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Über die Macht und Magie der Musik
von Sigrid Grün
1970 wird in einer nicht näher identifizierten Stadt ein Kind geboren, das sich als musikalisches Ausnahmetalent entpuppt. Auf der Flöte eines Selbstmörders bringt es schon früh die wundersamsten Melodien hervor und verzaubert damit seine Mitmenschen. Auch sein Freund Sarhang Qasm ist ausgesprochen talentiert. Eines Tages taucht ein alter Musiklehrer namens Ishaki Lewzerin in der Stadt auf. Er nimmt die beiden Jungen mit, um sie zu unterrichten. In den Bergen lehrt er sie, „die Sprache der Welt [zu] verstehen“. Die Jungen lernen, dem Regen zu lauschen und dem Wind, sie nehmen die Sonne in sich auf und reifen zu Musikern heran, deren Kunst nicht von dieser Welt scheint.
Als der Krieg ausbricht, werden der Lehrer und seine beiden jugendlichen Schüler gefangengenommen und getötet. Doch wie durch ein Wunder erwacht Dschaladat in einer Stadt in der Wüste, die eigentlich gar nicht existiert. An einem Verkehrsknotenpunkt haben sich Prostituierte niedergelassen, die die Soldaten und andere Reisende befriedigen. Dalia Saradschadin ist eine von ihnen, und sie pflegt Dschaladat mit Hilfe des Arztes Musa Babak wieder gesund.
Zum Überleben die Musik verlernt
Um zu überleben, muss der begabte Musiker die Musik verlernen, denn die Klänge von überirdischer Schönheit würden ihn im Krieg nur verraten. Dschaladati Kotr tötet also den Musiker in sich, um nicht aufzufallen. Der Arzt Musa Babak zeigt ihm eines Tages sein Museum, das er in einem riesigen Keller angelegt hat. Er sammelt die Werke zeitgenössischer Künstler, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Dschaladat verliebt sich unsterblich in Dalia und verbringt mehrere Jahre in der gelben Stadt der Prostituierten.
Als ein ehemaliger Offizier namens Samir auftaucht, der intensiv nach Orangen riecht und eine grausame Vergangenheit hat, erfährt der junge Musiker erst, dass er bereits tot war und wieder zum Leben erwachte. Sein Mörder, der auch Sarhang Qasm und Ishaki Lewzerin getötet hat, war gleichzeitig sein Retter. Er freundet sich mit Samir von Babylon an und verlässt mit ihm die Stadt, als diese den Flammen anheimfällt. Die beiden reisen gemeinsam in den Norden, in Dschaladats alte Heimat, die ihm fremd geworden ist. Er kommt in einem Obdachlosenheim unter und verdingt sich mit Gelegenheitsarbeiten – doch die Kunst lässt ihn niemals los. Und der Musiker, den er einst getötet hat, erlebt seine Wiederauferstehung in der Stadt der weissen Musiker…
Poetische Sprache von opulenter Schönheit

Bachtyar Ali, 1966 im nordirakischen Sulaimaniya geboren, lebt heute in Köln. In den frühen 80er Jahren nahm er an den Studentenprotesten der Kurden gegen die irakische Zentralregierung unter Diktator Saddam Hussein teil. Er brach sein Studium ab und widmete sich der Poesie. Bisher sind lediglich zwei seiner Romane in deutscher Sprache erschienen: „Der letzte Granatapfel“ (2016) und „Die Stadt der weissen Musiker“ (2017). Bachtyar Ali bekommt in diesem Jahr den Nelly-Sachs-Preis 2017 verliehen.
Der Autor schreibt über das Selbstverständnis eines Künstlers, über die Unsterblichkeit des Kunstwerks, und über einen Musiker als Vermittler zwischen den Welten. Dschaladat ist ein Qaqnas, ein Phoenix, der aus der Asche wiedergeboren, ein Grenzgänger, der zur mythologischen Gestalt wird.
Die Sprache ist durchgehend poetisch, von einer opulenten Schönheit, die den Leser in eine andere Welt entführt. Selbst die Grausamkeit des Krieges wird in Kunst transformiert und damit unsterblich. Mich hat der Stil an den grossen serbischen Erzähler Milorad Pavic erinnert. Bachtyar Ali ist ein Autor, den ich den Liebhabern poetischer Literatur nur ans Herz legen kann. ♦
Bachyar Ali: Die Stadt der weissen Musiker, Roman, 432 Seiten, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-00520-4
Roman von Elif Shafak: Ehre