Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben

Sprachwandel oder Sprachzerfall?

Wie Jugendliche heute schreiben

von Mario Andreotti

Die heu­ti­ge Ju­gend ist von Grund auf ver­dor­ben; sie ist böse, gott­los und faul. Sie wird nie­mals so sein wie die Ju­gend vor­her, und es wird ihr nie­mals ge­lin­gen, un­se­re Kul­tur und Spra­che zu er­hal­ten.” Wor­te ei­nes frus­trier­ten Leh­rers, wer­den Sie jetzt viel­leicht den­ken. Weit ge­fehlt. Das ist nicht die Kla­ge ei­nes Zeit­ge­nos­sen; die Kla­ge fin­det sich viel­mehr auf ei­ner rund 3000 Jah­re al­ten ba­by­lo­ni­schen Tontafel.
War­um füh­re ich das an? Aus dem ganz ein­fa­chen Grun­de, weil die äl­te­re Ge­ne­ra­ti­on zu al­len Zei­ten über den Zu­stand der jün­ge­ren ge­klagt hat. Ur­alt schon ist die­ses Re­den vom Sprach­zer­fall, und hät­te es zu je­der Zeit zu­ge­trof­fen, so wür­den uns heu­te fast gänz­lich die Wor­te feh­len und un­se­re Kom­mu­ni­ka­ti­on wäre wohl nur noch auf ein Stam­meln, ein Grun­zen oder Pfei­fen reduziert.
Stimmt es aber, dass die sprach­li­chen Fä­hig­kei­ten un­se­rer Ju­gend­li­chen der­art zu­rück­ge­gan­gen sind, wie man im­mer wie­der hö­ren kann? Um es gleich vor­weg­zu­neh­men: Die Ant­wort auf die­se Fra­ge wird nicht ein Ja oder Nein, son­dern ein dif­fe­ren­zier­tes Ur­teil sein.

Jugendliche schreiben heute mehr als früher

Jugendliche - Girls - Handy - Kommunikation - Glarean Magazin
Ju­gend­li­che schrei­ben heu­te mehr als je zu­vor: Young La­dies beim Kon­sul­tie­ren ih­res Lieblingsspielzeuges

Be­gin­nen wir mit ei­nem viel­ge­hör­ten Vor­ur­teil, das da lau­tet, Ju­gend­li­che wür­den aus­ser­halb der Schu­le kaum noch schrei­ben; sie säs­sen in ih­rer Frei­zeit viel­mehr vor dem PC, den sie vor al­lem für Spie­le und für das Sur­fen auf Un­ter­hal­tungs­sei­ten im In­ter­net nutz­ten. Ein Vor­ur­teil, das so nicht stimmt, denn die Fak­ten spre­chen eine an­de­re Spra­che: Ju­gend­li­che schrei­ben heu­te mehr als je zu­vor. Ob sie mit Klas­sen­ka­me­ra­den chat­ten, E-Mails ver­fas­sen, Mit­tei­lun­gen über SMS ma­chen, sich an On­line-Spie­len be­tei­li­gen, ihr Pro­fil auf Face­book ak­tua­li­sie­ren oder ei­nen Kom­men­tar in ei­nem Blog ver­öf­fent­li­chen: Sie schrei­ben. Selbst das Han­dy dient Ju­gend­li­chen, an­ders als das Te­le­fon frü­her, vor­zugs­wei­se zum Schrei­ben, nicht zum Spre­chen. Ja, es wird im pri­va­ten Raum heu­te der­art viel ge­schrie­ben, dass wir Ger­ma­nis­ten ge­ra­de­zu von ei­ner “neu­en Schrift­lich­keit” spre­chen. Nur ist es ein et­was an­de­res Schrei­ben, als es sich be­sorg­te El­tern, Leh­rer und Ar­beit­ge­ber wün­schen – ein Schrei­ben, das von ih­nen häu­fig als de­fi­zi­tär be­zeich­net wird. Doch wie sieht die­ses Schrei­ben un­se­rer heu­ti­gen Ju­gend­li­chen kon­kret aus?

Aneinanderreihung von Hauptsätzen

Be­vor ich die­se Fra­ge be­ant­wor­ten kann, gilt es, dar­auf hin­wei­sen, dass frü­he­re Ge­ne­ra­tio­nen ihr Schwer­ge­wicht zum ei­nen auf die ge­schrie­be­ne Spra­che leg­ten und zum an­dern die­se ge­schrie­be­ne Spra­che häu­fig mit der ho­hen Spra­che der Dich­tung gleich­ge­setzt ha­ben. Im Schü­ler­auf­satz ei­nes 16-jäh­ri­gen Ju­gend­li­chen aus den 1950er Jah­ren tön­te das dann, recht ab­ge­ho­ben, etwa so:

Dann be­tra­ten sie das küh­le, däm­me­ri­ge, ker­zen­er­leuch­te­te Kir­chen­schiff. Wär­me zog ein in ihre er­kal­te­ten Her­zen und ver­brei­te­te den heis­sen er­sehn­ten in­ne­ren Frieden.

Ganz an­ders ein paar Sät­ze aus ei­nem 2015 ent­stan­de­nen Auf­satz zum The­ma “Ei­fer­sucht” ei­ner eben­falls sech­zehn­jäh­ri­gen Schülerin:

Wir sind um­ge­zo­gen und ich kam in eine neue Schu­le, es war mir pein­lich als Frau Schmidt (die Di­rek­to­rin) mich der Klas­se vor­stell­te, sie sag­te: “So, das ist die neue Schü­le­rin Va­nes­sa”! Ich kam mir echt blöd vor, dann sag­te Frau Schmidt zu mir, das ich mich zu Ke­vin set­zen soll, das ist ein Jun­ge mit blau­en Au­gen und blon­de Igel­haa­re, er hät­te auch su­per coo­le Kla­mot­ten an, er sah echt süss aus. In der ers­ten Wo­che wa­ren alle auch sehr nett zu mir, vor al­lem Ke­vin. In der Pau­se häng­te ich im­mer mit Ke­vin rum.[…] 

Duden - Sprache - Rechtschreibung - Lesen - Lupe - Glarean Magazin
Hat Pau­se, wenn es bei Ju­gend­li­chen um ge­nau­en Aus­druck und kor­rek­ten Satz­bau geht: Der Duden

Das ist, wie man so­fort be­merkt, nicht nur in­halt­lich, son­dern auch sprach­lich ein ganz an­de­rer Text. Was an die­sem Text, ne­ben den Or­tho­gra­fie- und Gram­ma­tik­feh­lern, so­fort auf­fällt, die fast aus­nahms­lo­se An­ein­an­der­rei­hung von Haupt­sät­zen, die je­weils we­der durch ein Satz­schluss­zei­chen ab­ge­schlos­sen noch aus­rei­chend kau­sal­lo­gisch mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den. Man be­ach­te bei­spiels­wei­se nur schon den ers­ten Satz “Wir sind um­ge­zo­gen und ich kam in eine neue Schu­le”, der kau­sal­lo­gisch kor­rekt fol­gen­der­mas­sen heis­sen müss­te: “Weil wir um­ge­zo­gen wa­ren, kam ich in eine neue Schu­le.” Auch die bei­den Sät­ze “Ich kam mir echt blöd vor” und “dann sag­te Frau Schmidt zu mir […]” sind un­sau­ber mit­ein­an­der ver­knüpft: “dann” ist eine tem­po­ra­le Par­ti­kel; zwi­schen den bei­den Sät­zen be­steht aber kein tem­po­ra­ler Bezug.

Merkmale des Sprechens in die Schriftsprache transferiert

Und noch et­was muss uns auf­ge­fal­len sein, die Tat­sa­che näm­lich, dass der Text der Schü­le­rin ty­pi­sche Merk­ma­le der ge­spro­che­nen Spra­che auf­weist. Be­ach­ten wir nur, wie die ein­zel­nen Aus­sa­gen und Sät­ze we­ni­ger ei­ner gram­ma­ti­schen Lo­gik als viel­mehr ei­nem va­gen As­so­zi­ie­ren fol­gen, so wie sich die Ge­dan­ken der Schrei­be­rin im Au­gen­blick ge­ra­de er­ge­ben. Be­son­ders schön zeigt sich dies in den bei­den be­reits vor­hin ge­nann­ten Sät­zen “Wir sind um­ge­zo­gen und ich kam in eine neue Schu­le” und “Ich kam mir echt blöd vor, dann sag­te Frau Schmidt zu mir usw.”, die nicht durch lo­gi­sche Kon­junk­tio­nen, son­dern rein as­so­zia­tiv mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Über­haupt feh­len im Text die Kon­junk­tio­nen, die ja eine Art Schar­nier zwi­schen den ein­zel­nen Aus­sa­gen bil­den, fast ganz. Se­hen wir uns dazu bei­spiels­wei­se die fol­gen­den drei Sät­ze an, die durch kei­ner­lei Schar­nie­re mit­ein­an­der ver­knüpft, ne­ben­ein­an­der ste­hen: “das ist ein Jun­ge mit blau­en Au­gen und blon­de Igel­haa­re, er hät­te auch su­per coo­le Kla­mot­ten an, er sah echt süss aus.” Kau­sal­lo­gisch sau­ber ver­bun­den, könn­ten die drei Sät­ze etwa fol­gen­der­mas­sen lau­ten: “Das ist ein Jun­ge mit blau­en Au­gen und blon­den Igel­haa­ren, der su­per coo­le Kla­mot­ten trug, so dass er echt süss aussah.”
Zur mehr as­so­zia­ti­ven als lo­gi­schen Schreib­wei­se un­se­rer Schü­le­rin tritt aber noch et­was Wei­te­res: War­um wohl sagt die Schrei­be­rin “er hät­te auch su­per coo­le Kla­mot­ten an” und nicht “er trug su­per coo­le Kla­mot­ten”? Ganz ein­fach des­halb, weil es in un­se­rer Mund­art auch heisst “Er hett su­per coo­li Kla­mot­te a”. Die Schü­le­rin gleicht also den hoch­deut­schen Satz an die Mund­art, un­ser münd­li­ches Spre­chen an. Ganz ähn­lich ver­fährt sie mit dem Satz “In der Pau­se häng­te ich im­mer mit Ke­vin rum.” Das ist eine dem Dia­lekt an­ge­nä­her­te Um­gangs­spra­che, wel­che die Schü­le­rin an­stel­le des hoch­sprach­lich for­mu­lier­ten Sat­zes “In der Pau­se hal­te ich mich zum blos­sen Zeit­ver­treib mit Ke­vin auf” wählt.

Unlogische Konjunktionen zwischen zwei Aussagen

Was wir im Text un­se­rer Schü­le­rin vor­fin­den, ist eine Schreib­wei­se, wie wir sie in vie­len Tex­ten Ju­gend­li­cher an­tref­fen. Sie zeigt sich vor al­lem in feh­len­den oder un­lo­gi­schen Kon­junk­tio­nen zwi­schen zwei Aus­sa­gen, in ei­nem häu­fig un­lo­gi­schen Ge­dan­ken­gang, in lan­gen Sät­zen mit we­nig glie­dern­der In­ter­punk­ti­on, in ei­nem va­gen As­so­zi­ie­ren, in ei­ner oft­mals un­ge­nü­gen­den äus­se­ren Glie­de­rung und nicht zu­letzt in ei­ner ge­wis­sen Ge­schwät­zig­keit. Fas­sen wir die­se Er­geb­nis­se zu­sam­men, so lässt sich sa­gen, dass sich bei un­sern Ju­gend­li­chen eine zu­neh­men­de An­glei­chung der ge­schrie­be­nen Spra­che an die ge­spro­che­ne Spra­che voll­zieht, in der wir ja in der Re­gel auch nicht strin­gent lo­gisch, son­dern viel­mehr as­so­zia­tiv ar­gu­men­tie­ren, in­dem wir im­mer wie­der von ei­nem Ge­dan­ken zum an­dern sprin­gen. Die Ger­ma­nis­tik be­zeich­net die­se Ten­denz zur Ver­münd­li­chung der Spra­che, die üb­ri­gens nicht nur bei ju­gend­li­chen Schrei­bern, bei die­sen aber be­son­ders aus­ge­prägt, fest­stell­bar ist, mit dem Be­griff “Par­lan­do” – ei­nem Be­griff, der aus der Mu­sik­theo­rie stammt und dort eine mu­si­ka­li­sche Vor­trags­wei­se meint, die das na­tür­li­che Spre­chen nach­zu­ah­men versucht.

Un­ter Ju­gend­li­chen gibt es mit Blick auf ihre Par­lan­do-Tex­te so et­was wie ein un­ge­schrie­be­nes Ge­setz, das aus fol­gen­den vier Schreib­an­wei­sun­gen besteht:

  1. Nimm das ein­zel­ne Wort, den ein­zel­nen Satz nicht all­zu wich­tig. Schreib weiter.
  2. Gehe da­von aus, dass der Le­ser das, was Du schreibst, auch so ver­steht wie Du.
  3. Rech­ne mit dem ge­sun­den Men­schen­ver­stand des Le­sers; ver­mei­de un­nö­ti­ge Differenzierungen.
  4. Nimm den In­halt wich­ti­ger als die Form.

Inhalt wichtiger als die Form

Handy - Smartphone - Jugendliche - Instagram - Glarean Magazin
Be­ein­flus­sen we­sent­lich das Sprach­ver­hal­ten der Ju­gend: Das Han­dy und die So­cial Media

Die­se letz­te An­wei­sung “Nimm den In­halt wich­ti­ger als die Form” ist da­bei die wich­tigs­te die­ser vier Schreib­an­wei­sun­gen. Sie ist ganz we­sent­lich ver­ant­wort­lich für den häu­fig sorg­lo­sen Um­gang mit den Nor­men und An­sprü­chen der ge­schrie­be­nen Spra­che, wie das Er­wach­se­ne, vor al­lem El­tern, Leh­rer und Ar­beit­ge­ber, bei den heu­ti­gen Ju­gend­li­chen mit ei­nem ge­wis­sen Ent­set­zen fest­stel­len. So ma­chen Schü­ler heu­te, wie der Ver­gleich von Schul­auf­sät­zen aus drei Jahr­zehn­ten ge­zeigt hat, dop­pelt so vie­le Recht­schreib- und vor al­lem In­ter­punk­ti­ons­feh­ler als noch vor vier­zig Jah­ren, wo­bei die Mäd­chen sta­tis­tisch im­mer noch bes­ser ab­schnei­den als die Jun­gen. Und so ha­pert es denn auch bei der Gram­ma­tik, der Sti­lis­tik und der Sprach­lo­gik zum Teil ge­wal­tig, so dass wir in Schul­auf­sät­zen bei­spiels­wei­se Sät­ze wie die fol­gen­den zu le­sen bekommen:

Der Blitz hat uns erschrocken.
Er hing die Bil­der an die Wand, aber sie häng­ten schief.
Grau­bün­den ist ein ge­bir­gi­ges Volk, das sich vor­wie­gend von Tou­ris­ten ernährt.
Un­se­re Welt nimmt in er­schre­cken­dem Mas­se zu.
Fünf Prü­fungs­ta­ge mit wei­chen Knien sind abgeschlossen.

Sorglosigkeit der Sprache gegenüber

Be­mer­kens­wert ist da­bei, dass all die­se Feh­ler we­ni­ger mit man­geln­der Sprach­be­herr­schung zu­sam­men­hän­gen als viel­mehr mit ei­ner ge­wis­sen Sorg­lo­sig­keit der Spra­che ge­gen­über. Be­son­ders schön zeigt sich das an den auf­fal­lend vie­len Recht­schreib­feh­lern in Wör­tern, die eher ein­fach zu schrei­ben sind: Ich fant die Läu­te gemein.
Wie er­klärt sich die­se Ver­nach­läs­si­gung der sprach­li­chen Form, wie wir sie in Par­lan­do-Tex­ten un­se­rer Ju­gend­li­chen, ge­ra­de­zu ge­häuft vor­fin­den? Da­für gibt es selbst­ver­ständ­lich ver­schie­de­ne Grün­de; die drei wich­tigs­ten möch­te ich kurz nennen:
Der ers­te Grund – wie könn­te es an­ders sein – er­gibt sich aus dem Auf­kom­men neu­er, elek­tro­ni­scher Me­di­en wie E-Mail, SMS, Chat, Face­book, Whats­app usw., wo das un­ge­schrie­be­ne Ge­setz der Sprach­öko­no­mie gilt, d.h., wo al­les mög­lichst schnell, kurz und der münd­li­chen Re­de­si­tua­ti­on an­ge­passt sein muss. So tip­pen Ju­gend­li­che in ih­ren Mails bei­spiels­wei­se nur das Kür­zel gn8, wenn sie dem Freund “Gute Nacht” wün­schen, oder OMG (oh my god), wenn für sie et­was furcht­bar ist oder hdgdl, wenn sie je­man­dem sa­gen wol­len: “hab dich ganz doll lieb”. Und ge­grüsst wird nur noch mit Kür­zun­gen wie LG (lie­be Grüs­se) oder “he­grü”, falls man sich über­haupt noch Zeit für ei­nen Gruss lässt. Kom­mas lässt man selbst­ver­ständ­lich mög­lichst weg; sie kos­ten ja auch nur Zeit. Schliess­lich schrei­ben Ju­gend­li­che etwa beim Chat­ten kon­se­quent klein; das geht schnel­ler, als wenn sie zwi­schen gross- und Klein­buch­sta­ben ab­wech­seln müssen.

Persönliche Erfahrung als Massstab des Schreibens

Dass die­ses in­for­mel­le, ver­kürz­te Schrei­ben in den neu­en Me­di­en das Schrei­ben in den üb­ri­gen Tex­ten, etwa in Schul­auf­sät­zen, be­ein­flusst, steht aus­ser Fra­ge, auch wenn die­ser Ein­fluss, wie neue­re lin­gu­is­ti­sche Stu­di­en ge­zeigt ha­ben, nicht über­schätzt wer­den darf. Es gibt da näm­lich noch ein wei­te­res wich­ti­ges Mo­ment, das sich auf die Schreib­wei­se un­se­rer heu­ti­gen Ju­gend­li­chen aus­wirkt. Wur­de frü­her, etwa in Schul­auf­sät­zen an der Ober­stu­fe die Dar­stel­lung schu­li­scher In­hal­te ge­for­dert, lau­te­te ein The­ma etwa “Der Frei­heits­be­griff in der Schwei­ze­ri­schen Bun­des­ver­fas­sung”, so wird heu­te eine stär­ker ei­gen­stän­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit The­men ver­langt. So z.B. “Wel­chen Wert hat der Sport für mich?”. Per­sön­li­che Er­fah­run­gen wer­den für die Ju­gend­li­chen so ver­mehrt zum Mass­stab ih­res Schrei­bens. Sie äus­sern sich in der For­mu­lie­rung ei­ner Ich-Per­spek­ti­ve, zei­gen sich im An­spruch der Ju­gend­li­chen, au­then­tisch zu sein, was dazu führt, dass sich ihr Schrei­ben der ge­spro­che­nen Spra­che stark an­nä­hert. Das hat ei­ner­seits zur Fol­ge, dass die Tex­te spon­ta­ner, ja le­ben­di­ger wir­ken, dass an­de­rer­seits aber ihre for­ma­le Kor­rekt­heit ab­nimmt, was Gram­ma­tik, Recht­schrei­bung und vor al­lem die In­ter­punk­ti­on betrifft.

Verwischung der Sprachebenen

Sprechen - Verständigung - Mann und Frau - Missverständnis - Glarean Magazin
Für sprach­be­wuss­te Er­wach­se­ne bloss Fra­ge­zei­chen, für in­halts­be­wuss­te Ju­gend­li­che no pro­blem: “Hey Kell­ner, schwing mal a cold one rüber.”

Schliess­lich gibt es da noch ei­nen drit­ten Grund für den häu­fig sehr sorg­lo­sen Um­gang un­se­rer Ju­gend­li­chen mit der Spra­che. Er be­steht in ei­ner ge­wis­sen De­mo­kra­ti­sie­rung der Spra­che. Was ist da­mit ge­meint? Ich sage es: In der deut­schen Spra­che ha­ben Nor­men in der Gram­ma­tik, vor al­lem aber in der Recht­schrei­bung, an­ders als etwa im Eng­li­schen, ei­nen sehr ho­hen Stel­len­wert, weil wir ihre Be­herr­schung als Zei­chen für In­tel­li­genz und schu­li­scher Bil­dung neh­men. Ma­chen wir die Pro­be aufs Ex­em­pel: Ich fra­ge mei­ne Le­se­rin­nen und Le­ser: Wür­den Sie als Ar­beit­ge­ber je­man­den für ei­nen ver­ant­wor­tungs­vol­len Pos­ten ein­stel­len, der in sei­nem Be­wer­bungs­schrei­ben Gram­ma­tik- oder gar Or­tho­gra­fie­feh­ler macht? Höchst­wahr­schein­lich nicht. Zu wich­tig sind Ih­nen näm­lich sprach­li­che Nor­men. Und ge­nau ge­gen die­se Nor­men, die sie als eli­tär emp­fin­den, re­bel­lie­ren vie­le un­se­rer Ju­gend­li­chen. Sie nei­gen zu ei­ner Spra­che, die nicht mehr gram­ma­tisch kor­rekt, sti­lis­tisch rein sein will, son­dern in der sich ver­schie­de­ne Sprach­ebe­nen ge­wis­ser­mas­sen ver­wi­schen, die – mit ei­nem Wort – de­mo­kra­tisch ist. Das zeigt sich zum ei­nen in ih­rem häu­fig spie­le­ri­schen und sorg­lo­sen Um­gang mit der ge­schrie­be­nen Spra­che, und dies al­les mit ei­ner star­ken Ori­en­tie­rung an der Münd­lich­keit, und zum an­dern in ei­nem zu­neh­men­den Ein­be­zug der Mund­art. Ohne die ge­rings­ten sprach­li­chen Skru­pel kön­nen sie dann bei­spiels­wei­se “I bi xi” an­statt hoch­deutsch “Ich bin ge­we­sen” schrei­ben. Das schafft für sie of­fen­bar Nähe.

Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt verwischt

Bei Ju­gend­li­chen läuft der pri­va­te schrift­li­che Aus­tausch – per SMS, Chat, Mail, Whats­app usw., aber auch in vie­len nicht­elek­tro­ni­schen Tex­ten – heu­te fast aus­schliess­lich in der Mund­art ab; für sie exis­tiert der Un­ter­schied zwi­schen Hoch­spra­che und Dia­lekt nicht mehr, so dass die Lin­gu­is­ten längst von ei­nem “Schrift­dia­lekt” spre­chen. In­ter­es­sant ist da­bei, dass die­se Ten­denz zur Dia­lek­ti­sie­rung der Hoch­spra­che zu­neh­mend auch jun­ge Er­wach­se­ne er­fasst. Als un­se­re Toch­ter Fla­via, die Leh­re­rin ist, für ihre be­ruf­li­chen Leis­tun­gen vom Schul­rat mit ei­ner Prä­mie be­lohnt wur­de, gra­tu­lier­te ihr un­ser 28jähriger Sohn Fa­bio, der Ju­rist ist, mit fol­gen­der Mail:

Sehr gei­lö Flav
gra­tu­lie­re vu herze
lg Fab (Herz­chen)

Was an die­ser Mail auf­fällt, sind nicht nur die Mund­art und die Kür­zung lg für “Lie­be Grüs­se”, son­dern auch der ty­pisch ju­gend­li­che Aus­druck “gei­lö”, der hier nichts wei­ter meint, als dass man et­was gut fin­det, und das Herz­chen am Schluss, das nicht feh­len darf. Denn Ju­gend­li­che emp­fin­den eine Nach­richt als un­voll­stän­dig, wenn nicht min­des­tens ein Smi­ley oder ein Herz­chen ge­setzt wird. Die Lin­gu­is­ten spre­chen in­zwi­schen gar von ei­ner “Ge­fühls­ste­no­gra­fie”. Zu ihr ge­hört auch, ganz nach ame­ri­ka­ni­schem Vor­bild, die in­for­mel­le, stark emo­tio­nal ge­färb­te An­re­de, die in­zwi­schen mehr und mehr auch von Er­wach­se­nen, ja selbst von Un­ter­neh­men prak­ti­ziert wird, wie das fol­gen­de Bei­spiel zeigt, das üb­ri­gens mei­ne Frau in St. Gal­len ent­deckt hat:

"Informelle und stark emotional gefärbte Anrede": An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache
“In­for­mel­le und stark emo­tio­nal ge­färb­te An­re­de”: An Ju­gend­li­che ge­rich­te­te Plakat-Sprache

Man be­ach­te in die­ser et­was kum­pel­haf­ten An­wer­bung nicht nur die ty­pi­sche Ju­gend­spra­che, son­dern auch die mit ihr zu­sam­men­hän­gen­den An­gli­zis­men “hey” und “cool”. Dass eng­li­sche Wör­ter un­se­re deut­sche Spra­che zu­neh­mend ver­ein­nah­men, ist längst eine Tat­sa­che. Dass sie bei Ju­gend­li­chen be­son­ders be­liebt sind, hängt un­ter an­de­rem da­mit zu­sam­men, sich als Grup­pe von den Er­wach­se­nen ab­gren­zen zu kön­nen. Dazu kommt das hohe Pres­ti­ge des Eng­li­schen, wirkt es doch so mo­dern, so snap­py, so sexy, wie es Deutsch of­fen­bar nicht kann. “Tschau Si­mon, see you la­ter” ver­ab­schie­den sich Ju­gend­li­che un­ter­ein­an­der heu­te. Und wenn sie et­was es­sen, dann “foo­den” sie, und wenn sie beim Es­sen ein Bier be­stel­len, dann ru­fen sie nicht ein­fach nach ei­nem Bier, son­dern dann heisst es “Hey Kell­ner, schwing mal a cold one rü­ber.” Und wenn sie schliess­lich et­was nicht hin­be­kom­men, dann sa­gen sie nicht “Scheis­se”, son­dern “Shit”.

Jugendliche passen die Sprache der Situation an

Anzeige Amazon: Rechte Wörter - Von Abendland bis Zigeunerschnitzel - Andreas Graf von Bernstorff
An­zei­ge

Ju­gend­li­che schrei­ben heu­te in­for­mel­ler als noch vor 30 Jah­ren, ma­chen z.T. auch deut­lich mehr gram­ma­ti­sche und or­tho­gra­fi­sche Feh­ler. Das ist wahr. Da­für schrei­ben sie aber auch viel krea­ti­ver, wie neue­re Stu­di­en ge­zeigt ha­ben. Zu­dem kön­nen sie sehr wohl un­ter­schei­den, ob sie eine SMS oder ei­nen Deutsch­auf­satz schrei­ben. Sie pas­sen ihre Spra­che der Si­tua­ti­on an. Und ver­ges­sen wir zum Schluss nicht: Die sprach­li­chen An­for­de­run­gen sind heu­te in ei­nem Mas­se ge­stie­gen, des­sen wir uns erst all­mäh­lich be­wusst wer­den. Was frü­her nur von ei­nem klei­nen Teil der Be­völ­ke­rung sprach­lich zu leis­ten war, wird heu­te von vie­len ge­for­dert. Da­her kommt dem Auf- und Aus­bau der Sprach­fä­hig­keit un­se­rer Ju­gend­li­chen in der Schu­le, aber auch spä­ter eine fun­da­men­ta­le Rol­le zu. ♦


Mario Andreotti - Literatur-Autor im Glarean MagazinProf. Dr. Ma­rio Andreotti

Geb. 1947, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Ge­schich­te in Zü­rich, 1975 Pro­mo­ti­on über Je­re­mi­as Gott­helf, 1977 Di­plom des hö­he­ren Lehr­am­tes, da­nach Lehr­tä­tig­keit am Gym­na­si­um und als Lehr­be­auf­trag­ter für Sprach- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len und an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le Vor­arl­berg, lang­jäh­ri­ger Re­fe­rent in der Fort­bil­dung für die Mit­tel­schul-Lehr­kräf­te und Lei­ter von Schrift­stel­ler­se­mi­na­ri­en, seit 1996 Do­zent für Li­te­ra­tur und Li­te­ra­tur­theo­rie an der Zür­cher Fach­hoch­schu­le für An­ge­wand­te Lin­gu­is­tik; Ver­fas­ser meh­re­rer Pu­bli­ka­tio­nen und zahl­rei­cher Bei­trä­ge zur mo­der­nen Dich­tung, dar­un­ter das Stan­dard­werk: Die Struk­tur der mo­der­nen Li­te­ra­tur; Ma­rio An­dreot­ti lebt in Eggersriet/CH

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch von Ma­rio Andreotti:

Aspek­te und Ten­den­zen der neue­ren und neu­es­ten Schwei­zer Literatur

Ist Dich­ten lernbar?

Aus­ser­dem zum The­ma Kul­tur­ge­schich­te über die Al­bert-Schweit­zer-Mo­no­gra­phie von Claus Eu­rich: Ra­di­ka­le Liebe

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)