Carsten Hensel: Wladimir Kramnik (Schach-Biographie)

Innensicht eines Weltmeisters

von Mario Ziegler

Die prä­gende Gestalt des im März die­sen Jah­res in Ber­lin aus­ge­kämpf­ten Schach-Kan­di­da­ten­tur­niers war – neben dem spä­te­ren Sie­ger Caru­ana – nach all­ge­mei­ner Ansicht der rus­si­sche Exwelt­meis­ter Wla­di­mir Kram­nik, der zwar am Ende nur Platz 5 belegte, aber durch seine unter­neh­mungs­lus­ti­gen Par­tien sehr zum Unter­hal­tungs­wert die­ser denk­wür­di­gen Ver­an­stal­tung bei­trug. Im Rah­men die­ses Kan­di­da­ten­tur­niers wurde auch eine Bio­gra­phie prä­sen­tiert von Cars­ten Hen­sel: Wla­di­mir Kram­nik, und der Autor war lang­jäh­ri­ger Mana­ger Kram­niks. Der 1958 gebo­rene Dort­mun­der wagte nach Tätig­kei­ten im Orga­ni­sa­ti­ons­ko­mi­tee der Tisch­ten­nis-Welt­meis­ter­schaft 1989 und als Pres­se­spre­cher der Stadt Dort­mund den Schritt in die Schach­szene: Zunächst als Mana­ger des Ungarn Péter Lékó, danach (2002-2009) als der­je­nige Kram­niks. Man darf also intime Ein­bli­cke in die Schach­welt zu Beginn des 3. Jahr­tau­sends erwar­ten – und wird nicht enttäuscht.

Intime Einblicke in die Schachwelt

Carsten Hensel: Wladimir Kramnik - Aus dem Leben eines Schachgenies - Verlag Die Werkstatt 2018
Cars­ten Hen­sel: Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Leben eines Schach­ge­nies – Ver­lag Die Werk­statt 2018

Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Leben eines Schach­ge­nies” von Cars­ten Hen­sel beginnt dra­ma­tisch mit einem der emo­tio­nals­ten Momente in Kram­niks Karriere:
“13. Okto­ber 2006, 19:10 Uhr, Elista, rus­si­sche Teil­re­pu­blik Kal­mü­ckien: Ein Auf­schrei zer­schnei­det die Gra­bes­stille im über­füll­ten Spiel­saal. Topa­low hat soeben in der ent­schei­den­den vier­ten Tie­break-Par­tie im 44. Zug einen schwe­ren Feh­ler gemacht und sei­nen Turm ein­ge­stellt. Kram­niks Hal­tung wird ker­zen­ge­rade. Miguel Illes­cas kneift mich ins Bein und flüs­tert: ‚Wir haben es, das ver­liert!‘ Kram­nik zieht sei­nen Turm im 45. Zug nach b7, Schach! Topa­low stiert einen Moment auf das Schach­brett, schüt­telt den Kopf und gibt auf. Kram­niks Faust schnellt zum Zei­chen des Tri­um­phes nach oben, genau wie er es schon nach sei­nen epi­schen WM-Sie­gen gegen Garri Kas­pa­row und Peter Lékó gemacht hat. Meine Wahn­sinns­an­span­nung macht sich Luft, und das sonst so zurück­hal­tende Schach­pu­bli­kum ver­wan­delt das Audi­to­rium des kal­mü­cki­schen Regie­rungs­hau­ses in ein Toll­haus: Hurra-Schreie, Tram­peln und stak­ka­to­ar­ti­sches Klat­schen fol­gen minutenlang”.
Die­ses Zitat ist nicht unty­pisch: Hen­sel ver­steht es, die Dra­ma­tik einer Situa­tion zur Gel­tung kom­men zu las­sen. Dass er hier­bei alles andere als ein unbe­tei­lig­ter Chro­nist ist und sehr deut­lich Posi­tion bezieht, ist selbst­ver­ständ­lich und macht den Reiz des Buches aus.

Die Weltmeister von Steinitz bis Carlsen

Wilhelm Steinitz
Wil­helm Steinitz

Die Bio­gra­phie ist in 10 Kapi­tel unter­glie­dert, diese wie­derum in meh­rere num­me­rierte Pas­sa­gen, so dass sich 64 Abschnitte erge­ben. Eine Son­der­stel­lung neh­men die Kapi­tel 1 und 10 ein: Im ers­ten wird über Kram­niks Cha­rak­ter und seine Sicht auf das Schach gespro­chen, im letz­ten äus­sern sich zehn Gross­meis­ter über den Titel­hel­den. Im Anhang wer­den die Welt­meis­ter von Stei­nitz bis Carlsen in kur­zen Por­traits gewür­digt sowie eine Über­sicht über die bis­he­ri­gen Welt­meis­ter­schaf­ten gege­ben. Für die Schach­kun­di­gen sind dies alt­be­kannte Fak­ten, doch sollte man berück­sich­ti­gen, dass das Buch – im Göt­tin­ger Ver­lag “Die Werk­statt” erschie­nen, des­sen Schwer­punkt ansons­ten auf Fuss­ball liegt – sicher auch einen wei­te­ren Leser­kreis anspre­chen soll. Für die­sen ist auch ein ange­häng­tes Glos­sar typi­scher Schach­ter­mini nützlich.
Ver­zicht­bar erschei­nen mir per­sön­lich die (bis auf Frage- und Aus­ru­fe­zei­chen) unkom­men­tiert abge­druck­ten WM-Par­tien Kram­niks. Diese ermög­li­chen es zwar, die eine oder andere zuvor erwähnte Bege­ben­heit auf dem Brett nach­zu­voll­zie­hen, doch halte ich eine unkom­men­tierte WM-Par­tie selbst für geübte Schach­spie­ler im Details für äus­serst schwer ver­ständ­lich – von Gele­gen­heits­spie­lern ganz zu schweigen.

Mehr Künstler denn Sportler

100 brillante Schachzüge - 340x120 - Banner-Werbung Glarean Magazin
Anzeige

Im ein­lei­ten­den Kapi­tel wird Wla­di­mir Kram­nik – “manch­mal chao­tisch, manch­mal emo­tio­nal, manch­mal genial, aber immer authen­tisch” – mehr als Künst­ler denn als ergeb­nis­ori­en­tier­ter Sport­ler cha­rak­te­ri­siert. Sein Antrieb sei “die Kunst, die Krea­ti­vi­tät, die aus dem Spiel ent­steht”, er sei “auf der end­lo­sen Suche nach Wahr­heit und Schön­heit” im Schach. Pas­send wird nach die­sem Kapi­tel eine Par­tie prä­sen­tiert, die Kram­nik selbst als beson­ders schön emp­fin­det. Ori­gi­nal-Ton Kram­nik: “Am Ende hatte ich das Gefühl, eine Sin­fo­nie kre­iert zu haben. Wenn es nicht die­ses Ende gege­ben hätte, wäre das ganze Bild unvoll­stän­dig geblie­ben oder die Sin­fo­nie wie ein Kar­ten­haus ein­ge­stürzt. Es ist das Gefühl der Voll­endung eines Meis­ter­wer­kes, und ich war sehr glücklich.”
Es ist die fol­gende Par­tie mit einer spek­ta­ku­lä­ren Königs­wan­de­rung, die sol­che Gefühle bei Kram­nik hervorrief:

Gewinn nach Königswanderung übers ganze Brett: Die Schluss-Stellung der Partie (2) in Kramnik-Topalow, Amber-Turnier Monte Carlo 2003 (Hier findet sich eine taktische Analyse der Partie durch moderne Schach-Software)
Gewinn nach Königs­wan­de­rung übers ganze Brett: Die Schluss-Stel­lung der Par­tie (2) in Kram­nik-Topa­low, Amber-Tur­nier Monte Carlo 2003

Nach­ste­hend eine tak­ti­sche “Voll­ana­lyse” der Par­tie durch das starke Schach­pro­gramm Stock­fish (User-Inter­face: Fritz 16)

Kram­nik Topa­low - WM 2004 - Glarean Magazin

A pro­pos Par­tien: Nach jedem Kapi­tel fol­gen in der Regel eine, manch­mal auch meh­rere Par­tien, zu denen sich Kram­nik per­sön­lich äus­sert. Es sind keine tie­fen schach­li­chen Ana­ly­sen, son­dern eher Gefühle und all­ge­meine Über­le­gun­gen, die ihn zu dem einen oder ande­ren Zug geführt haben. Diese “O-Töne” sind sehr inter­es­sant, even­tu­ell hätte man sei­tens des Ver­lags das eine oder andere Dia­gramm ein­fü­gen kön­nen, um die Ori­en­tie­rung zu erleichtern.

Die Karriere chronologisch nachgezeichnet

Wladimir Kramnik - Glarean Magazin
Wla­di­mir B. Kram­nik (geb. 1975), Welt­meis­ter 2000 – 2007

Die Kapi­tel 2-9 zeich­nen chro­no­lo­gisch die Kar­riere Kram­niks bis zum Jahr 2009 nach: Seine Kind­heit in Tuapse (Region Kras­no­dar), die ers­ten Schritte im Schach, seine Auf­nahme als 12-Jäh­ri­ger an der berühm­ten Bot­win­nik-Schach­schule in Mos­kau, sein Auf­stieg bis zum Gewinn der Junio­ren-WM 1991 in Bra­si­lien. Im Kapi­tel “Vom chao­ti­schen Genie” wird Kram­nik als Welt­klas­se­spie­ler gezeich­net, der jedoch noch nicht bereit für den Griff nach der höchs­ten Krone ist und neben auf­se­hen­er­re­gen­den Erfol­gen (Olym­pia­sie­ger mit Russ­land 1992 mit dem bes­ten Ergeb­nis am 4. Brett, Gewinn des PCA-Welt­cups 1994, im dar­auf­fol­gen­den Jahr als bis dahin jüngs­ter Spie­ler aller Zei­ten Welt­rang­lis­ten­ers­ter) auch immer wie­der herbe Rück­schläge ein­ste­cken musste: 1994 das uner­war­tete Aus­schei­den in den WM-Zyklen der PCA (gegen Kamsky) und der FIDE (gegen Gel­fand), 1998 die Nie­der­lage gegen Schi­row im Aus­schei­dungs­kampf um die Welt­meis­ter­schaft. (Hen­sel macht als Grund den unste­ten und der Gesund­heit abträg­li­chen Lebens­wan­del und man­geln­den Ehr­geiz sei­nes spä­te­ren Schütz­ling aus).

Metamorphose bis zum Milleniumsieg

Mit dem Kapi­tel “Von Meta­mor­phose und Mill­en­ni­um­sieg” nimmt das Erzähl­tempo ab und die ein­zel­nen Par­tien tre­ten stär­ker in den Vor­der­grund. In die­sem Kapi­tel wird Kram­niks Wan­del zum WM-Aspi­ran­ten und sein für die Öffent­lich­keit über­ra­schen­der Wett­kampf­sieg 2000 in Lon­don gegen Kas­pa­row beschrie­ben. “Es sollte noch einige Jahre dau­ern, bis die Schach­welt aner­kannte, dass Kram­nik in Lon­don ein­fach der bes­sere Spie­ler und der Sieg rund­herum ver­dient war. Zu gross war zunächst noch der Ein­fluss Kas­pa­rows auf die Profiszene.”

Der Schwer­punkt des Buches liegt auf den Wett­kämp­fen, die Hen­sel selbst als Mana­ger betreute. Das Match gegen Lékó 2004 in Bris­sago stand wegen gesund­heit­li­cher Pro­bleme Kram­niks kurz vor dem Abbruch. In Erin­ne­rung ist der Wett­kampf vor allem wegen Kram­niks Sieg in der letz­ten Wett­kampf­par­tie geblie­ben, durch den er den Titel ver­tei­digte, doch Hen­sel macht kein Hehl dar­aus, dass der Russe in etli­chen Par­tien zuvor das Glück auf sei­ner Seite gehabt hatte. Ins­be­son­dere sein ange­grif­fe­ner Gesund­heits­zu­stand, der ihn zu einem Besuch der Not­auf­nahme in Bris­sago gezwun­gen hatte, hätte leicht den Aus­schlag geben kön­nen: “Als er zur [ach­ten] Par­tie kam, stand Kram­nik unter star­ken Beru­hi­gungs­mit­teln. Sein Kreis­lauf war ziem­lich durch­ein­an­der, und er schwankte die lange Treppe zum Spiel­saal hoch. Weder Lékó noch irgend jemand sonst in des­sen Team bemerkte die deso­late Ver­fas­sung des Welt­meis­ters. Das ist mir bis heute uner­klär­lich, denn man hätte Wla­di­mir nur in die Augen schauen müs­sen, und alles wäre klar gewe­sen.” Lékó, der zu die­sem Zeit­punkt mit 4,5:3,5 führte, ent­schloss sich zu einem schnel­len Remis, und Hen­sel kom­men­tiert: “Lékó hätte diese Par­tie ein­fach nur aus­spie­len müs­sen, und ich bin mir sicher, dass der Wett­kampf damit prak­tisch ent­schie­den gewe­sen wäre.”

Skandale im Wettkampf gegen Topalow

Detail­liert wer­den die Umstände des skan­dal­um­wit­ter­ten Wett­kampfs 2006 gegen Wes­se­lin Topa­low geschil­dert. Bereits anläss­lich der vor­an­ge­gan­ge­nen KO-Welt­meis­ter­schaft der FIDE 2005 in San Luis wirft Hen­sel im Buch dem Bul­ga­ren und sei­nen Mit­ar­bei­tern Danai­low und Tsche­pa­ri­now offen Betrug vor. Wäh­rend der Welt­meis­ter­schaft 2006 im kal­mü­cki­schen Elista häuf­ten sich die Vor­fälle, die im Streit um die den Spie­lern sepa­rat zur Ver­fü­gung gestell­ten Toi­let­ten kul­mi­nierte (“Toi­let­gate“). Hen­sel sieht hier den auch mit ande­ren Mit­teln wie­der­hol­ten Ver­such der Gegen­seite, Kram­nik als poten­ti­el­len Betrü­ger hin­zu­stel­len. Hen­sel: “Wir spür­ten eine nie gekannte Skru­pel­lo­sig­keit unse­rer Geg­ner. Ihnen war es offen­sicht­lich egal, ob Schach oder ihr Image beschä­digt wer­den könnte. Das Ein­zige, was für sie zählte, war, die­ses Match nicht zu ver­lie­ren, koste es, was es wolle”.
Letzt­lich endete der Wett­kampf unent­schie­den, den Stich­kampf gewann Kram­nik in der ein­gangs geschil­der­ten Szene und been­dete dadurch die Spal­tung der Schach­welt in zwei kon­kur­rie­rende Ver­bände, die 13 Jahre zuvor ihren Anfang genom­men hatte.

Der letzte WM-Kampf Kramniks 2008 gegen Viswanathan Anand ("Der Tiger von Madras"), den der Russe gegen den Inder verlor
Der letzte WM-Kampf Kram­niks 2008 gegen Vis­wa­nathan Anand (“Der Tiger von Madras”), den der Russe gegen den Inder verlor

Kram­nik selbst blieb danach aller­dings nur ein Jahr Welt­meis­ter, 2007 ver­lor er den Titel beim WM-Tur­nier in Mexiko City an den Inder Vis­wa­nathan Anand. Hen­sel, der ihm von der Teil­nahme an dem Tur­nier abge­ra­ten hatte, bemerkt: “Auch heute noch glaube ich daran, dass ein Rück­tritt die rich­tige Ent­schei­dung gewe­sen wäre.”. So aber kam es 2008 zum letz­ten WM-Kampf Kram­niks, dies­mal als Her­aus­for­de­rer Anands in der Bun­des­kunst­halle in Bonn. Die­ser Wett­kampf lief von Anfang an zu Unguns­ten Kram­niks, der letzt­lich mit 4,5:6,5 vor­zei­tig unter­lag. Nach die­sem Wett­kampf endete die Zusam­men­ar­beit Kram­niks mit sei­nem Manager.

Einblick in die neuere Schachgeschichte

Für wen ist die­ses Buch geschrie­ben? Natür­lich zum einen für alle Fans von Wla­di­mir Kram­nik, die viele auch nicht-schach­li­che Details über ihn erfah­ren kön­nen: Seine Lieb­lings­farbe ist blau, er mag dop­pelte Espressi, sein Lieb­lings­schau­spie­ler ist Robert de Niro, und er liebt Gemälde des ita­lie­ni­schen Impres­sio­nis­ten Ame­deo Modi­gliani. Auch die zahl­rei­chen pri­va­ten Farb­fo­tos wis­sen zu gefal­len. Zum ande­ren wer­den all die­je­ni­gen, die sich für neuere Schach­ge­schichte inter­es­sie­ren, mit Inter­esse zu die­sem Buch greifen.

Fazit: Cars­ten Hen­sels “Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Leben eines Schach­ge­nies” eröff­net einen Ein­blick in die Schach­welt, der den mensch­li­chen Aspekt des gros­sen Meis­ters ebenso wenig ver­nach­läs­sigt wie seine schach­ge­schicht­li­che Bedeu­tung. Eine Mono­gra­phie, die sich von den meis­ten ande­ren Bio­gra­phien über Schach­spie­ler deut­lich abhebt.

Der Autor hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg und spart auch gegen­über der FIDE nicht mit Kri­tik: “…die FIDE ver­stand schon damals [1992] wenig bis gar nichts von der Ver­mark­tung des Welt­meis­ter­schafts­zy­klus und wei­te­rer Top­e­vents. Daran hat sich bis heute nicht sehr viel geän­dert…” (S. 36). Und ganz unab­hän­gig davon, wie man selbst zu den geschil­der­ten Ereig­nis­sen steht, eröff­net Hen­sels Werk so einen Ein­blick in die Schach­welt, die “Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Leben eines Schach­ge­nies” von den meis­ten Mono­gra­phien über Schach­spie­ler abhebt. ♦

Cars­ten Hen­sel: Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Leben eines Schach­ge­nies, Bio­gra­phie, 304 Sei­ten, Ver­lag Die Werk­statt, ISBN 978-3-7307-0389-2

Lesen Sie im Glaran Maga­zin zum Thema Schach-Welt­meis­ter­schaf­ten auch über
André Schulz: Das grosse Buch der Schach-Weltmeisterschaften

Wei­tere Links zum Thema
The last Hurrah

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)