Martina Freytag: Einsingen – allein und im Chor

Effizientes Warm-up beim Gesangstraining

von Walter Eigenmann

Ein effi­zi­en­tes, die stimm­li­chen Bedürf­nisse des Cho­res berück­sich­ti­gen­des, aber nicht aus­ufern­des, son­dern an der indi­vi­du­el­len Pra­xis ori­en­tier­tes Warm-up vor der Probe ist ein chor­päd­ago­gi­sches Muss. Die neue Unter­wei­sung von Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen – allein und im Chor kann hierzu will­kom­mene und durch­aus lust­be­tonte Tipps und Trai­nings­ein­hei­ten liefern.

In frü­he­ren Zei­ten des (Laien-)Chormusizierens ran­gierte das pro­fes­sio­nell gestal­tete Warm-up, das effi­zi­ente cho­ri­sche Ein­sin­gen, die Dis­po­nie­rung von Kör­per und Stimm­ap­pa­rat für den niveau­vol­len Chor­ge­sang sowohl bei der Diri­gen­ten wie bei der Sän­ger­schaft ziem­lich weit hin­ten – als läs­tige Pflicht­übung vor dem “eigent­li­chen Musi­zie­ren”, die es in maxi­mal drei Minu­ten hin­ter sich zu brin­gen galt. In der Nach­kriegs­zeit, auch im Zuge der rasant wach­sen­den stimm­phy­sio­lo­gi­schen, chor­di­dak­ti­schen und atem­me­di­zi­ni­schen Erkennt­nisse schlug das Pen­del land­auf, landab in die andere Rich­tung aus: Ein­sin­gen wurde sogar bei (ggf. ambi­tio­nier­te­ren) Lai­en­chö­ren zur halb­stün­di­gen Stimm­bil­dung aus­geu­fert, quasi als Selbst­zweck zele­briert und unver­hält­nis­mäs­sig auf­ge­bläht, mit viel gesangs­päd­ago­gi­schem (Theorie-)Ballast im Schlepptau.

Heute ist die gän­gige Pra­xis, wie man sich bei ver­ant­wort­li­chen Lan­des-, Regio­nal- und Kreis-Chor­di­ri­gen­ten umhö­ren bzw. den ein­schlä­gi­gen Lehr­ka­non der Musik­hoch­schu­len kon­sul­tie­ren kann, eine prag­ma­ti­sche: Ein­ge­sun­gen wird nach der Devise “So wenig wie mög­lich, aber so viel wie nötig”. Ange­sichts immer knap­per Pro­ben­zeit bzw. über­frach­te­ter oder/und anspruchs­vol­ler moder­ner Lied-Pro­gramme auch bei Ama­teur­chö­ren gewiss die prak­ti­ka­belste Losung.

Betont praxisorientierter Ansatz

Den grund­sätz­lich glei­chen, betont pra­xis­ori­en­tier­ten Ansatz ver­folgt auch eine neue Einsing-“Fibel” namens “Ein­sin­gen – allein und im Chor” der Thü­rin­ger Gesangs­päd­ago­gin, Dozen­tin und Kom­po­nis­tin Mar­tina Frey­tag. In 40 detail­liert abge­han­del­ten, mit viel Noten- und Zei­chen-Gra­fik unter­stütz­ten, sing­tech­nisch gut nach­voll­zieh­ba­ren Lek­tio­nen gibt die bekannte Gesangs­exper­tin lern­psy­cho­lo­gi­sche Hin­weise, setzt gezielte Ein­zel­tech­ni­ken aus­ein­an­der, illus­triert mit teils bild­rei­cher Spra­che die phy­sio­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen und Pro­zesse, ani­miert zum ent­spann­ten Umgang mit dem gesam­ten mensch­li­chen Singapparat.

Gewiss, Frey­tags Voka­bu­lar, über­haupt ihr gan­zer theo­re­ti­scher wie psy­cho­lo­gi­scher Zugang zur Mate­rie mag für “Unein­ge­weihte”, mög­li­cher­weise gar erst­mals in die­ser Kon­zen­tra­tion mit dem Pro­blem­feld “Ein­sin­gen” Kon­fron­tierte (zumal aus dem Ama­teur-Lager) etwas gewöh­nungs­be­dürf­tig sein. Betont “psy­cho­lo­gi­sie­rende” Ani­mie­run­gen wie bei­spiels­weise die fol­gende lesen sich prima vista eher als Beschwö­rungs­for­meln denn als prä­zise Praxisanweisung:
“In der kur­zen Ein­at­mung bläst sich der Atem­gür­tel wie ein Schwimm­ring blitz­ar­tig um den Bauch auf. Er trägt Sie wäh­rend der Gesangs­me­lo­die, lockert sich ein wenig in der Atem­pause am Ende der Melo­die, um sich in der nächs­ten Ein­at­mung genauso zackig zu fül­len und Sie sta­bil durch die Ton­folge zu tra­gen. Sin­gen Sie die Melo­die wie eine Honig sam­melnde Biene, die ihr reg­sa­mes und uner­müd­li­ches Tun mit einem Sum­men beglei­tet. Der ganze Bereich um Mund und Nase wird zum klin­gen­den Bie­nen­rüs­sel, der schwingt und vibriert. Neu­gie­rig, ob in die­ser oder jener Blüte noch Honig zu fin­den ist, for­dern Sie sich selbst zu nicht ablas­sen­der Inten­si­tät.” (S.43)

Lektionen auf ein stimmliches Anliegen fokussiert

Zwei "Klassiker" der Mundstellung: "Sängerschnute" und "Sängerbiss"
Zwei “Klas­si­ker” der Mund­stel­lung: “Sän­ger­schnute” und “Sän­ger­biss”

Gleich­wohl ent­beh­ren sol­che empa­thi­schen Sen­ten­zen kei­nes­wegs einer gewis­sen intui­ti­ven Sug­ges­tion, die in einer kon­kre­ten Übe­si­tua­tion ziel­füh­ren­der sein kann als tro­cken-distan­zier­tes Theo­re­ti­sie­ren, sobald sich der (sin­gende) Leser im the­ma­ti­schen Spek­trum der Frey­tag­schen Ter­mi­no­lo­gie ein biss­chen ein­ge­lebt hat. Auf alle Fälle gilt unein­ge­schränkt, wie alle chor­sän­ge­ri­sche Erfah­rung zeigt, die Ein­schät­zung der Autorin: “Seien Sie posi­tiv ein­ge­stellt in jedem Moment, in dem Sie sin­gen. […] Jede see­len­los gesun­gene Sing­übung kann letzt­end­lich unge­sun­gen blei­ben, weil sie Ihnen kei­nen Fort­schritt in Ihrer stimm­li­chen Ent­wick­lung bringt.”

Selbst­ver­ständ­lich belässt es die Autorin nicht beim enthu­si­as­ti­schen Schil­dern “nütz­li­cher Emo­tio­na­li­tä­ten”. Viel­mehr ist jede ihrer 40 Lek­tio­nen fach­lich fun­diert auf ein bestimm­tes stimm­li­ches Anlie­gen fokus­siert, metho­disch ein­leuch­tend auf­ge­baut, trägt dabei den betei­lig­ten phy­sio­lo­gi­schen Pro­zes­sen Rech­nung und flan­kiert illus­tra­tiv mit Gesichts- und Kör­per­ab­bil­dun­gen ebenso wie mit zahl­rei­chen Noten­bei­spie­len. Auf­ge­baut sind dabei fast alle Übun­gen nach einem gleich­blei­ben­den Muster.

Am Anfang steht jeweils eine Noten­zeile, wel­che das stimm­li­che Anlie­gen vorstellt:

Leseprobe 1 aus Martina Freytag: Einsingen ("Die grosse Welle")
Lese­probe 1 aus Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen (“Die grosse Welle”)

Daran schlies­sen sich Aus­füh­run­gen zu den eigent­li­chen stimm­tech­ni­schen Aspek­ten der jewei­li­gen Übung an:

Leseprobe 2 aus Martina Freytag: Einsingen ("Dynamik mit sängerischer Leichtigkeit kombiniert")
Lese­probe 2 aus Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen (“Dyna­mik mit sän­ge­ri­scher Leich­tig­keit kombiniert”)

Im drit­ten Teil offe­riert die Autorin Gedan­ken, “die den Aus­druck und das Gefühl wäh­rend des Sin­gens dar­stel­len las­sen bzw. ver­tie­fen können”.

Leseprobe 3 aus Martina Freytag: Einsingen ("Singen Sie selbstlos und selbstvergessen!")
Lese­probe 3 aus Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen (“Sin­gen Sie selbst­los und selbstvergessen!”)

Vier­tens gibt’s jedes­mal pas­sende “Kla­vier­pat­tern”, die als aus­ge­schrie­bene Begleit­parts auch auf der bei­lie­gen­den Com­pact Disc zu fin­den sind und in ver­schie­de­nen Ton­ar­ten “durch­ex­er­ziert” wer­den können:

Leseprobe 4 aus Martina Freytag: Einsingen (Beispiel von Klavierpattern zu den Übungen)
Lese­probe 4 aus Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen (Bei­spiel von Kla­vier­pat­tern zu den Übungen)

(Die kom­plett aus­no­tier­ten Kla­vier­stim­men sind als PDF-Datei eben­falls auf der CD zu fin­den). Apro­pos mit­ge­lie­ferte Audio-CD: Sie ist ein nütz­li­cher, ja eigent­lich inte­gra­ti­ver Bestand­teil für all jene, die sich die Übun­gen nicht via Dirigent/Chor, son­dern alleine erar­bei­ten wollen.

Martina Freytags
Mar­tina Frey­tags “Ein­sin­gen” ist eine sehr nütz­li­che, ganz auf die Pra­xis zuge­schnit­tene Antho­lo­gie von unmit­tel­bar anwend­ba­ren und meist auch unmit­tel­bar wir­kungs­vol­len sing­tech­ni­schen Unter­wei­sun­gen, die “Geist und Kör­per” ganz­heit­lich erfas­sen wol­len, um dem/r Sänger/in ent­span­nend und gleich­zei­tig anre­gend zu einer opti­ma­len stimm­li­chen Dis­po­si­tion zu verhelfen

Vor die­sem eigent­li­chen Pra­xis-Teil, der mit sei­nen 40 geziel­ten Ein­hei­ten den Löwen­an­teil des Ban­des aus­macht, fin­den sich auf knapp vier­zig Sei­ten, quasi als Ein­füh­rung in die facet­ten­rei­che Welt der mensch­li­chen Stimme, die theo­re­ti­schen und tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen des qua­li­täts­vol­len Sin­gens: “Stimm­sitz”, “Regis­ter­aus­gleich”, “Reso­nanz”, “Vokal­aus­gleich” oder “Into­na­tion” sind hier u.a. die in Gesangs­krei­sen weit­ge­hend bekann­ten Stichwörter.

Wirkungsvolle singtechnische Unterweisungen

Zusam­men­ge­fasst: Mar­tina Frey­tags “Ein­sin­gen” ist eine sehr nütz­li­che, ganz auf die Pra­xis zuge­schnit­tene Antho­lo­gie von unmit­tel­bar anwend­ba­ren und meist auch unmit­tel­bar wir­kungs­vol­len sing­tech­ni­schen Unter­wei­sun­gen, die “Geist und Kör­per” ganz­heit­lich erfas­sen wol­len, um dem/r Sänger/in ent­span­nend und gleich­zei­tig anre­gend zu einer opti­ma­len stimm­li­chen Dis­po­si­tion zu ver­hel­fen. Der Band ergänzt inter­es­sant das bereits auf dem Markt befind­li­che Bücher-Ange­bot zur The­ma­tik, und wer die bewusst “phan­ta­sie­volle Spra­che” der enga­gier­ten Autorin nicht scheut, son­dern sich – durch­aus auch als Dirigent/in – auf diese Form der indi­vi­du­el­len Moti­va­tion und “Emo­tio­na­li­sie­rung” des Sing­übens ein­lässt, wird eini­gen Nut­zen für den indi­vi­du­el­len oder cho­ri­schen Gesang dar­aus zie­hen können. ♦

Mar­tina Frey­tag: Ein­sin­gen allein und im Chor, Mit 40 Gesangs­übun­gen, Audio-CD mit­ge­lie­fert, 112 Sei­ten, Bosse Ver­lag, ISBN 978-3764926489

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema “Gesangs­trai­ning” auch über  Hil­de­gund Loh­mann-Becker: Hand­buch Gesangspädagogik

… sowie zum Thema Chor­lei­tung über Kai Koch: Hand­buch Seniorenchorleitung

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