Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben

Sprachwandel oder Sprachzerfall?

Wie Jugendliche heute schreiben

von Mario Andreotti

Die heu­tige Jugend ist von Grund auf ver­dor­ben; sie ist böse, gott­los und faul. Sie wird nie­mals so sein wie die Jugend vor­her, und es wird ihr nie­mals gelin­gen, unsere Kul­tur und Spra­che zu erhal­ten.” Worte eines frus­trier­ten Leh­rers, wer­den Sie jetzt viel­leicht den­ken. Weit gefehlt. Das ist nicht die Klage eines Zeit­ge­nos­sen; die Klage fin­det sich viel­mehr auf einer rund 3000 Jahre alten baby­lo­ni­schen Tontafel.
Warum führe ich das an? Aus dem ganz ein­fa­chen Grunde, weil die ältere Gene­ra­tion zu allen Zei­ten über den Zustand der jün­ge­ren geklagt hat. Uralt schon ist die­ses Reden vom Sprach­zer­fall, und hätte es zu jeder Zeit zuge­trof­fen, so wür­den uns heute fast gänz­lich die Worte feh­len und unsere Kom­mu­ni­ka­tion wäre wohl nur noch auf ein Stam­meln, ein Grun­zen oder Pfei­fen reduziert.
Stimmt es aber, dass die sprach­li­chen Fähig­kei­ten unse­rer Jugend­li­chen der­art zurück­ge­gan­gen sind, wie man immer wie­der hören kann? Um es gleich vor­weg­zu­neh­men: Die Ant­wort auf diese Frage wird nicht ein Ja oder Nein, son­dern ein dif­fe­ren­zier­tes Urteil sein.

Jugendliche schreiben heute mehr als früher

Jugendliche - Girls - Handy - Kommunikation - Glarean Magazin
Jugend­li­che schrei­ben heute mehr als je zuvor: Young Ladies beim Kon­sul­tie­ren ihres Lieblingsspielzeuges

Begin­nen wir mit einem viel­ge­hör­ten Vor­ur­teil, das da lau­tet, Jugend­li­che wür­den aus­ser­halb der Schule kaum noch schrei­ben; sie säs­sen in ihrer Frei­zeit viel­mehr vor dem PC, den sie vor allem für Spiele und für das Sur­fen auf Unter­hal­tungs­sei­ten im Inter­net nutz­ten. Ein Vor­ur­teil, das so nicht stimmt, denn die Fak­ten spre­chen eine andere Spra­che: Jugend­li­che schrei­ben heute mehr als je zuvor. Ob sie mit Klas­sen­ka­me­ra­den chat­ten, E-Mails ver­fas­sen, Mit­tei­lun­gen über SMS machen, sich an Online-Spie­len betei­li­gen, ihr Pro­fil auf Face­book aktua­li­sie­ren oder einen Kom­men­tar in einem Blog ver­öf­fent­li­chen: Sie schrei­ben. Selbst das Handy dient Jugend­li­chen, anders als das Tele­fon frü­her, vor­zugs­weise zum Schrei­ben, nicht zum Spre­chen. Ja, es wird im pri­va­ten Raum heute der­art viel geschrie­ben, dass wir Ger­ma­nis­ten gera­dezu von einer “neuen Schrift­lich­keit” spre­chen. Nur ist es ein etwas ande­res Schrei­ben, als es sich besorgte Eltern, Leh­rer und Arbeit­ge­ber wün­schen – ein Schrei­ben, das von ihnen häu­fig als defi­zi­tär bezeich­net wird. Doch wie sieht die­ses Schrei­ben unse­rer heu­ti­gen Jugend­li­chen kon­kret aus?

Aneinanderreihung von Hauptsätzen

Bevor ich diese Frage beant­wor­ten kann, gilt es, dar­auf hin­wei­sen, dass frü­here Gene­ra­tio­nen ihr Schwer­ge­wicht zum einen auf die geschrie­bene Spra­che leg­ten und zum andern diese geschrie­bene Spra­che häu­fig mit der hohen Spra­che der Dich­tung gleich­ge­setzt haben. Im Schü­ler­auf­satz eines 16-jäh­ri­gen Jugend­li­chen aus den 1950er Jah­ren tönte das dann, recht abge­ho­ben, etwa so:

Dann betra­ten sie das kühle, däm­me­rige, ker­zen­er­leuch­tete Kir­chen­schiff. Wärme zog ein in ihre erkal­te­ten Her­zen und ver­brei­tete den heis­sen ersehn­ten inne­ren Frieden.

Ganz anders ein paar Sätze aus einem 2015 ent­stan­de­nen Auf­satz zum Thema “Eifer­sucht” einer eben­falls sech­zehn­jäh­ri­gen Schülerin:

Wir sind umge­zo­gen und ich kam in eine neue Schule, es war mir pein­lich als Frau Schmidt (die Direk­to­rin) mich der Klasse vor­stellte, sie sagte: “So, das ist die neue Schü­le­rin Vanessa”! Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir, das ich mich zu Kevin set­zen soll, das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igel­haare, er hätte auch super coole Kla­mot­ten an, er sah echt süss aus. In der ers­ten Woche waren alle auch sehr nett zu mir, vor allem Kevin. In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.[…] 

Duden - Sprache - Rechtschreibung - Lesen - Lupe - Glarean Magazin
Hat Pause, wenn es bei Jugend­li­chen um genauen Aus­druck und kor­rek­ten Satz­bau geht: Der Duden

Das ist, wie man sofort bemerkt, nicht nur inhalt­lich, son­dern auch sprach­lich ein ganz ande­rer Text. Was an die­sem Text, neben den Ortho­gra­fie- und Gram­ma­tik­feh­lern, sofort auf­fällt, die fast aus­nahms­lose Anein­an­der­rei­hung von Haupt­sät­zen, die jeweils weder durch ein Satz­schluss­zei­chen abge­schlos­sen noch aus­rei­chend kau­sal­lo­gisch mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den. Man beachte bei­spiels­weise nur schon den ers­ten Satz “Wir sind umge­zo­gen und ich kam in eine neue Schule”, der kau­sal­lo­gisch kor­rekt fol­gen­der­mas­sen heis­sen müsste: “Weil wir umge­zo­gen waren, kam ich in eine neue Schule.” Auch die bei­den Sätze “Ich kam mir echt blöd vor” und “dann sagte Frau Schmidt zu mir […]” sind unsau­ber mit­ein­an­der ver­knüpft: “dann” ist eine tem­po­rale Par­ti­kel; zwi­schen den bei­den Sät­zen besteht aber kein tem­po­ra­ler Bezug.

Merkmale des Sprechens in die Schriftsprache transferiert

Und noch etwas muss uns auf­ge­fal­len sein, die Tat­sa­che näm­lich, dass der Text der Schü­le­rin typi­sche Merk­male der gespro­che­nen Spra­che auf­weist. Beach­ten wir nur, wie die ein­zel­nen Aus­sa­gen und Sätze weni­ger einer gram­ma­ti­schen Logik als viel­mehr einem vagen Asso­zi­ie­ren fol­gen, so wie sich die Gedan­ken der Schrei­be­rin im Augen­blick gerade erge­ben. Beson­ders schön zeigt sich dies in den bei­den bereits vor­hin genann­ten Sät­zen “Wir sind umge­zo­gen und ich kam in eine neue Schule” und “Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir usw.”, die nicht durch logi­sche Kon­junk­tio­nen, son­dern rein asso­zia­tiv mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Über­haupt feh­len im Text die Kon­junk­tio­nen, die ja eine Art Schar­nier zwi­schen den ein­zel­nen Aus­sa­gen bil­den, fast ganz. Sehen wir uns dazu bei­spiels­weise die fol­gen­den drei Sätze an, die durch kei­ner­lei Schar­niere mit­ein­an­der ver­knüpft, neben­ein­an­der ste­hen: “das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igel­haare, er hätte auch super coole Kla­mot­ten an, er sah echt süss aus.” Kau­sal­lo­gisch sau­ber ver­bun­den, könn­ten die drei Sätze etwa fol­gen­der­mas­sen lau­ten: “Das ist ein Junge mit blauen Augen und blon­den Igel­haa­ren, der super coole Kla­mot­ten trug, so dass er echt süss aussah.”
Zur mehr asso­zia­ti­ven als logi­schen Schreib­weise unse­rer Schü­le­rin tritt aber noch etwas Wei­te­res: Warum wohl sagt die Schrei­be­rin “er hätte auch super coole Kla­mot­ten an” und nicht “er trug super coole Kla­mot­ten”? Ganz ein­fach des­halb, weil es in unse­rer Mund­art auch heisst “Er hett super cooli Kla­motte a”. Die Schü­le­rin gleicht also den hoch­deut­schen Satz an die Mund­art, unser münd­li­ches Spre­chen an. Ganz ähn­lich ver­fährt sie mit dem Satz “In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.” Das ist eine dem Dia­lekt ange­nä­herte Umgangs­spra­che, wel­che die Schü­le­rin anstelle des hoch­sprach­lich for­mu­lier­ten Sat­zes “In der Pause halte ich mich zum blos­sen Zeit­ver­treib mit Kevin auf” wählt.

Unlogische Konjunktionen zwischen zwei Aussagen

Was wir im Text unse­rer Schü­le­rin vor­fin­den, ist eine Schreib­weise, wie wir sie in vie­len Tex­ten Jugend­li­cher antref­fen. Sie zeigt sich vor allem in feh­len­den oder unlo­gi­schen Kon­junk­tio­nen zwi­schen zwei Aus­sa­gen, in einem häu­fig unlo­gi­schen Gedan­ken­gang, in lan­gen Sät­zen mit wenig glie­dern­der Inter­punk­tion, in einem vagen Asso­zi­ie­ren, in einer oft­mals unge­nü­gen­den äus­se­ren Glie­de­rung und nicht zuletzt in einer gewis­sen Geschwät­zig­keit. Fas­sen wir diese Ergeb­nisse zusam­men, so lässt sich sagen, dass sich bei unsern Jugend­li­chen eine zuneh­mende Anglei­chung der geschrie­be­nen Spra­che an die gespro­chene Spra­che voll­zieht, in der wir ja in der Regel auch nicht strin­gent logisch, son­dern viel­mehr asso­zia­tiv argu­men­tie­ren, indem wir immer wie­der von einem Gedan­ken zum andern sprin­gen. Die Ger­ma­nis­tik bezeich­net diese Ten­denz zur Ver­münd­li­chung der Spra­che, die übri­gens nicht nur bei jugend­li­chen Schrei­bern, bei die­sen aber beson­ders aus­ge­prägt, fest­stell­bar ist, mit dem Begriff “Par­lando” – einem Begriff, der aus der Musik­theo­rie stammt und dort eine musi­ka­li­sche Vor­trags­weise meint, die das natür­li­che Spre­chen nach­zu­ah­men versucht.

Unter Jugend­li­chen gibt es mit Blick auf ihre Par­lando-Texte so etwas wie ein unge­schrie­be­nes Gesetz, das aus fol­gen­den vier Schreib­an­wei­sun­gen besteht:

  1. Nimm das ein­zelne Wort, den ein­zel­nen Satz nicht allzu wich­tig. Schreib weiter.
  2. Gehe davon aus, dass der Leser das, was Du schreibst, auch so ver­steht wie Du.
  3. Rechne mit dem gesun­den Men­schen­ver­stand des Lesers; ver­meide unnö­tige Differenzierungen.
  4. Nimm den Inhalt wich­ti­ger als die Form.

Inhalt wichtiger als die Form

Handy - Smartphone - Jugendliche - Instagram - Glarean Magazin
Beein­flus­sen wesent­lich das Sprach­ver­hal­ten der Jugend: Das Handy und die Social Media

Diese letzte Anwei­sung “Nimm den Inhalt wich­ti­ger als die Form” ist dabei die wich­tigste die­ser vier Schreib­an­wei­sun­gen. Sie ist ganz wesent­lich ver­ant­wort­lich für den häu­fig sorg­lo­sen Umgang mit den Nor­men und Ansprü­chen der geschrie­be­nen Spra­che, wie das Erwach­sene, vor allem Eltern, Leh­rer und Arbeit­ge­ber, bei den heu­ti­gen Jugend­li­chen mit einem gewis­sen Ent­set­zen fest­stel­len. So machen Schü­ler heute, wie der Ver­gleich von Schul­auf­sät­zen aus drei Jahr­zehn­ten gezeigt hat, dop­pelt so viele Recht­schreib- und vor allem Inter­punk­ti­ons­feh­ler als noch vor vier­zig Jah­ren, wobei die Mäd­chen sta­tis­tisch immer noch bes­ser abschnei­den als die Jun­gen. Und so hapert es denn auch bei der Gram­ma­tik, der Sti­lis­tik und der Sprach­lo­gik zum Teil gewal­tig, so dass wir in Schul­auf­sät­zen bei­spiels­weise Sätze wie die fol­gen­den zu lesen bekommen:

Der Blitz hat uns erschrocken.
Er hing die Bil­der an die Wand, aber sie häng­ten schief.
Grau­bün­den ist ein gebir­gi­ges Volk, das sich vor­wie­gend von Tou­ris­ten ernährt.
Unsere Welt nimmt in erschre­cken­dem Masse zu.
Fünf Prü­fungs­tage mit wei­chen Knien sind abgeschlossen.

Sorglosigkeit der Sprache gegenüber

Bemer­kens­wert ist dabei, dass all diese Feh­ler weni­ger mit man­geln­der Sprach­be­herr­schung zusam­men­hän­gen als viel­mehr mit einer gewis­sen Sorg­lo­sig­keit der Spra­che gegen­über. Beson­ders schön zeigt sich das an den auf­fal­lend vie­len Recht­schreib­feh­lern in Wör­tern, die eher ein­fach zu schrei­ben sind: Ich fant die Läute gemein.
Wie erklärt sich diese Ver­nach­läs­si­gung der sprach­li­chen Form, wie wir sie in Par­lando-Tex­ten unse­rer Jugend­li­chen, gera­dezu gehäuft vor­fin­den? Dafür gibt es selbst­ver­ständ­lich ver­schie­dene Gründe; die drei wich­tigs­ten möchte ich kurz nennen:
Der erste Grund – wie könnte es anders sein – ergibt sich aus dem Auf­kom­men neuer, elek­tro­ni­scher Medien wie E-Mail, SMS, Chat, Face­book, Whats­app usw., wo das unge­schrie­bene Gesetz der Sprach­öko­no­mie gilt, d.h., wo alles mög­lichst schnell, kurz und der münd­li­chen Rede­si­tua­tion ange­passt sein muss. So tip­pen Jugend­li­che in ihren Mails bei­spiels­weise nur das Kür­zel gn8, wenn sie dem Freund “Gute Nacht” wün­schen, oder OMG (oh my god), wenn für sie etwas furcht­bar ist oder hdgdl, wenn sie jeman­dem sagen wol­len: “hab dich ganz doll lieb”. Und gegrüsst wird nur noch mit Kür­zun­gen wie LG (liebe Grüsse) oder “hegrü”, falls man sich über­haupt noch Zeit für einen Gruss lässt. Kom­mas lässt man selbst­ver­ständ­lich mög­lichst weg; sie kos­ten ja auch nur Zeit. Schliess­lich schrei­ben Jugend­li­che etwa beim Chat­ten kon­se­quent klein; das geht schnel­ler, als wenn sie zwi­schen gross- und Klein­buch­sta­ben abwech­seln müssen.

Persönliche Erfahrung als Massstab des Schreibens

Dass die­ses infor­melle, ver­kürzte Schrei­ben in den neuen Medien das Schrei­ben in den übri­gen Tex­ten, etwa in Schul­auf­sät­zen, beein­flusst, steht aus­ser Frage, auch wenn die­ser Ein­fluss, wie neuere lin­gu­is­ti­sche Stu­dien gezeigt haben, nicht über­schätzt wer­den darf. Es gibt da näm­lich noch ein wei­te­res wich­ti­ges Moment, das sich auf die Schreib­weise unse­rer heu­ti­gen Jugend­li­chen aus­wirkt. Wurde frü­her, etwa in Schul­auf­sät­zen an der Ober­stufe die Dar­stel­lung schu­li­scher Inhalte gefor­dert, lau­tete ein Thema etwa “Der Frei­heits­be­griff in der Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ver­fas­sung”, so wird heute eine stär­ker eigen­stän­dige Aus­ein­an­der­set­zung mit The­men ver­langt. So z.B. “Wel­chen Wert hat der Sport für mich?”. Per­sön­li­che Erfah­run­gen wer­den für die Jugend­li­chen so ver­mehrt zum Mass­stab ihres Schrei­bens. Sie äus­sern sich in der For­mu­lie­rung einer Ich-Per­spek­tive, zei­gen sich im Anspruch der Jugend­li­chen, authen­tisch zu sein, was dazu führt, dass sich ihr Schrei­ben der gespro­che­nen Spra­che stark annä­hert. Das hat einer­seits zur Folge, dass die Texte spon­ta­ner, ja leben­di­ger wir­ken, dass ande­rer­seits aber ihre for­male Kor­rekt­heit abnimmt, was Gram­ma­tik, Recht­schrei­bung und vor allem die Inter­punk­tion betrifft.

Verwischung der Sprachebenen

Sprechen - Verständigung - Mann und Frau - Missverständnis - Glarean Magazin
Für sprach­be­wusste Erwach­sene bloss Fra­ge­zei­chen, für inhalts­be­wusste Jugend­li­che no pro­blem: “Hey Kell­ner, schwing mal a cold one rüber.”

Schliess­lich gibt es da noch einen drit­ten Grund für den häu­fig sehr sorg­lo­sen Umgang unse­rer Jugend­li­chen mit der Spra­che. Er besteht in einer gewis­sen Demo­kra­ti­sie­rung der Spra­che. Was ist damit gemeint? Ich sage es: In der deut­schen Spra­che haben Nor­men in der Gram­ma­tik, vor allem aber in der Recht­schrei­bung, anders als etwa im Eng­li­schen, einen sehr hohen Stel­len­wert, weil wir ihre Beherr­schung als Zei­chen für Intel­li­genz und schu­li­scher Bil­dung neh­men. Machen wir die Probe aufs Exem­pel: Ich frage meine Lese­rin­nen und Leser: Wür­den Sie als Arbeit­ge­ber jeman­den für einen ver­ant­wor­tungs­vol­len Pos­ten ein­stel­len, der in sei­nem Bewer­bungs­schrei­ben Gram­ma­tik- oder gar Ortho­gra­fie­feh­ler macht? Höchst­wahr­schein­lich nicht. Zu wich­tig sind Ihnen näm­lich sprach­li­che Nor­men. Und genau gegen diese Nor­men, die sie als eli­tär emp­fin­den, rebel­lie­ren viele unse­rer Jugend­li­chen. Sie nei­gen zu einer Spra­che, die nicht mehr gram­ma­tisch kor­rekt, sti­lis­tisch rein sein will, son­dern in der sich ver­schie­dene Sprach­ebe­nen gewis­ser­mas­sen ver­wi­schen, die – mit einem Wort – demo­kra­tisch ist. Das zeigt sich zum einen in ihrem häu­fig spie­le­ri­schen und sorg­lo­sen Umgang mit der geschrie­be­nen Spra­che, und dies alles mit einer star­ken Ori­en­tie­rung an der Münd­lich­keit, und zum andern in einem zuneh­men­den Ein­be­zug der Mund­art. Ohne die gerings­ten sprach­li­chen Skru­pel kön­nen sie dann bei­spiels­weise “I bi xi” anstatt hoch­deutsch “Ich bin gewe­sen” schrei­ben. Das schafft für sie offen­bar Nähe.

Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt verwischt

Bei Jugend­li­chen läuft der pri­vate schrift­li­che Aus­tausch – per SMS, Chat, Mail, Whats­app usw., aber auch in vie­len nicht­elek­tro­ni­schen Tex­ten – heute fast aus­schliess­lich in der Mund­art ab; für sie exis­tiert der Unter­schied zwi­schen Hoch­spra­che und Dia­lekt nicht mehr, so dass die Lin­gu­is­ten längst von einem “Schrift­dia­lekt” spre­chen. Inter­es­sant ist dabei, dass diese Ten­denz zur Dia­lek­ti­sie­rung der Hoch­spra­che zuneh­mend auch junge Erwach­sene erfasst. Als unsere Toch­ter Fla­via, die Leh­re­rin ist, für ihre beruf­li­chen Leis­tun­gen vom Schul­rat mit einer Prä­mie belohnt wurde, gra­tu­lierte ihr unser 28jähriger Sohn Fabio, der Jurist ist, mit fol­gen­der Mail:

Sehr geilö Flav
gra­tu­liere vu herze
lg Fab (Herz­chen)

Was an die­ser Mail auf­fällt, sind nicht nur die Mund­art und die Kür­zung lg für “Liebe Grüsse”, son­dern auch der typisch jugend­li­che Aus­druck “geilö”, der hier nichts wei­ter meint, als dass man etwas gut fin­det, und das Herz­chen am Schluss, das nicht feh­len darf. Denn Jugend­li­che emp­fin­den eine Nach­richt als unvoll­stän­dig, wenn nicht min­des­tens ein Smi­ley oder ein Herz­chen gesetzt wird. Die Lin­gu­is­ten spre­chen inzwi­schen gar von einer “Gefühls­ste­no­gra­fie”. Zu ihr gehört auch, ganz nach ame­ri­ka­ni­schem Vor­bild, die infor­melle, stark emo­tio­nal gefärbte Anrede, die inzwi­schen mehr und mehr auch von Erwach­se­nen, ja selbst von Unter­neh­men prak­ti­ziert wird, wie das fol­gende Bei­spiel zeigt, das übri­gens meine Frau in St. Gal­len ent­deckt hat:

"Informelle und stark emotional gefärbte Anrede": An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache
“Infor­melle und stark emo­tio­nal gefärbte Anrede”: An Jugend­li­che gerich­tete Plakat-Sprache

Man beachte in die­ser etwas kum­pel­haf­ten Anwer­bung nicht nur die typi­sche Jugend­spra­che, son­dern auch die mit ihr zusam­men­hän­gen­den Angli­zis­men “hey” und “cool”. Dass eng­li­sche Wör­ter unsere deut­sche Spra­che zuneh­mend ver­ein­nah­men, ist längst eine Tat­sa­che. Dass sie bei Jugend­li­chen beson­ders beliebt sind, hängt unter ande­rem damit zusam­men, sich als Gruppe von den Erwach­se­nen abgren­zen zu kön­nen. Dazu kommt das hohe Pres­tige des Eng­li­schen, wirkt es doch so modern, so snappy, so sexy, wie es Deutsch offen­bar nicht kann. “Tschau Simon, see you later” ver­ab­schie­den sich Jugend­li­che unter­ein­an­der heute. Und wenn sie etwas essen, dann “foo­den” sie, und wenn sie beim Essen ein Bier bestel­len, dann rufen sie nicht ein­fach nach einem Bier, son­dern dann heisst es “Hey Kell­ner, schwing mal a cold one rüber.” Und wenn sie schliess­lich etwas nicht hin­be­kom­men, dann sagen sie nicht “Scheisse”, son­dern “Shit”.

Jugendliche passen die Sprache der Situation an

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Jugend­li­che schrei­ben heute infor­mel­ler als noch vor 30 Jah­ren, machen z.T. auch deut­lich mehr gram­ma­ti­sche und ortho­gra­fi­sche Feh­ler. Das ist wahr. Dafür schrei­ben sie aber auch viel krea­ti­ver, wie neuere Stu­dien gezeigt haben. Zudem kön­nen sie sehr wohl unter­schei­den, ob sie eine SMS oder einen Deutsch­auf­satz schrei­ben. Sie pas­sen ihre Spra­che der Situa­tion an. Und ver­ges­sen wir zum Schluss nicht: Die sprach­li­chen Anfor­de­run­gen sind heute in einem Masse gestie­gen, des­sen wir uns erst all­mäh­lich bewusst wer­den. Was frü­her nur von einem klei­nen Teil der Bevöl­ke­rung sprach­lich zu leis­ten war, wird heute von vie­len gefor­dert. Daher kommt dem Auf- und Aus­bau der Sprach­fä­hig­keit unse­rer Jugend­li­chen in der Schule, aber auch spä­ter eine fun­da­men­tale Rolle zu. ♦


Mario Andreotti - Literatur-Autor im Glarean MagazinProf. Dr. Mario Andreotti

Geb. 1947, Stu­dium der Ger­ma­nis­tik und Geschichte in Zürich, 1975 Pro­mo­tion über Jere­mias Gott­helf, 1977 Diplom des höhe­ren Lehr­am­tes, danach Lehr­tä­tig­keit am Gym­na­sium und als Lehr­be­auf­trag­ter für Sprach- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len und an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schule Vor­arl­berg, lang­jäh­ri­ger Refe­rent in der Fort­bil­dung für die Mit­tel­schul-Lehr­kräfte und Lei­ter von Schrift­stel­ler­se­mi­na­rien, seit 1996 Dozent für Lite­ra­tur und Lite­ra­tur­theo­rie an der Zür­cher Fach­hoch­schule für Ange­wandte Lin­gu­is­tik; Ver­fas­ser meh­re­rer Publi­ka­tio­nen und zahl­rei­cher Bei­träge zur moder­nen Dich­tung, dar­un­ter das Stan­dard­werk: Die Struk­tur der moder­nen Lite­ra­tur; Mario Andreotti lebt in Eggersriet/CH

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