Roland Topor: Tragikomödien (Kurzprosa)

Vom Aberwitz des Wirklichen

von Walter Eigenmann

Nein, für Puris­ten, Roman­ti­ker, Kin­der und Herz­kranke ist sie nicht gedacht, die soeben erschie­nene Kurz­prosa-Antho­lo­gie “Tra­gi­ko­mö­dien” des Pari­ser Kul­tur-All­roun­ders Roland Topor (1938-1997). Denn der Dio­ge­nes Ver­lag legt mit die­sen “Erzäh­lun­gen” und “Mani­fes­ten” einen Schrift­stel­ler auf, des­sen mali­ziöse Raf­fi­nesse nur noch von sei­ner grin­sen­den Bös­ar­tig­keit, allen­falls noch von sei­nem bizar­ren Zynis­mus über­trof­fen wird. Sen­si­ble (Sprach-)Ästheten dürf­ten also den 350 Sei­ten schwe­ren Prosa-Bro­cken aus der Feder eines der berühm­tes­ten fran­zö­si­schen Zeich­ner, Lite­ra­ten, Gra­phi­ker und Schau­spie­ler bereits nach weni­gen Zei­len aus der Hand legen.

Giftspritzende Satiren

Roland Topor: Tragikomödien (Diogenes Verlag)Nicht so aber all jene, wel­che die gift­sprit­zende Satire, die heim­tü­cki­sche Anti-Moral-Atta­cke, die ätzende Nor­ma­li­tä­ten-Häme, den scham­lo­sen Griff zwi­schen die Beine aller “Net­ten und Guten” zu schät­zen wis­sen. Und natür­lich alle jene, wel­che der Sur­rea­li­tät der zwi­schen­mensch­li­chen Rea­li­tät einen (zuge­ge­be­ner­mas­sen: gehö­ri­gen) Schuss maka­bre Degou­tanz abge­win­nen können.
Und wie liest sich das genau?

So, zum Bei­spiel (Zitat):

Ius pri­mae noctis

Die­ses Jahr fin­det die Wahl der Miss World in Mexiko statt.
Bewer­be­rin­nen aus 32 Natio­nen lan­den am Flug­ha­fen und drän­gen sich in dem Bus, der sie zum >Palace Excel­sior< brin­gen soll, dem Ort der Ver­an­stal­tung. Unglück­li­cher­weise kommt der Bus unter­wegs von der kur­vi­gen Berg­strasse ab und stürzt in eine Schlucht. Zwölf Kon­kur­ren­tin­nen sind sol­ort tot, fünf­zehn mehr oder weni­ger schwer verletzt.
All­ge­meine Ratlosigkeit.
Soll man ein so bedeu­ten­des Ereig­nis absa­gen, wo doch Fern­seh­sen­der aus aller Welt vor Ort schon ihre Kame­ras auf­ge­baut haben?
Die Ver­an­stal­ter beschlies­sen, so zu tun, als ob nichts wäre, und beschrän­ken sich dar­auf, die Moda­li­tä­ten der Zere­mo­nie zu ver­än­dern: Das Defilé soll hori­zon­tal erfol­gen, die Bewer­be­rin­nen, ob tot oder leben­dig, wer­den – sorg­fäl­tig geschminkt und eine Ban­de­role mit dem Namen ihres Her­kunfts­lan­des schräg über den ent­zü­cken­den Bade­an­zug dra­piert – von Her­ren im Abend­an­zug auf einer Liege getragen.
Und alles geht sehr gut, von den Gewis­sens­pro­ble­men der Jury­mit­glie­der ein­mal abge­se­hen: Gibt es einen Punkt­ab­zug für ein feh­len­des Bein? Kann man auf ein Gesicht ver­zich­ten? Müs­sen es unbe­dingt zwei Brüste sein?
Um nicht die einen auf Kos­ten der ande­ren zu bevor­zu­gen, wur­den die Leben­den vor­sichts­hal­ber betäubt und so den Toten gleich­ge­stellt, aus­ser­dem konnte man auf diese Weise den zwei­fel­los uner­freu­li­chen Ein­druck ver­mei­den, den Röcheln und Stöh­nen her­vor­ge­ru­fen hätten.
Die Ent­schei­dung ist aller­dings durch den Umstand erschwert, dass die lie­gende Stel­lung, in der die präch­ti­gen Ana­to­mien der Jury prä­sen­tiert wer­den, die Begut­ach­tung nicht gerade begüns­tigt. Auf Bit­ten der Her­ren wird also manch­mal ein Kopf gedreht, ein Bein ange­ho­ben oder eine Wunde geschlos­sen. Zudem erscheint es unum­gäng­lich, die Kör­per umzu­dre­hen, um nach der Vor­der- auch die Rück­seite in Augen­schein zu nehmen.
Schliess­lich wird die Lei­che einer 19-jäh­ri­gen Blon­dine mit den Mas­sen 90-90-0, frü­her Wirt­schafts­stu­den­tin an der Uni­ver­si­tät von Prince­ton mit den Hob­bys Yoga und Rei­ten, zur Miss Tod gekrönt.
Ein atem­be­rau­ben­des Finale vol­ler Span­nung und uner­war­te­ter Wendungen.
Ein­zi­ger Makel: Böse Zun­gen behaup­ten, der Jury­vor­sit­zende habe vor der Aus­schei­dung ihre Gunst genossen.

Die Psychologie spielt keine Rolle”

Roland Topor's "Le Fourmilier": Ein Ameisenbär auf Abwegen
Roland Topor’s “Le Four­mi­lier”: Ein Amei­sen­bär auf Abwegen

Kein Zwei­fel also: Topor schrieb, wie er zeich­nete – tabu­los bis zur tabula rasa, und immer der Absur­di­tät noch ein unmo­ra­li­sches Augen­zwin­kern ent­win­dend. Voll­ends offen-sicht­lich wird das in sei­nen Zeich­nun­gen – bei­spiels­weise in “Le Four­mi­lier” (Bild).

Geschmack? Tabu? Anstand? Norm? Gewiss keine von Topor erfun­de­nen Begriffe – auch wenn sie für den “Reiz” gerade eines “Rasen­den” wie Topor unver­zicht­bar sind.
Den “Tra­gi­ko­mö­dien” ist ein auf­schluss­rei­ches Inter­view mit dem Autor bei­gefügt, worin der “Pos­sen­reis­ser” (Topor über Topor) zu sei­nen Zeich­nun­gen u.a. meint: “Ich will nicht scho­ckie­ren, ich zeichne und male. Die Psy­cho­lo­gie spielt in dem Moment über­haupt keine Rolle.” Die­selbe Psy­cho­lo­gie-Abs­ti­nenz schlägt einem bei Topors Erzäh­lun­gen ent­ge­gen: Der Schreib­stil ist knapp, raf­fend, nichts reflek­tie­rend, völ­lig auf den aber­wit­zi­gen Plot der Story fokus­siert, unbarm­her­zig grad­li­nig in den lus­ti­gen Abgrund füh­rend. Zurecht ver­wahrte sich Topor stets dage­gen, als Humo­rist oder gar Komi­ker gehan­delt zu wer­den – allen­falls “schwar­zen Humor” liess er sich attestieren.

Der französische Sound of Dead

Dem­entspre­chend kommt auch Roland Topor’s Defi­ni­tion von Humor daher:

Roland Topor - Glarean Magazin
Roland Topor

Der typi­sche Humor ist für mich die Geschichte von dem zum Tode Ver­ur­teil­ten, der die letzte Ziga­rette mit den Wor­ten ablehnt: ‘Nein danke, ich will doch aufhören!'”

Tra­gi­ko­mö­dien” bringt einen unver­wech­sel­ba­ren, den viel­ge­rühm­ten fran­zö­si­schen Esprit absurd bre­chen­den, die Rea­li­tät ins köst­lich Boden­lose zer­brö­seln­den “Sound of Dead” aufs Papier. Die Welt des Roland Topor, sie ist weder tra­gisch noch komö­di­an­tisch, aber “tra­gi­ko­misch” immens. Nicht am Strand in der Sonne zu lesen – aber viel­leicht bei Whisky und Kerzenschein? ♦

Roland Topor, Tra­gi­ko­mö­dien, Erzäh­lun­gen, Dio­ge­nes Ver­lag, 348 Sei­ten, ISBN 978-3257065992

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Humor in der Lite­ra­tur” auch über den Roman von David Safier: Jesus liebt mich

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