz (0 bis 1,6/2,0 Jah­re) folgt die Stu­fe des sym­bo­li­schen oder vor­be­griff­li­chen Den­kens (ca. 1,6/2,0 – 4,0 Jah­re), dann kommt die Stu­fe des an­schau­li­chen Den­kens (4,0-7,0/8,0), ge­folgt von der Stu­fe des kon­kret-ope­ra­ti­ven Den­kens (7,0/8,0-11,0/12,0 Jah­re) und der Stu­fe des for­ma­len Den­kens (ab dem 12. Lebensalter).

Bei­spiel: Der be­kann­tes­te Ver­such von Pia­get zeigt an­schau­lich die “lo­gi­schen Irr­tü­mer” der un­ter 7-Jäh­ri­gen: Zei­gen Sie Ih­rem Kind ein brei­tes Ge­fäss (viel­leicht eine Brot­do­se) mit Was­ser und schüt­ten Sie das Was­ser vor sei­nen Au­gen in ein ho­hes schma­les Glas um. Zu Be­ginn der prä­ope­ra­tio­na­len Pha­se wird Ihr Kind mei­nen, dass im Glas viel mehr Was­ser ist, als in der Brot­do­se war. Erst mit ei­nem Al­ter von ca. 7 Jah­ren “wis­sen” Kin­der, dass die Flüs­sig­keits­men­ge sich beim Um­schüt­ten nicht verändert.

Bei­spiel: Ab ca. 4 Jah­ren, in der in­tui­ti­ven, an­schau­li­chen Pha­se, ver­min­dern sich zwar ei­ni­ge “lo­gi­sche Irr­tü­mer”, den­noch ist das Den­ken der Kin­der stark ego­zen­trisch, d.h. sie be­trach­ten die Welt aus­schliess­lich von ih­rer War­te aus: Das Kind hat sei­ne An­sicht und hält sei­ne An­sicht für die ein­zig mög­li­che und so­mit auch für die ein­zig ak­zep­ta­ble. Ein ego­zen­tri­sches Kind kann sich die Sicht­wei­se an­de­rer nicht zu ei­gen zu ma­chen, denn Ego­zen­tris­mus be­deu­tet nicht etwa Ich­be­zo­gen­heit, son­dern ganz ein­fach nur die Schwie­rig­keit, sich eine Sa­che oder aus ei­ner an­de­ren Sicht an­zu­se­hen oder sich in eine an­de­re Per­son hin­ein­zu­ver­set­zen. (Die­ser Satz wird spä­ter noch wich­tig werden!)

Bei­spiel (nach Mönks & Knoers 1996):
– Pe­ter, hast du ei­nen Bruder?

– Ja.
– Wie heisst denn dein Bruder?
– Hans.
– Hat Hans auch ei­nen Bruder?
– Nein.

Al­les Ler­nen ist ein ste­ti­ger Pro­zess, in dem der Ler­nen­de – in un­se­rem Bei­spiel das Kind – im­mer wie­der ein Gleich­ge­wicht her­zu­stel­len ver­sucht. Die An­pas­sung vor­han­de­ner Sche­ma­ta an eine ak­tu­el­le Si­tua­ti­on geht in zwei Teil­pro­zes­sen vor sich: As­si­mi­la­ti­on und Akkommodation.

Bei­spiel: Ein Kind hat be­reits ge­lernt, ei­nen Ap­fel zum Mund zu füh­ren, den Mund zu öff­nen und ein Stück ab­zu­beis­sen. Jetzt be­kommt es eine Bir­ne – und wird in sie hin­ein­beis­sen. Es er­kennt Ap­fel und Bir­ne als ähnlich.

As­si­mi­la­ti­on be­deu­tet die Ein­glie­de­rung neu­er Si­tua­tio­nen oder Er­leb­nis­se in ein be­reits be­stehen­des Sche­ma (um in der Be­griffs­welt von Pia­get zu blei­ben). Die Wahr­neh­mung der Ähn­lich­keit von Ap­fel und Bir­ne führt dazu, dass das Sche­ma “grün-an­nä­hernd rund-ess­bar” an-ge­wen­det, be­stä­tigt und um ein neu­es Ele­ment er­wei­tert wird. As­si­mi­la­ti­on ist die Re­ak­ti­on auf eine Si­tua­ti­on, die auf be­reits in uns ab­ge­bil­de­tes Wis­sen oder Er­fah­run­gen trifft.

Bei­spiel: Ein an­de­res Kind ver­sucht, in ei­nen Plas­tik­a­p­fel zu beis­sen. Auch sein Sche­ma sagt: “grün-ap­fel­för­mig-ess­bar”. Von ei­nem Plas­tik­a­p­fel aber kann es nichts ab­beis­sen – das Kind muss ak­kom­mo­die­ren und sein Sche­ma in­so­fern dif­fe­ren­zie­ren, als ech­te Äp­fel und un­ech­te Äp­fel ver­schie­de­ne Ka­te­go­rien bilden.

Ak­kom­mo­da­ti­on tritt auf den Plan, wenn die As­si­mi­la­ti­on nicht aus­reicht, eine wahr­ge­nom­me­ne Si­tua­ti­on mit den vor­han­de­nen Sche­ma­ta zu be­wäl­ti­gen. Die­se wer­den er­wei­tert und an­ge­passt. Ak­kom­mo­da­ti­on ist die Re­ak­ti­on auf eine Si­tua­ti­on, die noch nicht in uns ab­ge­bil­det ist.

Vom Einfachen zum Komplexen

Ich könn­te vie­le wei­te­re Bei­spie­le für die phan­tas­ti­sche Leis­tung der kind­li­chen Ent­wick­lungs­we­ge an­brin­gen, möch­te aber nun doch vom Ent­wi­ckeln zum Ler­nen kom­men. Ler­nen als Ge­gen­satz zum Er­werb kön­nen wir am Bei­spiel von Spre­chen und Spra­chen betrachten:
Eine ers­te Spra­che er­wirbt je­der Mensch als  Kind. Man­che Kin­der er­wer­ben zwei oder drei Spra­chen1) gleich­zei­tig. Von Er­werb spricht man, wenn das An­eig­nen “un­ge­steu­ert” und ohne An­lei­tung ge­schieht. Die Ent­wick­lung der Ko­gni­ti­on2) ist bei ei­nem Kind noch nicht ab­ge­schlos­sen, was be­deu­tet, dass der kind­li­che Sprach­er­werb mit der Ent­wick­lung des Den­kens, des Wahr­neh­mens und des Be­zeich­nens ein­her­geht. Noch an­ders aus­ge­drückt: als “Er­werb” be­zeich­net man ei­nen un­be­wuss­ten Pro­zess, der ohne An­lei­tung, durch Kon­tak­te in ei­ner na­tür­li­chen Um­ge­bung in all­täg­li­chen so­zia­len Zu­sam­men­hän­gen (z.B. beim Ein­kau­fen oder auf der Stras­se) auskommt.
Spra­chen­ler­nen da­ge­gen er­folgt be­wusst, ist an­ge­lei­tet, wird ge­steu­ert. Je­des Ler­nen bzw. je­der Ler­nen­de be­dient sich der Ko­gni­ti­on. Leh­rer in­ner­halb von In­sti­tu­tio­nen (Schu­len) oder aus­ser­halb die­ser struk­tu­rie­ren den Lern­fort­gang und ge­ben An­lei­tun­gen. Schu­li­sches Ler­nen vor Er­rei­chen ei­ner be­stimm­ten Ko­gni­ti­ons­stu­fe (vergl. Pia­get oder Bru­ner) macht kei­nen gros­sen Sinn, son­dern stört nach­ge­ra­de. Die Auf­ga­be des Leh­rers im Lern­pro­zess des Schü­lers ist, den Stand sei­nes Schü­lers ein­zu­schät­zen und nach ei­ner be­wäl­tig­ten Un­ter­richts­ein­heit den nächs­ten Schritt vorzugeben.
Auch das Ler­nen folgt dem Prin­zip “Vom Ein­fa­chen zum Kom­ple­xen”, und be­vor kom­ple­xe Struk­tu­ren ver­stan­den wer­den, müs­sen die ein­fa­chen Ope­ra­tio­nen sit­zen und hin­rei­chend ein­ge­übt sein. Es ist am Leh­rer, die An­lei­tun­gen hilf­reich und ver­ständ­lich an­zu­brin­gen. Un­ter­richt ist dann am er­gie­bigs­ten und mo­ti­vie­rends­ten, wenn er mit dem We­sen der Schü­ler in Ein­klang steht. Ein Un­ter­richt mit ei­nem Lern­stoff, der den Schü­ler er­reicht, wird ihn bil­den. Leh­rer, die auf ihre Schü­ler ein­ge­hen, sind wie Heb­am­men, die he­ben, was be­reits in je­nen schlum­mert und An­lei­tun­gen ge­ben, die die Ge­bä­ren­den be­fol­gen kön­nen. An das be­reits Ei­ge­ne kön­nen die­se dann die In­for­ma­tio­nen der Welt knüp­fen und as­si­mi­lie­ren. Und was sie nicht in sich fin­den, son­dern im Aus­sen neu er­ken­nen, hilft ih­nen ihre In­nen­welt zu er­wei­tern. Ein Leh­rer öff­net Au­gen, Oh­ren und Her­zen und ist im Le­ben von Men­schen, und nicht nur von jun­gen, enorm wich­tig. Des­halb muss ein Leh­rer ein Mensch sein, der sich selbst gut kennt. Denn wenn er sein Ei­ge­nes er­kannt hat, kann er an­de­re Men­schen erkennen.

2. Bildung und das Höhlen-Gleichnis (Platon)

"Das Einzige, das schlimmer ist als zu erblinden, ist als Einzige zu sehen.“ (aus: "Stadt der Blinden") - Illustrationen: K. Afshar
“Das Ein­zi­ge, das schlim­mer ist als zu er­blin­den, ist als Ein­zi­ge zu se­hen.“ (aus: “Stadt der Blin­den”) – Il­lus­tra­tio­nen: K. Afshar

Die un­ter­ir­di­sche Höh­le ist bei den Grie­chen all­ge­mein ein Bild für den Ha­des, das Reich der To­ten. Pla­tons Höh­le steht für un­se­re all­täg­li­che Welt, in der wir le­ben. Wir Men­schen, so zeigt uns Pla-ton in sei­nem Gleich­nis, sind Ge­fan­ge­ne in un­se­rer ge­wohn­ten Behausung.
Ober­halb von und hin­ter den Ge­fan­ge­nen brennt ein Feu­er. Die Höh­le wird von die­sem Feu­er be­leuch­tet. Die Ge­fan­ge­nen sit­zen nun un­be­weg­lich da, denn sie sind an ihre Sit­ze ge­fes­selt. Das heisst nicht etwa, dass sie sich nicht be­we­gen, nein, sie sind sehr rege, was Ver­kehr, Wett­streit und an­de­res an­geht. Nur sind sie un­be­weg­lich, was ihre Ein­stel­lun­gen an­geht. Sie ha­ben eine un­ver­än­der­li­che Ein­stel­lung zu dem, was sie für das Wirk­li­che halten.
Aus­ser den Ge­fan­ge­nen gibt es nun noch (Pla­ton nennt sie die Gauk­ler) an­de­re Ge­stal­ten. Sie be­we­gen sich vor dem Feu­er hin­ter den Ge­fan­ge­nen, und ihre Schat­ten wer­fen sich auf die Wän­de der Höh­le vor ih­nen. Sie sind die (mo­der­nen) In­tel­lek­tu­el­len, die Künst­ler, die Po­li­ti­ker, die De­si­gner, die Psy­cho­lo­gen, die Mo­de­ra­to­ren, die Be­ra­ter… Sie be­stim­men den Hin­blick, sie ent­wer­fen die Bil­der für die Men­schen. Die Ge­fan­ge­nen hal­ten ihre Schat­ten für das Wahre.
Über­haupt se­hen die Men­schen sich und ihre Mit­ge­fan­ge­nen und die Gauk­ler als Schat­ten – sie se­hen im­mer nur die Pro­jek­ti­on. Bei Ho­mer ist “Schat­ten” der Name für die See­len der Toten.
Im Schat­ten­da­sein der Men­schen (in die­sem Traum in ei­nem Traum) wird nun ei­ner der Ge­fan­ge­nen von sei­nen Fes­seln er­löst. Er steht auf, geht ei­ni­ge Schrit­te, blickt hoch zum Licht, ist ge­blen­det, wen­det sich ab und blickt noch ein­mal hin … sieht, dass er bis jetzt le­dig­lich das Ab­bild des wah­ren Lichts (von aus­ser­halb der Höh­le) ge­se­hen hat und be­greift un­ter Schmer­zen sein Gefangensein.

Der, der ihn los­ge­bun­den hat, war ein Leh­rer. Er hat dem Ge­fan­ge­nen eine neue Sicht­wei­se er­mög­licht, hat ihn “se­hend” ge­macht. Dem al­ler­dings ist das hel­le Flim­mern des Lichts zu­nächst un­ge­wohnt, und er er­kennt das Ge­se­he­ne nicht, er fin­det es un­heim­lich und be­fremd­lich. Der Ge­fan­ge­ne steht ganz am An­fang sei­ner neu­en Frei­heit und muss ler­nen im Licht zu se­hen. Sei­ne Au­gen aber be­gin­nen zu schmer­zen. Bald will er nicht mehr ins Feu­er des Lichts bli­cken, er will zu­rück zu den Schat­ten, und er wen­det sich ab und flieht zurück.
Der Ver­such ei­ner Be­frei­ung ist zu­nächst miss­lun­gen. Bil­dung – und das ist u.a. die wech­sel­wei­se An­wen­dung von As­si­mi­la­ti­on und Ak­ko­mo­da­ti­on von Wahr­ge­nom­me­nem – ist Pla­ton zu­fol­ge et­was, das Men­schen nicht un­be­dingt wol­len… Man muss sie zum Se­hen zwin­gen, an­sons­ten zie­hen sie es vor, blind für das Licht zu bleiben.
So­kra­tes, der un­be­que­me Leh­rer, wur­de we­gen sei­nes “schlech­ten Ein­flus­ses” auf die Ju­gend von den Athe­nern um­ge­bracht. Pla­ton sei­ner­seits hat sei­ne Aka­de­mie aus­ser­halb der Po­lis er­rich­tet. Und Aris­to­te­les, der zehn Jah­re lan­ge Pla­tons Schü­ler in der Aka­de­mie war, er­griff in ähn­li­cher Si­tua­ti­on die Flucht aus Athen, als ihm der Ase­bie3)-Pro­zess ge­macht wer­den sollte.
Leh­rer zu sein be­deu­tet, nach oben zu ge­hen und den Weg wie­der nach un­ten stei­gen zu müs­sen, um vom Ge­se­he­nen zu be­rich­ten… Wer je­doch von oben kommt, wird ver­lacht, wird nicht ernst ge­nom­men, denn er be­rich­tet von merk­wür­di­gen Din­gen, die es gar nicht gibt. Bil­dung ist ein Pro­zess, der, je wei­ter er fort­schrei­tet, umso mehr Di­stanz zu den Blin­den bedeutet.

3. Das Bild vom Menschen

"Mich interessiert nicht wie du aussiehst." - "Aber wie können wir uns dann erkennen?" - "Ich kenne den Teil in dir, der keinen Namen hat und das ist es doch was wir sind, richtig?" (aus: "Stadt der Blinden")
“Mich in­ter­es­siert nicht wie du aus­siehst.” – “Aber wie kön­nen wir uns dann er­ken­nen?” – “Ich ken­ne den Teil in dir, der kei­nen Na­men hat und das ist es doch was wir sind, rich­tig?” (aus: “Stadt der Blinden”)

 Schau­en wir uns den Be­griff “Bil­dung” noch nä­her an, fin­den wir ihn als ei­nen Schlüs­sel­be­griff in der Epo­che Goe­thes. Hier wie aber auch schon zu­vor bei Meis­ter Eck­hart, Jo­han­nes Tau­ler oder Hein­rich Seu­se hat er sei­nen Ur­sprung in ei­nem zen­tra­len Ge­dan­ken der Mys­tik. Das Bild ist die Ge­stalt, das We­sen des­sen, was ist (das grie­chi­sche idea und ei­dos ste­cken dar­in). Die Mys­tik denkt die Wie­der­ge­burt des Men­schen in drei Stu­fen: Ent­bil­den, Ein­bil­den und Über­bil­den. Ent­bil­den heisst frei wer­den von den Bil­dern die­ser Welt als Vor­aus­set­zung für die nächs­ten Stu­fen. Ziel ist das Sich-Hin­ein-Ver­wan­deln in Chris­tus bzw. das Eins-Wer­den mit dem Gött­li­chen. Trans­for­ma­ri ha­ben die Mys­ti­ker mit “Über­bil­den” über­setzt. Das trans gibt das Ziel an: das rei­ne Licht des Gött­li­chen. Die christ­li­che mit­tel­al­ter­li­che Mys­tik denkt das Sein als Her­aus­bil­dung des im Men­schen an­ge­leg­ten Bil­des Gottes.
Aus der is­la­mi­schen Mys­tik ist ein dem christ­li­chen nicht un­ähn­li­ches Bild  dazu be­kannt: Der Sufi Al-Hal­ladsch hat­te ei­nen der 99 Na­men Got­tes für sich sel­ber “be­an­sprucht”, in­dem er den Aus­spruch anã al-haqq tat. Sei­ne Leh­re brach­te ihm spä­ter eine Fat­wa ein, sei­ne in den Au­gen der da­ma­li­gen Re­li­gi­ons­wäch­ter hä­re­ti­sche Aus­sa­ge war mit dem Tode zu be­stra­fen. Nie­mand, kein le­ben­der Mensch, konn­te und kann nach exo­te­ri­scher Les­art wie Gott sein, son­dern im­mer nur durch Gott. In den Wer­ken der Sufi-Dich­ter wie u.a. Yu­nus Emre, Rumi und Ne­z­a­mi trifft man auf Al-Hal­ladschs Leh­re der Eins-Wer­dung mit Gott bzw. der Auf­lö­sung des Ichs in Gott.
Der Haupt­ge­dan­ke der Mys­tik – in mo­der­nen ta­ges­ver­ständ­li­chen Wor­ten aus­ge­drückt – be­sagt, dass der Mensch sich zum Men­schen da­durch ent­wi­ckelt, dass das in ihm an­ge­leg­te Bild, sein We­sens­kern, sich ent­fal­tet. Ein Mensch kann wer­den, was er be­reits ist – aber er kann nichts wer­den, das er nicht be­reits in sich birgt. Was wie eine Be­gren­zung er­schei­nen könn­te, kann als Be­stim­mung und Auf­ga­be um­schrie­ben wer­den. Die­se zu er­ken­nen und zu er­fah­ren ist die Eins-Wer­dung mit dem Gött­li­chen: das zu sein, als das man ge­dacht ist.

Mystik lehrt Demut

Un­se­re Zei­ten sind sä­ku­lär-mo­ra­lisch, un­gern be­zieht man sich auf die­se Ur­bil­der, aus de­nen un­ser heu­ti­ger Be­griff aber nun ein­mal her­vor­ge­gan­gen ist. Heu­te denkt man Bil­dung als et­was, das dem Men­schen “so­zi­al­ge­recht” von aus­sen an­ge­tra­gen wird, ohne dass sie auf den Ein­zel­nen ein­geht. Päd­ago­gik ist ein Stu­di­en­fach, das Leh­rer un­be­dingt, Mys­tik ei­nes, das sie ganz be­stimmt nicht be­le­gen müs­sen. Was die Mys­tik letzt­lich und pa­ra­do­xer­wei­se – und zwar un­ab­hän­gig von der vor­der­grün­di­gen Re­li­gi­on – leh­ren kann, ist Demut.
Ein de­mü­ti­ger Leh­rer wie auch ein de­mü­ti­ger Schü­ler ha­ben Ach­tung vor dem Sein. Die Neu­gier des Schü­lers rich­tet sich auf ganz be­stimm­te Din­ge, die ihn be­fä­hi­gen, sich selbst zu er­ken­nen. Und selbst wenn der Schü­ler ler­nen muss, was in der Schu­le im Lehr­plan vor­ge­se­hen ist, ohne dass es eine vor­der­grün­di­ge Be­zie­hung zu ihm hat, wird ein “mys­ti­scher” Leh­rer es schaf­fen, dem Schü­ler das Wis­sen der Welt ehr­fürch­tig ans Herz zu legen.

4. Bildung und Humboldt

„Hast du Angst deine Augen zu schliessen“ - „Nein, aber sie wieder zu öffnen.“ (aus: "Stadt der Blinden")
„Hast du Angst dei­ne Au­gen zu schlies­sen“ – „Nein, aber sie wie­der zu öff­nen.“ (aus: “Stadt der Blinden”)

Etwa um die Jahr­hun­dert­wen­de von 1800 her­um be­zog man sich auf den mys­ti­schen Bil­dungs­be­griff – und ak­tua­li­sier­te ihn. Jetzt ging es nicht mehr so sehr um die Ver­wirk­li­chung der Got­tes­ge­burt in der ei­ge­nen See­le, als viel­mehr um die all­um­fas­sen­de Aus­bil­dung al­ler Fä­hig­kei­ten. – Die­se Aus­bil­dung wird in ei­nem Mit­tel­punkt (Wis­sen um die Be­stim­mung des Men­schen) zen­triert. Der klas­si­sche Bil­dungs­be­griff geht in Rich­tung All­ge­mein­bil­dung, und Wil­helm von Hum­boldt hat­te ein Ide­al vor Au­gen. Sein Bil­dungs­ide­al ent­wi­ckel­te sich um die zwei Zen­tral­be­grif­fe der bür­ger­li­chen Auf­klä­rung: den Be­griff des au­to­no­men In­di­vi­du­ums und den Be­griff des Welt­bür­ger­tums. Die Uni­ver­si­tät soll­te ein Ort sein, an dem au­to­no­me In­di­vi­du­en und Welt­bür-ger her­vor­ge­bracht wer­den bzw. sich selbst hervorbringen.

Wer ist man, wenn man Welt­bür­ger ist? – Welt­bür­ger sein heisst heu­te, sich mit den gros­sen Mensch­heits­fra­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Der da­hin­ge­hend Ge­bil­de­te be­müht sich um Frie­den, Ge­rech­tig­keit, um den Aus­tausch der Kul­tu­ren, an­de­re Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­se oder eine neue Be­zie­hung zur Natur.
Hum­boldt blick­te auf den ein­zel­nen Men­schen als un­ver­wech­sel­ba­res, ein­zig­ar­ti­ges In­di­vi­du­um. In die­sem Blick lag die Sehn­suchts­be­we­gung des mensch­li­chen Le­bens: fest ver­wur­zelt sich bis an sei­ne, ja, über sei­ne Gren­zen hin­aus stre­cken zu kön­nen. Was tun jun­ge Men­schen? – Sie ge­hen in die Welt hin­aus, neh­men sie in sich auf, ent­fal­ten die Fä­hig­kei­ten, die in der mensch­li­chen Na­tur lie­gen, stär­ken und üben sie. An­schlies­send keh­ren sie zu­rück und neh­men ih­ren Platz dort ein, wo sie ver­wur­zelt sind. In­wie­weit ist die­ses heu­te noch aktuell?

Andere Sprache = andere Weltsicht

Ein zwei­ter Ex­kurs zum Ler­nen von (Fremd)Sprachen – im­mer­hin ist Wil­helm von Hum­boldt auch “mein Zieh­va­ter”: Das Er­ler­nen frem­der Spra­chen hat nicht al­lein ei­nen öko­no­mi­schen Nut­zen (der durch­aus in der Bil­dung von Men­schen liegt), son­dern ei­nen Nut­zen in ei­nem em­pha­ti­schen Sinn. Eine frem­de Spra­che zu ler­nen, heisst näm­lich eine an­de­re An-Sicht der Welt ken­nen zu ler­nen und eine an­de­re Wei­se, sich in der Welt zu be­we­gen. Der Sprach­leh­rer kann als der Brin­ger ei­nes neu­en Selbst­ver­ständ­nis­ses, das das Ei­ge­ne er­gänzt und es be­rei­chert, ge­se­hen wer­den. Je mehr ich mir be­wusst ge­macht habe, des­to mehr sehe ich in der Welt. Das, wo­mit ich mich be­kannt ge­macht habe, ist mir nicht mehr fremd – ich muss es nicht mehr be­kämp­fen. Ein Leh­rer, der ver­mag, die­ses Feu­er in sei­nem Schü­ler zu we­cken, ist ein Brü­cken­bau­er, und der Schü­ler, der sein Feu­er trägt, wird nicht mehr brand­schat­zen, son­dern wertschätzen.

5. Bildung und der Einzelne

"Er ist blind! Er ist weder gut noch schlecht. Er ist einfach nur blind." (aus: "Stadt der Blinden")
“Er ist blind! Er ist we­der gut noch schlecht. Er ist ein­fach nur blind.” (aus: “Stadt der Blinden”)

In un­se­rer heu­ti­gen (west­li­chen) Welt bre­chen uns die Tra­di­tio­nen ein, ach, wir stel­len sie der­art in Fra­ge, als gäl­te es, uns in selbst­ver­nich­ten­dem Be­stre­ben für eine gros­se Schuld zu be­stra­fen. Sinn­stif­ten­de Welt­bil­der sind auch in frü­he­ren Zei­ten im­mer wie­der zer­bro­chen, doch dann sind neue an ihre Stel­le ge­tre­ten. Jetzt scheint es, als sei­en die Men­schen ge­wis­ser­mas­sen ex­pe­ri­men­tie­rend auf ei­nem ziel­lo­sen Weg, auf dem das In­di­vi­du­um noch nicht ein­mal un­ter­wegs er­fährt, wer und was es ist. Da ist kaum Sub­stanz, kaum We­sen, das in ei­ner in­di­vi­du­el­len Le­bens­ge­schich­te zu ent­fal­ten wäre.
Um mit Sart­re zu spre­chen: Selbst­ver­wirk­li­chung heisst heu­te Ver­wirk­li­chung von Nichts, näm­lich von nichts Vor­ge­ge­be­nem. Es bleibt das Ex­pe­ri­ment, das der Mensch mit sich sel­ber macht. Wir sind in­zwi­schen so­gar noch wei­ter, als Sart­re be­schrieb. In­zwi­schen er­schöpft sich das Le­ben in nichts we­ni­ger als in aber­wit­zi­gen Vor­gän­gen und Funk­tio­nen. Er­leb­nis und Selbst­er­fah­rung, Selbst­ver­wirk­li­chung und Ent­fal­tung der je ei­ge­nen In­di­vi­dua­li­tät sind heu­te un­be­ding­te Wer­te, die alle an­stre­ben – und pa­ra­do­xer­wei­se zeigt nach­ge­ra­de das ve­he­men­te Be­stre­ben, sie zu er­rei­chen, ihre Ab­we­sen­heit. Psy­cho­the­ra­pie wird zum Dau­er­zu­stand. Alle wol­len mehr und an­de­res sein als die an­de­ren, und als das, was sie in ih­rem Kern wä­ren, in ih­ren mit­ge­brach­ten Um­stän­den sind. An die Stel­le des Seins – wie ge­sagt – ist der Vor­gang ge­tre­ten. Wir le­ben, in­dem wir tun und in der Welt agieren.
Meis­tens tun wir das durch das Set­zen von Re­geln und ver­zeich­nen da­bei den Ver­lust rea­ler All­ge­mein­heit. Das heisst, wir wis­sen nicht mehr, wer wir als Men­schen sind, und was wir als Men­schen zu sein hät­ten. Zu­sam­men mit der Tra­di­ti­on ha­ben wir das Wis­sen um die Be­stim­mung des Men­schen und um die Mensch­heit in uns verloren.

Gegen die Eltern, gegen die Schüler, gegen die Kollegen

Jetzt ist der Punkt er­reicht, an dem ich Ih­nen von mei­nem Ab­ste­cher an eine Schu­le, ei­ner Stät­te mo­der­nen Ler­nens und von Bil­dung er­zäh­len muss. Ob­wohl ich kei­ne aus­ge­bil­de­te Päd­ago­gin mit Staats­examen und ab­sol­vier­tem Re­fe­ren­da­ri­at bin, un­ter­nahm ich vor sie­ben Jah­ren den Ver­such, an ei­ner öf­fent­li­chen Schu­le zu un­ter­rich­ten. Ich be­warb mich an ei­nem Gym­na­si­um auf eine Stel­le als Deutsch­leh­re­rin. Knapp 49 Jah­re alt war ich, und sehr ge­spannt auf das, was mich er­war­te­te: zwei zehn­te und eine neun­te Klas­se. Zu­vor hat­te ich mir Ge­dan­ken ge­macht. Hier sind ei­ni­ge von ih­nen zu­sam­men­ge­fasst, auf dass mei­ne Sicht auf das Ler­nen und Un­ter­rich­ten deut­li­cher werde.

Ge­dan­ke 1: Ein Mensch lernt dort, wo er sich kon­fron­tie­ren kann, zu pro­vo­zie­ren ver­sucht oder Pro­vo­ka­ti­on er­fährt. Wi­der­spruch ist im Lern­pro­zess sehr wich­tig. Wo er nicht mög­lich ist, und ei­ge­ne und frem­de Er­kennt­nis­se im Fra­gen nicht frei­ge­legt wer­den kön­nen, ver­siegt das Ler­nen und ein Glau­be muss her.

Ge­dan­ke 2: Ler­nen ist nur dann und dort mög­lich, wenn und wo Men­schen frei sind, ihre Er­kennt­nis­se zu ha­ben, und sich die­se Frei­heit auch er­lau­ben. Die­sen Ge­dan­ken habe ich bei Kon­fu­zi­us ge­fun­den. – Die Mög­lich­keit, die sich uns in ei­nem klei­nen Zeit­fens­ter bot, war die der Mög­lich­keit, sich zu die­ser Frei­heit zu ent­schei­den. Das Fens­ter in der Zeit ist wie­der ge­schlos­sen, und die Er­run­gen­schaf­ten der Mensch­wer­dung schei­nen im ewi­gen Kreis­lauf in ei­nen neu­en – ver­mut­lich nie­de­ren – Zu­stand überzugehen.

Ge­dan­ke 3: Ei­ner von Kon­fu­zi­us‘ we­sent­li­chen Ge­dan­ken war der der zwei­fa­chen Mensch­lich­keit. Die­se be­steht im Be­wusst­sein der per­sön­li­chen Mit­te und der Fä­hig­keit, an­de­re ge­recht und un­par­tei­isch zu be­han­deln. Nur ein Mensch, der mit sich selbst im Rei­nen ist, kann das We­sen an­de­rer Men­schen ver­ste­hen. Dann wird er im Um­gang mit an­de­ren kei­ne Kon­flik­te brau­chen, kei­ne Ver­wick­lun­gen, weil er jene für et­was be­nutzt, das er ins Aus­sen über­tra­gen muss. Kämp­fe zwi­schen Men­schen ent­ste­hen aus fal­schen Ge­wohn­hei­ten her­aus; Men­schen sind durch Kon­ven­tio­nen, de­ren Be­deu­tun­gen sie nicht ver­ste­hen, schlim­mer noch: durch Kon­ven­tio­nen, die mög­li­cher­wei­se bar je­der Be­deu­tung sind, von­ein­an­der getrennt.

Ich fand mich drei Fron­ten ge­gen­über: die eine be­stand aus den El­tern. Oh, da ist eine Leh­re­rin, die kein Re­fe­ren­da­ri­at durch­lau­fen hat. Ist sie in der Lage, mit un­se­ren Kin­dern um­zu­ge­hen? – Ich sage es gleich hier: ja, ich war in der Lage. Die El­tern hat­te ich am Ende des ers­ten Halb­jah­res durch­weg auf mei­ner Sei­te. Die zwei­te Front wa­ren die Schü­ler. 75 an der Zahl, in ei­nem Al­ter zwi­schen 13 und 16, ge­ring­fü­gig mehr Mäd­chen als Jun­gen, ei­ni­ge der Schü­ler mit ei­ner an­de­ren Erst­spra­che als Deutsch. Dies Al­ter ist be­kannt als je­nes, in dem jun­ge Her­an­wach­sen­de am al­ler­meis­ten mit sich selbst be­schäf­tigt sind, mit ih­rem er­wach­sen­den Kör­per und ih­rem er­wa­chen­den Trieb in die Welt hin­ein. Sie ha­ben Fra­gen und wol­len Antworten.

Die ers­ten Wo­chen ver­gin­gen mit An­nä­he­run­gen – an den Un­ter­richt, an die ver­schie­de­nen Men­schen, an den Lern­stoff. Es kos­te­te mich dop­pelt so viel und drei­mal mehr Zeit, den Stoff vor­zu­be­rei­ten als es ei­nen rou­ti­nier­ten Leh­rer ge­kos­tet hät­te. Ich fing mit al­lem bei Null an, auch mit der No­ten­ge­bung und über­haupt mit den Be­wer­tungs­richt­li­ni­en. Es kos­te­te viel Ge­duld­en­er­gie, die Tests der Schü­ler zu durch­lau­fen, um ih­nen zu be­wei­sen, dass ich sie ernst neh­me. Es be­durf­te – im Nach­hin­ein be­se­hen – gros­sen Mu­tes, Din­ge zu tun, die “man sich” nicht mehr im Un­ter­richt leis­te­te. Die ers­ten Strei­che über­stand ich, mit Rot­wer­den, mit Herz­klop­fen. Ich über­stand die Un­lust­at­ta­cken, die sich im Lärm­pe­gel nie­der­lies­sen, den of­fe­nen Wi­der­stand mit Ver­wei­ge­run­gen. Ich be­stand die Na­gel­pro­be mit Thea­ter­be­such, Be­such ei­ner Zei­tung und ei­nes Ki­nos, und die ers­ten Zeug­nis­kon­fe­ren­zen. Da­nach hät­ten wir zur Nor­ma­li­tät über­ge­hen kön­nen, aber ich streck­te die Segel.

Tiefenverbindung von Lernstoff und Lebensumfeld

Grund da­für war die Front Num­mer 3 – die Leh­rer­kol­le­gen. Dazu wei­ter un­ten mehr. Als die Schü­ler so­weit Ver­trau­en ge­fasst hat­ten, dass sie of­fen mit mir re­de­ten, kam ihr Frust zu­ta­ge. Wir wis­sen nicht, war­um wir das ler­nen sol­len. Frau Deutsch­leh­re­rin stell­te dann gleich et­was klar: ihr wisst sehr wohl, war­um. Eure Fra­ge ist: Wozu müs­sen wir das ler­nen? – Ihr fragt, was die aris­to­te­li­sche Poe­sie mit der Welt da draus­sen zu tun hat. Ihr fragt, was die rhe­to­ri­schen Mus­ter in Re­mar­ques “Im Wes­ten nichts Neu­es” mit eu­rer Rea­li­tät zu tun ha­ben? – Ich sag­te es ih­nen. Ein Schü­ler frag­te zwei­felnd, war­um er eine Zwei im Re­fe­rat be­kom­men hat­te, wäh­rend der sons­ti­ge Klas­sen­bes­te eine Drei be­kam: ob ich wüss­te, dass es an­ders­her­um sein müss­te. Ein an­de­rer Schü­ler, sonst schrift­lich auf Vier abon­niert, be­kam von mir eine Zwei. Ei­ner, der kaum et­was sag­te, ging mit ei­ner Zwei nach Hau­se; eine Schü­le­rin, die sich stän­dig münd­lich äus­ser­te, mit ei­ner Drei. Ich er­spa­re uns hier Ein­zel­hei­ten. Um es zu­sam­men­zu­fas­sen: ich ver­such­te, den Lern­stoff mit dem Le­bens­um­feld der Schü­ler in Zu­sam­men­klang zu brin­gen, ich stell­te Tie­fen­ver­bin­dun­gen her und nahm mir da­für Zeit. Ich brach­te un­be­kann­te Kom­po­nis­ten via CD mit ins Klas­sen­zim­mer, und wir sa­hen uns ge­mein­sam ei­nen Film an, bei dem die Schü­ler dar­auf ge­wet­tet hat­ten, ich wür­de ihn nicht ken­nen. Wir la­sen eine ernst­haf­te Lek­tü­re zu Fa­schis­mus und mach­ten ein Dreh­buch dar­aus, wir la­sen Dür­ren­matt und ver­tief­ten uns in Me­dea, ka­men bei Chris­ta Wolf und dem Ge­teil­ten Him­mel her­aus. Sie lern­ten ne­ben­bei so viel, weil sie nicht merk­ten, dass sie lern­ten, son­dern ihr ge­weck­tes In­ter­es­se still­ten. Die Klas­sen­ar­bei­ten, die wir schrie­ben, wa­ren auf die­se Art Ler­nen zuge-schnit­ten. Ich glau­be, nach zwei Durch­gän­gen brauch­te kei­ner mehr Angst zu ha­ben, er wür­de völ­li­gen Un­sinn ab­lie­fern. Denn ich hat­te ge­sagt: das gibt es gar nicht! Na­tür­lich muss­ten wir in der Ver­gleichs­ar­beit schei­tern! Ich schei­ter­te, weil mich die Kol­le­gen nicht ein­be­zo­gen, was die Wahl des The­mas, sei­ne Prä­sen­ta­ti­on und die Auf­ga­ben an­ging. Sie wa­ren zu viert und sich ei­nig, ich war al­lei­ne. Mei­ne Schü­ler schei­ter­ten, denn ich hat­te ih­nen in nur sie­ben Mo­na­ten eine Art zu ar­bei­ten ge­zeigt, die sie auf­ge­weckt hat­te, aber das war nicht vor­ge­se­hen. Ich hat­te sie da­mit ver­dor­ben, und das liess man mich spüren.

Als ich es merk­te, war die ers­te Hälf­te des zwei­ten Halb­jah­res fast vor­bei. Ich be­raum­te eine Sit­zung mit mei­nen Schü­lern ein und er­öff­ne­te ih­nen, dass ich ge­hen wür­de. Nichts sag­te ich von den Kol­le­gen, wohl aber sag­te ich, dass ich merk­te, ich wäre am fal­schen Ort. Sie ver­ra­ten uns! rie­fen sie zu Recht. Das sei nun mal so ge­lau­fen – ich hat­te das nicht er­war­tet. Wei­ter­zu­ma­chen aber täte mir nicht gut, denn ich hät­te im­mer das Ge­fühl, sie nicht auf das vor­zu­be­rei­ten, was von ih­nen ver­langt wür­de. Ich eig­ne mich nicht zu die­ser Art von Aus­bil­der, und des­halb müs­se ich ge­hen. Sie gin­gen heim, zwei Wo­chen spä­ter hat­te der Schul­lei­ter ei­nen Brief al­ler Klas­sen­ver­tre­ter mit der drin­gen­den Bit­te, mei­nen Ver­trag zu ver­län­gern und mich da zu be­hal­ten, auf dem Tisch. Mei­ne Ent­schei­dung aber war unumstösslich.

An die­ser Schu­le ist mir klar ge­wor­den: es geht nicht mehr um Bil­dung, es geht, wenn über­haupt auch das noch, um Aus-Bil­dung. Schü­ler sam­meln ein Wis­sen, das weit da­von ent­fernt ist, in Zu­sam­men­hang mit ih­rer Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung zu ste­hen, das ein­ge­at­met, und so­bald die Klas­sen­ar­beit vor­über ist, wie­der aus­ge­at­met wird.

6. Der Mensch in der Bildungswüste

Die Bil­dung des Men­schen zu sich selbst, das Se­hen­ler­nen des wah­ren Lich­tes, auf dass man sich und die an­de­ren er­ken­ne, die Viel­falt der Selbst­ver­ständ­nis­se – al­les das ist in ei­ner Land­schaft des Un­ter­schied­lo­sen un­ter­ge­gan­gen. Es hat ganz schlei­chend an­ge­fan­gen. Viel­leicht mit der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on, viel­leicht mit der In­dus­tria­li­sie­rung, viel­leicht mit dem Ka­pi­ta­lis­mus, der als die an­de­re Sei­te des Kom­mu­nis­mus nicht viel an­ders als je­ner ist. – Alle Men­schen sind Funk­ti­on von et­was oder ei­nem an­de­ren. Alle Men­schen sind gleich. Erst vor dem Recht und schliess­lich vor den Vie­len. Gleich­ma­che­rei steht der Bil­dung des Ei­ge­nen ent­ge­gen. Da, wo nicht un­ter­schie­den wird, wird auch nicht ge­ach­tet, wert ge­schätzt. Dann ha­ben wir die Ein­öde, die Wüste.

Exkurs: Über die Toleranz

„Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„Kein Ara­ber liebt die Wüs­te. Wir lie­ben Was­ser und grü­ne Bäu­me. In der Wüs­te ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: “Law­rence of Arabia”)

In ei­nem pa­pier­nen Auf­schrei hat­te ich vor lan­ger Zeit ein­mal ge­schrie­ben, ich wol­le nicht ak­zep­tiert, son­dern to­le­riert wer­den (etwa: “Du musst mich nicht mö­gen oder mir zu­stim­men, aber lass mich sein, wie ich bin!”). An­schlies­send hat­te ich in ei­nem öde lan­gen Text ver­sucht, zu de­fi­nie­ren, was denn nun To­le­ranz und was Ak­zep­tanz sei. Am Ende war al­les – von Au­gen Drit­ter un­ge­le­sen – in ei­nem der di­gi­ta­len wie rea­len Ord­ner ver­schwun­den. Und war ver­ges­sen worden.
Nun habe ich ihn wie­der­ge­fun­den. Zu mei­nem Schre­cken ver­stand ich mei­ne ei­ge­nen Wor­te nicht mehr. – Was hat­te ich mir nur da­bei ge­dacht? Ich sprach/schrieb so­fort alar­miert mit et­li­chen Leu­ten und er­frag­te ihre De­fi­ni­ti­on von To­le­ranz und Ak­zep­tanz. Frag­te da­bei auch nach, wel­chem sie den Vor­rang ge­ben wür­den. In mei­ner Ver­wir­rung hät­te ich kei­ne Pro­gno­se ab­ge­ben wol­len, ten­dier­te aber im­mer noch zur To­le­ranz, wie vor Jah­ren. Die Be­frag­ten al­ler­dings leg­ten den Schwer­punkt auf die Ak­zep­tanz. Ak­zep­tiert zu wer­den be­deu­te die An­er­ken­nung der Mei­nung, die man ver­tre­te, las ich da. Man wer­de mit den ei­ge­nen An­sich­ten und Ta­ten in eine Ge­mein­schaft, die die­se für gut be­fän­de, aufgenommen.

To­le­ranz, sag­ten sie, sei eine Ein­stel­lung der Nicht(be)achtung. Eine, die in sich tra­ge, dem To­le­ran­ten sei das Ge­gen­über egal. Man in­ter­es­sie­re sich nicht wirk­lich, son­dern blei­be un­ver­bind­lich und be­zie­he kei­ne Po­si­ti­on. In ei­nem Ar­ti­kel, den ich im In­ter­net fand, las ich, dass et­was aus der Po­si­ti­on ei­nes Herr­schen­den her­aus zu ak­zep­tie­ren et­was völ­lig an­de­res – so­gar ge­gen­sätz­li­ches – sei als zu to­le­rie­ren. Letz­te­res heis­se, et­was zu dul­den und zu er­lau­ben (auch et­was, das falsch sei, was na­tür­lich über­haupt nicht gehe!), wäh­rend ers­te­res be­deu­te, et­was als wün­schens­wert an­zu­neh­men und zu för­dern. To­le­ranz sei eine Hal­tung des Ver­zichts auf ein be­stimm­tes, klar um­ris­se­nes Men­schen­bild, dem­ge­mäss man als Ein­zel­ner die Ge­sell­schaft for­men kön­ne. Zwar habe eine to­le­ran­te Per­son eine un­ge­fäh­re Ah­nung, wie sich Men­schen der ei­ge­nen Mei­nung nach ver­hal­ten soll­ten, doch ob sie das auch wirk­lich tä­ten, wür­de dann nicht wei­ter be­ach­tet. Das Füh­ren des ei­ge­nen Le­bens gehe je­nen vor dem Ein­wir­ken auf das Le­ben der an­de­ren, und das sei Gleich­gül­tig­keit. Ich ver­stumm­te und ging in mich.

"Was reizt Sie eigentlich persönlich an der Wüste?" - "Sie ist sauber." (aus: "Lawrence von Arabien")
“Was reizt Sie ei­gent­lich per­sön­lich an der Wüs­te?” – “Sie ist sau­ber.” (aus: “Law­rence von Arabien”)

Mei­ne Ver­wir­rung wei­ger­te sich be­harr­lich zu wei­chen, nein, sie ver­grös­ser­te sich: war nicht frü­her, vor nicht all­zu vie­len Jah­ren To­le­ranz der Wert in un­se­rer Mit­te, dem das grös­se­re Ge­wicht bei­gemes­sen wur­de? Was war aus Na­than dem Wei­sen aus der Ring­pa­ra­bel Les­sings ge­wor­den? Dar­in ging es doch um To­le­ranz, oder? Oder hat­te ich al­les falsch verstanden?
Mir fehl­te ein ent­schei­den­der Bau­stein zum Ver­ständ­nis des haus­ge­mach­ten Un­ver­ständ­nis­ses, und ich ent­wi­ckel­te den Ver­dacht, dass hier eine Um­ge­wich­tung, eine Um­deu­tung der Be­grif­fe, die mich in ih­ren Stru­del ge­ris­sen hat­te, im Gan­ge war.

Dogmatismus kontra Moral

Der feh­len­de Bau­stein kam in Form ei­ner Zi­ga­ret­te, die je­mand vor der Tür ei­nes Re­stau­rants ste­hend rauch­te, da­her. Zi­ga­ret­ten sind ge­fähr­lich, d.h. Rau­chen ge­fähr­det die Ge­sund­heit. Ist be­kannt. Das hört und liest man al­ler­or­ten, steht auch auf den Schach­teln drauf. Also wird was dran sein. Wenn dem so ist, dann emp­fiehlt es sich, mög­lichst nicht zu rau­chen, in­so­fern man ge­sund blei­ben will oder blei­ben muss. Das könn­te man als Dog­ma for­mu­lie­ren. Ihr Arzt ver­tritt mög­li­cher­wei­se die­ses Dog­ma, d.h. er macht die Aus­sa­ge der Ge­fähr­lich­keit der Zi­ga­ret­ten für sich zur aus­schliess­lich gül­ti­gen Aus­sa­ge. Wenn Sie ihn auf­su­chen, wird er Ih­nen na­he­le­gen – ein­ge­denk der spä­ter ein­tre­ten­den Fol­gen – so­fort mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren. Er wird sa­gen: Sie soll­ten auf­hö­ren zu rau­chen, denn sonst… Und dann wird er Ih­nen frei­stel­len, ob Sie sei­nen Rat be­fol­gen oder nicht. Der Mensch Arzt als Dog­ma­ti­ker wird Sie nicht per­sön­lich da­für ab­stra­fen, dass Sie Rau­cher sind. Er wird Sie aber viel­leicht durch­aus in­ter­es­siert fra­gen: Ge­nies­sen Sie Ihre Zi­ga­ret­ten we­nigs­tens? Und das meint er nicht ironisch.
Hat Ihr Arzt eine hohe Mo­ral, dann wird er Ih­nen eben­falls sa­gen, dass Sie auf­hö­ren soll­ten zu rau­chen. Er wird dies eben­falls mit der Ge­fähr­lich­keit be­grün­den, und er wird an­füh­ren, dass Rau­chen auch die an­de­ren Men­schen ge­fähr­det, jene, die in Ih­rer Nähe le­ben, die Sie ein­ne­beln, die pas­siv mit­rau­chen. Er ist ein Mo­ra­list, denn er wird eine be­droh­li­che In­for­ma­ti­on in sei­ner Emp­feh­lung mit­schwin­gen las­sen: Hör auf zu rau­chen, sonst müs­sen wir dich aus­schlies­sen, sonst müs­sen wir uns über­le­gen, wie wir dich vom Ge­gen­teil über­zeu­gen. Die Mo­ra­lis­ten ha­ben es in­zwi­schen ge­schafft, die Rau­cher draus­sen vor die Tür zu schicken.

Verwischen der Begriffe in unserer Zeit

Ein Dog­ma­ti­ker kann to­le­rie­ren, dass je­mand et­was für sich Fal­sches tut, wenn er nur die Kon­se­quen­zen sei­nes Han­delns über­nimmt. Ein Mo­ra­list muss je­man­den, der im Be­griff ist, ei­nen Feh­ler zu be­ge­hen, da­von über­zeu­gen, es an­ders zu ma­chen, näm­lich so, dass es mit der Mehr­heits­ge­mein­schaft kon­form geht. Ein Mo­ra­list kann ak­zep­tie­ren, was sei­nen Grund­sät­zen ähn­lich ist. Es ist nicht so, dass ein Dog­ma­ti­ker nicht weiss, was für den an­de­ren gut wäre – nur: er wird es nicht ein­for­dern. Das je­doch tut der Moralist.

„The trick, …, is, not minding that it hurts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„The trick, …, is, not min­ding that it hurts.“ (aus: “Law­rence of Arabia”)

In un­se­ren Zei­ten ist die­se Be­griff­lich­keit ver­wischt. Weil Schwarz-Weiss ein Ide­al ist und es die­ses real nicht gibt und folg­lich auch nicht ge­ben darf, da­für im­mer nur ver­schie­de­ne Ab­stu­fun­gen von Grau, ha­ben sich im Zuge der Re­la­ti­vie­rung und Neu­tra­li­sie­rung Ver­wechs­lun­gen ein­ge­schli­chen. Das tut es im­mer, wenn man die Pole, zwi­schen de­nen sich das Le­ben ab­spielt, nicht mehr ein­deu­tig be­nen­nen darf. Im­mer gibt es und hat es Misch­ty­pen ge­ge­ben. In­zwi­schen al­ler­dings kom­men Dog­ma­ti­ker mo­ra­lisch ver­klei­det da­her, und Mo­ra­lis­ten wech­seln auch schon mal ins dog­ma­ti­sche La­ger, wenn eine an­ge­sag­te Mei­nung in eine an­de­re Pha­se tritt. Was zu be­ob­ach­ten ist: wir ha­ben ei­nen ge­woll­ten Über­hang zum Mo­ra­li­schen. Die Wer­te an sich sind ver­lo­ren ge­gan­gen (sage nicht nur ich), der Ethos ist futsch. Statt­des­sen ha­ben wir Nor­mie­run­gen und Regelungen.

7. Rekonstruktion von Bildung

Fas­sen wir zu­sam­men: Das Le­ben ist ein Traum oder ein Schat­ten­spiel. Die Men­schen dar­in – blind und ohn­mäch­tig – jene, die das, was wirk­lich ist, nicht se­hen, die das, was kei­nes­wegs wirk­lich ist, für wirk­lich hal­ten. – Das war das The­ma von Aischy­los, da­mit sind wir wie­der zu­rück bei den Grie­chen – und den Höh­len­men­schen. Die Blin­den, die Ge­fan­ge­nen könn­ten ler­nen zu se­hen, und wol­len es doch nicht.

"Ein Blinder ist etwas Heiliges, einen Blinden bestiehlt man nicht." (aus: "Stadt der Blinden")
“Ein Blin­der ist et­was Hei­li­ges, ei­nen Blin­den be­stiehlt man nicht.” (aus: “Stadt der Blinden”)

Die Mys­tik mit dem Bild vom in­ne­woh­nen­den We­sen, das in ei­nem Äus­se­ren ein­ge­wi­ckelt ist: die gan­ze Ei­che ist be­reits in der Ei­chel an­ge­legt, der Baum wird sich von in­nen nach aus­sen ent­fal­ten und ent­wi­ckeln. Das ist im Gro­ben das We­sen des mys­ti­schen Bil­dungs­we­ges. So könn­te es aus­se­hen, doch die exo­te­ri­schen Aus­le­gun­gen ha­ben der Mys­tik und den Men­schen die­sen Weg ver­sperrt. Es bleib in heu­ti­ger Zeit ein Ab­klatsch – die kom­mer­zi­el­le Eso­te­rik, die in Dua­li­tät zum Ur­sprung geht.
Hum­boldt zeig­te an der Ge­stalt ei­nes Bau­mes die Be­we­gung auf, die Sehn­suchts­be­we­gung, die das mensch­li­che Le­ben vor­an­zieht: Über­haupt liegt in den Bäu­men ein un­glaub­li­cher Cha­rak­ter der Sehn­sucht, wenn sie so fest und be­schränkt im Bo­den ste­hen, und sich mit den Wip­feln, so weit sie kön­nen, über die Gren­zen der Wur­zeln hin­aus­be­we­gen. Ich ken­ne nichts in der Na­tur, was so ge­macht wäre, Sym­bol der Sehn­sucht zu sein. – In der Erde ver­wur­zelt, wis­send, wer wir sind, könn­ten wir die Welt er­obern. Doch es ist et­was geschehen:
Statt Nächs­ten­lie­be ha­ben wir den So­zi­al­staat. Nächs­ten­lie­be ist die Lie­be zum Nächs­ten, den man in sei­nem Schick­sal zu ver­ste­hen sucht. Wir mil­dern uns ge­gen­sei­tig das Be­grei­fen un­se­rer Schick­sa­le, d.h. un­se­rer je­wei­li­gen Be­stim­mun­gen, was uns nicht des­sen ent­hebt, uns selbst und un­ser Le­ben ei­gen­stän­dig zu le­ben. Im Nächs­ten to­le­rie­ren wir sein je Ei­ge­nes. Mit “so­zi­al” hat das nichts zu tun.

Der Sozialstaat anstelle von Nächstenliebe

Wenn ich so­zi­al bin, be­fin­de ich mich von vor­ne­her­ein, als mich be­din­gend und si­chernd, in ei­nem Kol­lek­tiv. In ei­nem Kol­lek­tiv geht es nie um den Ein­zel­nen, das In­di­vi­du­um. Da kön­nen sie re­den, wie sie wol­len: das geht nicht zusammen!

In der Nächs­ten­lie­be wer­den die Un­ter­schie­de zwi­schen den Men­schen be­wahrt und ge­ach­tet. Im So­zia­len geht es dar­um, die­se Un­ter­schie­de auf­zu­he­ben, so dass es kei­ne Ein­zel­nen, kei­ne In­di­vi­du­en mehr gibt. In­dem wir die Un­ter­schie­de aus­glei­chen wol­len und die Dis­kri­mi­nie­rung (das Be­zeich­nen der Un­ter­schie­de, und im Zuge des­sen das Han­deln, das die­sem Be­zeich­nen folgt) zu ver­mei­den ver­su­chen, ge­ben wir die Mög­lich­keit zur To­le­ranz preis – und auch die Mög­lich­keit zur Ent­wick­lung des Ein­zel­nen zu dem Baum, der er ist. In ei­ner so­zia­len Mo­no­kul­tur ohne Un­ter­schie­de gibt es kei­ne Kon­kur­renz. Das könn­te Frie­den be­deu­ten, soll­te man mei­nen. Es wird auch so kom­mu­ni­ziert. In Wirk­lich­keit be­deu­tet es den Tod.

Die moderne Schule stiehlt den Kindern ihr Selbst

Der mo­ra­li­sche Über­hang ist eine der Ur­sa­chen da­für, dass wir im So­zi­al­rausch die Chan­ce auf Ei­gen­stän­dig­keit un­se­res Seins ver­lie­ren und auf­ge­ben, und da­mit die Bil­dung un­se­res Selbst. In der Aus­übung und im Vor­gang-Sein mei­nen wir, je­der­zeit ein­schrei­ten zu dür­fen und set­zen den Zwang zum Han­deln an die Stel­le des Ge­sche­hen­las­sens. Wir sind schein­bar über­aus be­weg­lich, da­bei äus­ser­lich ge­trie­ben und in­ner­lich ein­ge­schlos­sen und iso­liert. Höh­le – Sokrates!

Die meis­ten Leh­rer in den Schu­len, auf die un­se­re Kin­der ge­hen, sind da­von über­zeugt, das Bes­te zum Bes­ten der Kin­der zu tun. Dass sie al­les gel­ten las­sen, da­bei be­wer­ten, und die Be­wer­tun­gen so­fort re­la­ti­vie­ren, weil nie­mand auf­grund ei­nes Un­ter­schieds Vor­tei­le ha­ben darf, ist täg­li­ches Brot.
Dass aber heu­te die Men­schen sich selbst ge­stoh­len wer­den, wird kei­ne Me­di­zin rich­ten kön­nen. Von der­lei Din­gen muss man spre­chen, wenn man über Bil­dungs­po­li­tik spricht, und von noch an­de­ren mehr, die ich hier über­haupt nicht an­ge­spro­chen habe. ♦

1)Spra­che im wei­tes­ten Sin­ne, auch Dialekte
2)Ko­gni­ti­on: Zu den ko­gni­ti­ven Fä­hig­kei­ten zäh­len: die Wahr­neh­mung, die Auf­merk­sam­keit, die Er­in­ne­rung, das Ler­nen, das Pro­blem­lö­sen, die Krea­ti­vi­tät, das Pla­nen, die Ori­en­tie­rung, die Ima­gi­na­ti­on, die Ar­gu­men­ta­ti­on, die In­tro­spek­ti­on, der Wil­le, das Glau­ben und ei­ni­ge mehr. Es geht im We­sent­li­chen um In­for­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung. Der Be­griff ist Ge­gen­stand ei­ni­ger Dis­kus­si­on; ich ver­wen­de ihn in An­leh­nung an die Ar­bei­ten der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie, zu­sam­men­ge­fasst in Oer­ter & Mon­ta­da: Entwicklungspsychologie
3)Fre­vel ge­gen die Göt­ter.


Ka­rin Afshar

Karin Afshar - Glarean MagazinGeb. 1958 in der Eifel/D, Stu­di­um der Sprach­wis­sen­schaft, Finn-Ugris­tik und Psy­cho­lo­gie, Pro­mo­ti­on, zahl­rei­che bel­le­tris­ti­sche und fach­wis­sen­schaft­li­che Pu­bli­ka­tio­nen, lebt in Bornheim/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin von Ka­rin Afs­har auch über Es­ther Kin­sky: Fremd­spre­chen – Das Übersetzen

… so­wie über die An­tho­lo­gie mit Sprach- und Bil­dungs-Es­says von Ma­rio An­dreot­ti: Eine Kul­tur schafft sich ab

Ein Kommentar

  1. Bra­vo. Wun­der­bar ei­nen sol­chen Bei­trag zu le­sen am frü­hen Mor­gen. Da weiß man, daß es im Au­gen­blick wirk­lli­che Frei­hei­ten gibt.

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