Inhaltsverzeichnis
Botschaft an die Menschheit
von Alexandra Lavizzari
Anlässlich des 100. Geburtstages von Ulrich Becher im Januar 2010 legte der Frankfurter Verlag Schöffling und Co. den sprachwuchtigen, 1969 erschienenen Exilroman “Murmeljagd” nach Jahrzehnten der Vergessenheit neu auf, und nun erscheint das Buch im Taschenbuchformat beim Diogenes Verlag in Zürich mitsamt einem brillanten Nachwort von Eva Menasse.
Als Sohn eines deutschen Rechtsanwalts und einer Schweizer Pianistin in Berlin geboren, sprengte Ulrich Becher sowohl biografisch als auch literarisch Grenzen. Selber musisch begabt wie die Mutter und auch genügend malerisches Talent beweisend, um vom anspruchsvollen George Grosz als Schüler akzeptiert zu werden, entschied sich Becher indessen für das Studium der Rechtswissenschaften und schrieb sich gleichzeitig mit dem 1932 bei Rowohlt erschienen Novellenband Männer machen Fehler in die höchsten literarischen Ränge.
Die Zeiten waren für Bechers radikale politische Gesinnung jedoch nicht günstig; sein literarisches Début fiel 1933 der Bücherverbrennung zum Opfer und beendete vorläufig seine vielversprechende Schriftstellerkarriere.
Ein Leben im Exil
Fortan war ihm auf lange Zeit keine Ruhe mehr gegönnt; der Flucht nach Österreich folgte nach dem ‚Anschluss‘ das Gesuch um eine Schweizer Aufenthaltsbewilligung, welches die Behörden aufgrund seiner militanten antifaschistischen Haltung ablehnten. Wohl oder übel musste Becher seine Exilreise fortsetzen, und zwar zuerst nach Brasilien und 1944 schließlich zu den Schwiegereltern nach New York. Erst 1954 kehrte Becher nach Europa zurück, wo er sich in Basel niederließ und bis zu seinem Tod im Jahr 1990 produktiv aber zunehmend zurückgezogen lebte.
Spannende Langatmigkeit

Nach zahlreichen Novellen, Romanen und Bühnenstücken, die im Exil entstanden und zum größten Teil im Rowohlt Verlag erschienen, schrieb Becher in Basel sein fuminantes Meisterwerk “Murmeljagd”, eine Mischung aus Politthriller, Satire und Abenteuerroman, die Leserinnen und Leser unvergesslich skurrile Figuren und Situationen beschert und mit einer vor lauter Dialekteinsprengseln nur so funkelnden Erzählsprache verzaubert.
Ausufernde Phantasie
Bechers ausufernde Fantasie mag bisweilen unsere Geduld und Konzentration strapazieren; handkehrum liest sich die dramatische Flucht des Journalisten Albert Trebla aus dem von den Nazis besetzten Österreich ins schweizerische Engadin wie ein spannender Krimi, sterben ihm doch nach und nach Freunde und Bekannte auf unerklärliche Weise weg und tauchen auf seinem Weg immer wieder Menschen mit dubiosen Absichten auf.
Trebla (ein Palindrom für Albert) ist das Murmeltier des Romantitels; er hetzt mit seiner Frau Xane in einer Zeitspanne von nur einem Monat im Jahre 1938 durch grandios beschriebene Berglandschaften, versteckt sich, überall Gefahr witternd und – mählich in den Wahn getrieben – sogar ins harmlose Pfeifen von Murmeltieren geheime Botschaften der ihn jagenden Nazis hineinlesend.
Wider den Krieg
Handelt es sich bei “Murmeljagd” um eine monumentale Autobiografie? Die Passagen, die von Treblas Problemen mit der Schweizer Fremdenpolizei handeln, verleiten zu dieser Annahme, doch Becher wollte, wie er seinem Bruder schrieb, weit über sein persönliches Schicksal hinaus “die fetten sieben Jahre des Hitlerregimes” anprangern und die verheerenden psychischen Folgen ständiger Lebensangst auf das Befinden von verfolgten Regimegegnern darlegen. Inzwischen weiß man auch, dass Becher mit Trebla nicht sich selbst porträtiert hat, sondern den Maler Axl Leskoschek, der, wie Becher selbst, nach Brasilien emigiert war.
Unvergessliche Schilderungen

Eva Menasse ist voll des Lobes für “Murmeljagd”: “Der Zug-Transport der jüdischen und kommunistischen Häftlinge nach Dachau – unvergesslich. Unvergesslich der letzte Ritt des Roda-Roda nachgebildeten Zirkusartisten im KZ – allein für diese Szene hätte Becher den Büchnerpreis verdient, den er natürlich nie bekam; wie gesagt, es fühlte sich keiner zuständig.”
Menasse liefert damit eine der möglichen Erklärungen, weshalb “Murmeljagd” nach Erscheinen so schnell in Vergessenheit geriet. Aufgrund seines Lebenswegs konnte dem Autor weder Deutschland noch die Schweiz oder Österreich wirklich Heimat sein; er war und blieb letztlich ein Fremder, wo immer er sich aufhielt, auch wenn sein Werk geografisch präzise verankert ist.
Universelle Botschaft
Eine andere Erklärung mag man in der Zeit sehen, in der Becher seinen Exilroman veröffentlichte. Der zweite Weltkrieg lag bereits zu weit zurück, um die Leserschaft als literarisches Thema noch zu fesseln. Schriftsteller wie Handke und Böll schrieben zu jener Zeit sogenannte Nachkriegsliteratur, man wollte die Gegenwart protokollieren, vielleicht auch endlich vorwärts blicken, nachdem man sich, wie irrtümlicherweise angenommen, bereits bis zum Überdruss mit der Nazivergangenheit auseinandergesetzt hatte.
Ein Roman wie “Murmeljagd” mag eine Zeit lang in der Flut von Publikationen untergehen; es ist aber eines dieser Bücher, die still und geheim ihren Weg ins Bewusstsein der Bevölkerung zurückfinden, weil sie bei aller Groteske und Skurrilität eine universelle Botschaft an die Menschheit übermittelt. Dem Schöffling und Diogenes Verlag sei Dank dafür, Bechers Botschaft zur weiteren Verbreitung zu verhelfen; sie ist heute mehr denn je von brennender Aktualität. ♦
Ulrich Becher: Murmeljagd – Roman, Diogenes Verlag, 708 Seiten, ISBN 978-3-89561-452-1
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Nachkriegsliteratur auch über den Roman von Christian Berkel: Ada
Der GLAREAN-Herausgeber bei INSTAGRAM
Höchst informative, lebendig geschriebene Rezension (mit guten Fotos), die zum Lesen des wichtigen Buches anregt!