Andreas Hutt: Schwarze kommen nicht (Kurzprosa)

Schwarze kommen nicht

An­dre­as Hutt

Mar­tin blick­te nach draus­sen. Von den schwe­ren Wol­ken des in­di­schen Mon­suns, die am Tag zu­vor den Him­mel ver­dun­kelt hat­ten, war fast nichts mehr zu se­hen. Nur eine ein­zel­ne schwar­ze Wol­ke stand noch wie eine Mah­nung am Him­mel, dass es mit der Idyl­le je­der­zeit vor­bei sein kön­ne. Schnell pack­te Mar­tin ein Ba­de­tuch, Son­nen­öl und ei­nen Kri­mi in sei­ne Ju­te­ta­sche. Dann ver­liess er die Un­ter­kunft und ging ei­nen mit Stein­plat­ten ge­pflas­ter­ten Weg ent­lang, an Pal­men und ein­ge­schos­si­gen Häu­sern vor­bei in Rich­tung Strand.
Nach­dem er auf die Strand­pro­me­na­de ein­ge­bo­gen war, sah Mar­tin ei­nen Tou­ris­ten mit schul­ter­lan­gem Haar, der ei­nen blau ge­mus­ter­ten Wi­ckel­rock wie die Ein­hei­mi­schen trug. Der Mann schau­te selt­sam ver­klärt auf den Bo­den, blick­te aber zu Mar­tin auf, als der an ihm vor­über­ging. Mar­tin muss­te we­gen des Wi­ckel­ro­ckes la­chen und sag­te “Hal­lo!” zu dem Un­be­kann­ten, der zu­erst ver­wirrt, dann aber be­lus­tigt wirk­te und den Gruss er­wi­der­te. Da­bei blitz­ten die Au­gen des Man­nes auf.
Nach dem Früh­stück leg­te sich Mar­tin an den Strand. Der Frem­de kam vor­bei, er­kann­te ihn und hock­te sich zu ihm hin. “Sieht so aus, als hät­test du ’was für Ge­nuss üb­rig”, sag­te er mit ös­ter­rei­chi­schem Akzent.
“Klar, so­lan­ge das Wet­ter noch so ist wie jetzt.”
“Ich bin üb­ri­gens Thomas.”
“Mar­tin. Auch als Tou­rist hier?”
“Tou­rist?” Der Ös­ter­rei­cher schüt­tel­te den Kopf. “Das kann man so nicht sa­gen. Wir – also mei­ne Frau, mein bes­ter Freund und ich – wol­len län­ger blei­ben. Wir ha­ben wei­ter oben am Hang ein Haus ge­mie­tet – für ein hal­bes Jahr und dann se­hen wir wei­ter.” Wäh­rend er re­de­te, schweif­ten sei­ne Au­gen im­mer wie­der zum Strand ab und ver­weil­ten dort, als su­che er etwas.
“Ihr seid also so­zu­sa­gen Aus­stei­ger!”, mein­te Martin.
“Na ja, Aus­stei­ger ist zu­viel ge­sagt”, er­wi­der­te Tho­mas. “Weisst du, wir kom­men aus ei­ner Klein­stadt in Kärn­ten. Wenn du da ein biss­chen an­ders bist als die an­de­ren, dann zer­reis­sen sich die Leu­te das Maul über dich. Vor vier Mo­na­ten ha­ben wir die Schnau­ze voll ge­habt und sind ab­ge­hau­en – mal se­hen, wie lan­ge es uns hier gefällt.”
“Wo­von lebt ihr hier? Von eu­ren Ersparnissen?”
Tho­mas ver­zog die Lip­pen zu ei­nem ma­li­ziö­sen Lä­cheln. “Ich muss jetzt wei­ter. Ach ja, falls du Lust hast: Mein Kum­pel und ich ge­ben heu­te Abend eine Par­ty. Du bist auch ein­ge­la­den! Wir kön­nen dich an der Strand­pro­me­na­de ab­ho­len. Um acht Uhr am Leuchtturm?”
“O.k.”, sag­te Mar­tin. Tho­mas er­hob sich und setz­te sich wie­der in Be­we­gung. Als er schon ei­ni­ge Schrit­te ge­gan­gen war, wand­te er sich noch ein­mal um: “Üb­ri­gens: Du brauchst kei­ne Be­fürch­tun­gen zu ha­ben. Schwar­ze kom­men nicht!” Er grins­te. “Bis heu­te Abend!”
Mar­tin starr­te Tho­mas nach, bis die­ser in der Fer­ne ver­schwun­den war. Dann hol­te er sei­nen Kri­mi aus der Ta­sche, las den Klap­pen­text, schlug das Buch aber nicht auf. Sei­ne Ge­dan­ken kreis­ten noch im­mer um Tho­mas und sei­nen Satz: Schwar­ze kom­men nicht.
Auch am Nach­mit­tag zo­gen nur ei­ni­ge we­ni­ge Wol­ken über ei­nen an­sons­ten licht­blau­en Him­mel. Mar­tin ging nach ei­ner Si­es­ta er­neut zum Meer, kram­te sei­nen Kri­mi her­vor und las. Als er von sei­ner Lek­tü­re auf­blick­te, sah er, dass sich ein braun­ge­brann­ter Mann mit schwar­zem Haar ne­ben ihn ge­legt hatte.
Mar­tin woll­te schon zu le­sen fort­fah­ren, doch er schau­te noch ein­mal zu sei­nem Nach­barn hin­über. “Heu­te Mor­gen ist mir was pas­siert”, mein­te er. “Ich bin ein­fach so von ei­nem Wild­frem­den zu ei­ner Par­ty ein­ge­la­den worden.”
“Du auch?”, lach­te der Mann los. “Lass mich ra­ten: Von Tho­mas und sei­nem Freund?”
Mar­tin lä­chel­te. “Sie schei­nen halb Kova­lam von ih­rer Par­ty er­zählt zu ha­ben.” Wäh­rend er sei­nen Blick über den Strand wan­dern liess, sah Mar­tin in ei­ni­ger Ent­fer­nung Tho­mas. Der Ös­ter­rei­cher un­ter­hielt sich ge­ra­de mit ei­nem Pär­chen, nick­te, als er Mar­tin er­kann­te, und setz­te dann sein Ge­spräch fort – ohne spä­ter noch ein­mal bei ihm und sei­nem Nach­barn vorbeizuschauen.
Nach­dem die Son­ne un­ter­ge­gan­gen war, hat­te fast je­des Lo­kal an der Strand­pro­me­na­de sei­ne Ve­ran­da mit ei­ner Lich­ter­ket­te be­leuch­tet. Die bun­ten Lam­pen ver­trie­ben die Dun­kel­heit auf eine Art und Wei­se, die et­was Be­ru­hi­gen­des hat­te. Mar­tin ge­noss den An­blick auf ei­nem Fel­sen, be­vor er in ei­nem Re­stau­rant Platz nahm und eine Ma­sa­la Dosa be­stell­te. Zu­fäl­lig be­trat auch Jo­chen das Lo­kal, den er vor ei­ni­gen Ta­gen im Bus ken­nen­ge­lernt hat­te. Jo­chen ent­deck­te Mar­tin, wink­te und setz­te sich zu ihm an den Tisch.
Wäh­rend des Es­sens be­merk­te Jo­chen, dass er sich be­ei­len müs­se, da er ja noch auf die Par­ty wolle.
Mar­tin war per­plex: “Du bist auch eingeladen?”
“Du etwa auch?”, frag­te Jo­chen und kratz­te sich am Kopf.
Als sie ge­gen acht am Leucht­turm stan­den, weh­te vom Meer eine feucht­war­me, fi­schi­ge Bri­se her­über. Mar­tin steck­te die Hän­de in die Ho­sen­ta­sche und be­trach­te­te das Meer. “Ir­gend­wie riecht hier al­les ver­dor­ben?”, dach­te er sich.
Jo­chen nahm ihn bei­sei­te: “Sag mal, hat Tho­mas auch so et­was zu dir ge­sagt, dass kei­ne Schwar­zen zur Par­ty kä­men?” Mar­tin nick­te und Jo­chen zog die Au­gen­brau­en nach oben. Der Strand­nach­bar vom Nach­mit­tag er­schien und kurz dar­auf kam auch Tho­mas aus dem Dun­kel der Nacht. Er trug noch im­mer den Wi­ckel­rock vom Vor­mit­tag und hat­te sich zu­sätz­lich ein schwar­zes T-Shirt mit der Auf­schrift “Li­ber­ty” über­ge­streift. “Ah, schön, ihr habt euch schon mit­ein­an­der be­kannt ge­macht”, mein­te er in sei­nem schwer­fäl­li­gen, ös­ter­rei­chi­schen Ak­zent. “Mir nach!”
Tho­mas ging al­lein vor­ne­weg, die an­de­ren folg­ten ihm. Zu­erst lies­sen sie auf ei­nem Weg, der zwi­schen zwei Re­stau­rants ent­lang­führ­te, die Strand­pro­me­na­de mit ih­ren Lich­tern hin­ter sich. Da­nach lie­fen sie wei­ter auf Schot­ter­stras­sen zwi­schen ein­zel­nen Ho­tels, Pen­sio­nen und Pri­vat­un­ter­künf­ten ei­nen Berg hin­auf. Kein Mensch be­geg­ne­te ih­nen. Die­ser Teil des Or­tes war wie aus­ge­stor­ben. Nach ei­ner Wei­le hör­ten sie Dance­f­loor­mu­sik. “Das sind wir”, be­merk­te Tho­mas. “Wir sind gleich da.”
Sie bo­gen auf ei­nen Pfad ein, der sie zu ei­ner Art Mo­tel brach­te. Vor den Apart­ments stan­den ein weis­ser Plas­tik­tisch und Stüh­le, auf de­nen ein Mann und eine Frau sas­sen. Zwei Jun­gen spiel­ten auf dem Sand­platz da­vor zu den Klän­gen von Scooter.
Die Frau er­hob sich und ging auf die Gäs­te zu. Sie hat­te ihr blon­des Haar zu ei­nem Zopf zu­sam­men­ge­bun­den. “I bin die Uschi”, sag­te sie. “Un des is der Man­fred.” Der Mann stand auf, so dass man se­hen konn­te, wie gross und dünn er war, und schüt­tel­te je­dem der Gäs­te die Hand. Als Kon­trast zu sei­nen Jeans und dem T-Shirt hat­te er sich eine be­stick­te in­di­sche Kap­pe auf den Kopf gesetzt.
“Raucht ihr?”, frag­te Man­fred, griff in sei­ne Hemd­ta­sche und hol­te Ta­bak, Blätt­chen und ein brau­nes Tüt­chen her­vor. “Falls ihr et­was braucht, dann könnt ihr es von uns be­kom­men. Wir ver­kau­fen das Zeug – auch tags­über am Strand.”
Wäh­rend Man­fred sei­nen Joint bau­te, er­zähl­te er sei­nen Gäs­ten, dass er und sein Freund vor vier Mo­na­ten ihre Stel­len ge­kün­digt hat­ten, nach Bom­bay ge­flo­gen wa­ren und dort je­dem, der ih­nen über den Weg ge­lau­fen war, ein Foto von Kova­lam un­ter die Nase ge­hal­ten hat­ten. “Dort wol­len wir hin! War nicht leicht, das Dorf zu fin­den. Aber jetzt sind wir tat­säch­lich hier!”
“Sagt mal”, mein­te Jo­chen, “la­det ihr häu­fi­ger Leu­te vom Strand ein?” Er biss sich auf die Un­ter­lip­pe. “Nicht, dass ihr mich jetzt falsch versteht…”
“Schon gut!”, fiel ihm Man­fred ins Wort. “Weisst du, un­ser Ge­schäft lebt von un­se­ren Kon­tak­ten. Je mehr Leu­te uns ken­nen – je mehr Leu­te wis­sen, dass sie bei uns `was krie­gen kön­nen, des­to bes­ser. Da la­den wir gern `mal je­man­den zu uns nach Hau­se ein, wenn der dann viel­leicht bei uns kauft.”
Man­fred be­feuch­te­te das Blätt­chen. “Im Au­gen­blick läuft al­les bes­tens!”, füg­te er hin­zu. “Wir kön­nen ma­chen, was wir wol­len. Das Ge­schäft brummt. Uns geht es gut!” Dann blick­te er zur Sei­te und spuck­te auf den Bo­den. “Das ein­zi­ge, was nervt, sind die Schwar­zen! Zum Glück ha­ben wir nur ab und zu ge­schäft­lich mit de­nen zu tun.”
Nie­mand er­wi­der­te et­was, wäh­rend Man­fred die Ar­beit an sei­nem Joint be­en­de­te. Mar­tin nutz­te die Ge­sprächs­pau­se, um sich das Mo­tel nä­her an­zu­se­hen. Die Wän­de der Häu­ser wa­ren rot und die Fens­ter mit weis­sen Lä­den ver­schlos­sen, was der An­la­ge eher ein skan­di­na­vi­sches als ein in­di­sches Flair gab. Uschi sag­te: “Ich auch!” und Man­fred gab den Ta­bak, die Blätt­chen und das Ma­ri­hua­na an sie weiter.
Die Lee­re des Schwei­gens wur­de durch die Mu­sik über­tönt. Dann er­griff Man­fred er­neut das Wort: “Möch­tet ihr viel­leicht ei­nen Tee?” Ohne eine Ant­wort sei­ner Gäs­te ab­zu­war­ten, rief er: “Mira, wir ha­ben Gäs­te. Mach uns ei­nen Tee!” in die Nacht hin­aus. Aus dem Schat­ten ei­nes Hau­ses lös­te sich eine Frau­en­ge­stalt. Sie ver­schwand in ei­nem der Apart­ments, und ob­wohl Mar­tin sie nur für ei­nen Au­gen­blick ge­se­hen hat­te, konn­te er er­ken­nen, dass es sich um eine Ein­hei­mi­sche handelte.
“Mei­ne Frau”, er­klär­te Man­fred, als er Mar­tins fra­gen­den Blick be­merk­te, “wir sind seit zwei­ein­halb Mo­na­ten ver­hei­ra­tet.” Er zün­de­te sich den Joint an und lehn­te sich in sei­nem Stuhl zurück.
“Aha! Schwar­ze kom­men also nicht!”, sag­te Mar­tin, be­vor er von sei­nem Platz auf­stand und in der in­di­schen Nacht verschwand. ♦


An­dre­as Hutt

Geb. 1967 in Kassel/D, Lehr­amts­stu­di­um (Ma­the­ma­tik und Deutsch), Ly­rik- und Kurz­pro­sa-Pu­bli­ka­tio­nen in Zeit­schrif­ten und An­tho­lo­gien, ver­schie­de­ne Thea­ter­pro­jek­te, Re­zen­sio­nen für Li­te­ra­tur-Por­ta­le, lebt als Gym­na­si­al­leh­rer in Marburg/D

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